Meine Grenzen

Ich mache langsamer.
Ich mache mehr Pausen.

Wenn ich liege, dann liege ich.
Wenn ich aufstehe, dann stehe ich auf.
Wenn ich gehe, dann gehe ich.
Wenn ich esse, dann esse ich.

Ich lerne öfter Nein zu sagen.

Ich achte auf mich, indem ich mich gesund ernähre.
So wie ich anderen eine Freude mache, mache ich auch mir Freuden.

Wanderung durch die Sächsische Schweiz. März 2023

Es braucht ein ganzes Dorf ein Kind großzuziehen

Seit ein paar Wochen fährt Tolja (10) Fahrrad ohne Stützräder. Heute habe ich meiner Mutter ein Video gesendet, wie er sogar um Kurven fährt ohne abzusteigen oder anzuhalten. Ich bin sehr stolz auf ihn, ein weiterer Meilenstein ist geschafft.

M.: Das sieht super aus.
Ich: Finde ich auch. Er kommt gut damit klar.
[…] Aber er hält nicht lange durch. Nach spätestens 300 m ist er k.o. und kann nicht mehr.
M.: Oh.
Ich: Richtig mit einem Ziel sind wir noch nie gefahren. Immer nur die Straße rauf und runter.
M.: Geht das Treten bei dem Fahrrad vielleicht zu schwer?
Ich: Eigentlich nicht. Ich glaube es liegt daran, dass er grundsätzlich wenig Ausdauer hat.
M.: Na dann muss er trainieren. Das ist Übung.
Ich: Hier in der Nähe wohnt ein 15-jähriges Mädchen mit Down Syndrom, das in Anatols Schule geht und jeden Tag allein mit dem Fahrrad zur Schule fährt.
M.: Nee, ich fass es nicht. Toll.
Ich: Ja, man müsste sehr viel Üben. Aber nach dreimal die Straße rauf und runter fahren hat er keine Lust mehr.
M.: Vielleicht dreimal Treppen rauf und runter oder drei Runden um das Haus oder den Garten jeden Tag….
Ich: Du weißt ja wie es ist: er macht alles mit, wenn er dauerhaft einen persönlichen Motivationscoach an seiner Seite hat, der ihm wohl gesonnen und lieb zu ihm ist. Ich war die letzten 11 Jahre seine Animateurin. Aber ich habe glaube keine Kraft das die kommenden 20 Jahre in dieser Intensität so weiter zu machen.
M.: Ja, das kann ich verstehen und auch sehr gut nachvollziehen.
Wenn er das nächste Mal zu uns kommt, werde ich versuchen ihn bei meinem täglichen Gehtraining davon zu überzeugen mit zu machen. Mal sehen.

Ich: Danke Mama.

Es gibt vielerorts keinen Schnee mehr

2022 ging bei mir vieles zu Ende, auch ein wenig mein Glaube an die Menschen, an die Gesellschaft, an Politik und an das gute Leben für meine Kinder. Ich schreibe jetzt darüber, weil ich die Zeit verstehen möchte, in der ich lebe und auch, weil ich meine, dass ich nicht nur individuell als Person darin verstrickt bin, sondern auch andere genauso oder auf ähnliche Weise verstrickt sind.

Russland und der Krieg
Am 24. Februar begann Russlands Präsident Putin einen Krieg gegen die Ukraine. Das war ein schwarzer Tag für mich. Von früh bis in die Nacht hörte ich Nachrichten und verfolgte die Ereignisse dieses Tages. Ich konnte es nicht fassen. Ein Jahr habe ich in Moskau studiert, fünf Jahre lebten und arbeiteten wir in Irkutsk. Ich spreche die Sprache, unsere Kinder sind beide in Sibirien geboren, wir haben dort Freunde. Mich verband zwar schon immer eine Hassliebe mit diesem Land, aber einen Krieg gegen die Ukraine hatte ich bis zuletzt niemals für möglich gehalten. Diesem sinnlosen Krieg fielen und fallen wahrscheinlich noch für eine elend lange Zeit nicht nur unzählige Menschen zum Opfer, viele russische Freundinnen sehen auch keine Zukunft mehr für ihre Kinder, sind zerrissen und ziehen sich noch mehr zurück. All das, wofür ich Russland liebte (ich fühlte mich dort immer auf eine Art freier als in Deutschland), bekam in 2022 einen bitteren Beigeschmack. Jahrelang kämpfte ich gegen die Osteuropaignoranz des Westens. Viele Jahre verteidigte ich die so oft im Westen verurteilte Willkür (bezeichnete das russische Handeln oft als menschlicher), ich verharmloste die anhaltende Geheimdienstüberwachung (als Relikt aus der Vergangenheit, als eine Art Gewohnheit), ich sah in der Diktatur einer Machtelite die einzige politische Möglichkeit in Russland (denn bei den einfachen Menschen vermisste ich jeglichen Willen Gesellschaft mitzugestalten) und schließlich bot Russland für mich eine Alternative zum von mir schon immer kritisierten Kapitalismus des Westens.
Das Schlimmste war und ist jedoch für mich: mein klarer Pazifismus steht nach 43 Lebensjahren plötzlich auf sehr wackeligen Beinen. Ich war und bin immer gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen gewesen. Die nötige Unterstützung eines Schwächeren zur Selbstverteidigung relativiert nun meine feste Position, von der ich noch immer nicht ganz abweichen möchte. Ich weiß nicht was richtig und was falsch ist in dieser Situation. Meinen Kindern kann ich glaubwürdig nur diese Unsicherheit vermitteln. Ich kann nicht mehr ausschließen, dass wir Krieg erleben werden. Ich kann nicht mehr versprechen, dass wir immer im Frieden leben werden.

Mutterschaft

Früher dachte ich immer, dass bedingungslose Liebe reicht, um Kinder glücklich werden zu lassen. Ich war mir ganz sicher, dass unsere Kinder mit all unserer massenhaften wahnsinnigen Elternliebe wunderbar glückliche Menschen werden. Aber das reicht nicht aus.

Lili ging es nicht gut in diesem Jahr. Wir wussten lange nicht genau was los ist, konnten ihr Unwohlsein nicht verstehen, nicht zuordnen, ihr nicht helfen. Es war schwer Ärzte zu finden, die das können. Es gab Mitte des Jahres viele Wochen, in denen ich vor Sorge nicht schlafen konnte. Auch wenn es ihr ein wenig besser geht, die furchtbaren Sorgen um sie kommen immer mal wieder.

Vor ungefähr zwei Wochen erzählte mir ein Bekannter ganz überschwänglich von einer jungen Erwachsenen mit Down Syndrom, die er neulich im Fernsehen gesehen hätte und die einen Hauptschulabschluss erworben hat. Er sprach von den tollen Eltern und wie gut sie das machen und wie wunderbar sie das Kind stets gefördert hätten.

Bei Anatol änderte sich in diesem Jahr nicht viel. Sein wöchentliches Handballtraining mussten wir aufgeben, weil er nach Monaten auf einer Warteliste endlich einen Platz in einem Spezial-Schwimmkurs bekommen hatte. In „normalen“ Schwimmkurse haben sie ihn nicht aufgenommen. Leider ist der Schwimmkurs am gleichen Tag wie Handball. Dass er Schwimmen lernt, ist uns sehr wichtig.
Zusätzlich ist er in 2022 montags bei einer Sportgruppe gewesen, in der er das einzige Kind mit Behinderung ist. An einem Montag im September sagte ein ca. 9-jähriger Junge aus diesem Kurs zu mir, dass er Anatol überhaupt nicht leiden könne. Tolja hat sich bei diesem Sportkurs schon mehrfach eingenässt, was er sonst nie tut. Die Trainer sind sehr bemüht, aber augenscheinlich überfordert mit seiner Integration in den Kurs. Ich weiß nicht, ob das noch lange gut geht.
Und schließlich haben wir nach neun Jahren wöchentlicher Logopädie in 2022 zusammen mit der Logopädin entschieden eine Therapiepause zu machen. Nicht, weil Tolja jetzt so gut Sprechen kann, sondern, weil seine Aussprache sich seit vielen Monaten nicht verbessert. Vielleicht wird er niemals ganz klar und deutlich Sprechen können.

Viele Kinder in Toljas Klasse auf der Förderschule haben alleinerziehende Mütter. Zwei der Mütter hatten in 2022 unabhängig voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten einen Unfall, so dass sie ihre Kinder nicht mehr betreuen konnten. Beide hatten niemanden, der die Kinder spontan zu sich nehmen konnte und wollte. Wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden und jetzt geht es beiden Müttern besser. Mir haben beide Ereignisse sehr bewusst gemacht, wie allein gelassen Mütter oft sind, insbesondere Mütter von Kindern mit Behinderung. Auch sind mir in 2022 mehrere verzweifelte Mütter begegnet, deren erwachsene Kinder mit Behinderung in der Pandemie eine psychische Erkrankung entwickelt haben und keine psychotherapeutische Hilfe erhalten. Schon bei nichtbehinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist die Versorgung hier nicht ausreichend. Bei Menschen mit Behinderung ist es eine einzige Katastrophe und die Not der Betroffenen kolossal.

Nein, Kindern reicht keine bedingungslose Elternliebe. Sie brauchen Frieden. Sie brauchen Ärztinnen und Therapeutinnen, die sie behandeln. Sie brauchen andere Erwachsene und Kinder, die sie wertschätzen und ihnen wohlwollend begegnen. Sie brauchen Mütter, denen andere im Krankheitsfall oder in der Not helfen. Und sie brauchen eine Perspektive für eine gute Zukunft.

Inklusion

Nach acht Jahren politische Kämpfe im Hamburger Bündnis für schulische Inklusion habe ich 2022 aufgehört.

Die Pandemie hatte nach zwei Jahren zu einem Stillstand in quasi allen Bereichen der schulischen Inklusion geführt, meist sogar zu Rückschritten. Ich hatte jahrelang versucht die zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen von Schülerinnen, Eltern, Pädagoginnen, von Schulen und Behörde zu sammeln und gemeinsame Ziele heraus zu filtern. Ich hatte immer den Anspruch auf Positionen im Bündnis, die sich auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse stützen. Eine Einigung war oft nicht möglich.

Und was mir mit der Zeit immer immer klarer wurde: um Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit Beeinträchtigungen des Sehens oder Hörens von Anfang an und in alle Prozesse mit einzubeziehen, braucht es Hilfsmittel und Übersetzungsdienste, für die ehrenamtliche Projekte keine Ressourcen haben. Aber es braucht auch unheimlich viel Zeit, Wissen, Vernetzung und Geduld. Die Zeit hatte ich nicht mehr. Ich war erschöpft. Und es fühlte sich an wie ganz großes Scheitern.

Handball

Ich habe lange Handball gespielt. Zum einen, weil ich den Sport liebe und mich gern bewege. Zum anderen aber auch, weil ich in den letzten Jahren nur beim Handball erleben konnte, wie eine Gruppe von Menschen gemeinsam das tut was jemand (die Trainerin) sagte, und zwar ohne Diskussion. Das tat mir immer gut. Ich war und bin so müde von den vielen Auseinandersetzungen, sowohl im Arbeitsleben als auch bei meinem politischen Engagement. Beim Handball traf ich auf meine Sehnsucht nach einem gemeinsamen, einfachen Ziel. Ein Mannschaftssport ließ sich aber schon immer schlecht mit Arbeit und Kindern vereinen. Immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht beim Training war, niemals Kampfgericht übernehmen konnte oder bei Punktspielen nicht dabei sein konnte.
In 2020 und 2021 war ich schon seltener beim Training aus Angst vor Ansteckung, denn es gab noch keine Corona-Impfung und Anatol gehört zur Risikogruppe. In 2022 kam die Erkrankung von Lili dazu. Ich wollte deshalb jeden Abend Zuhause sein. Und schließlich folgte das Eingeständnis, dass in meinem Leben ein Mannschaftssport einen zu großen Spagat bedeutet. Es fällt mir sehr schwer nicht mehr Handball zu spielen.

Stillstand beruflicher Projekte

Zwei Projekte hatte ich mir in 2022 vorgenommen und waren mir wichtig: zum einen das Weiterführen meines Projektes „barrierefreies Studium“. Aus sehr unterschiedlichen Gründen, u.a. die Unmöglichkeit für dieses Projekt einen klaren Kostenplan aufzustellen, aber auch personelle Diskontinuitäten und zeitweise unklare Zuständigkeiten ging das Projekt immer schleppender voran. Ab 2023 übernimmt nun eine Kollegin das Projekt, mein Baby. Der ursprüngliche Plan war immer gewesen, dass ich das Projekt irgendwann abgebe. Aber ich wollte ein sehr gut laufendes Projekt weitergeben, kein Chaos. Ich bin darüber enttäuscht.
Auch meine Vorhaben, eine akademische Basisqualifikation für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu initiieren, scheiterte in 2022 an der Komplexität der nötigen Prozesse. Aber vor allem an meinem Zeit- und Kraftmangel. A

Freunde/Beziehungen

Meine langjährige Laufpartnerin ist Mitte des Jahres nach Bremen gezogen und ich habe keinen Ersatz gefunden. Die Laufrunden und Gespräche mit ihr fehlen mir sehr. Außerdem fehlt mir Zeit. Zeit, um in Ruhe nachzudenken, Zeit, um mich mit anderen Frauen auszutauschen, Zeit, um gemeinsam etwas zu Denken und zu tun.

Der Anfang ist nah

Ich sehe gerade nicht wie es besser werden kann. Die größten Verlierer der großen Krisen (Klimaapokalypse, populistische Diktaturen, Krieg und ökonomische Krisen) werden die Schwächsten der Schwachen sein: z.B. Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Erkrankungen, arme Menschen oder allein erziehende Mütter. In den letzten Jahren habe ich versucht mich politisch für genau diese Menschen einzusetzen und bin kläglich gescheitert.

Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass sich das Aggressionsverhältnis zur Welt bei Menschen verschärft hat. Egal ob wirtschaftliche oder soziale Kämpfe, man soll mal für einen Moment inne halten und sich berühren lassen. Ich behaupte, ich tue das regelmäßig. Ich habe meine Resonanzräume, Menschen, Orte, Musik, die mich manchmal berühren, mit denen ich ein wenig entspanne, ab und zu zur Ruhe komme und ein kleines bisschen Kraft tanken kann.

Ich hatte mir in den letzten Jahren kleine Ziele gesetzt, wusste, dass man nur kleinschrittig voran kommt, dass Demokratie viel Zeit braucht und anstrengend ist. Und es ging mir niemals um mein kleines persönliches Leben. Es ging mir immer um ein gutes Leben für die Schwächsten in diesem Land. Und dennoch: ich habe in 2022 eine gute Zukunft für sie aus den Augen verloren, habe derzeit keine Ideen und keine Begriffe dafür, wie es besser werden und was ich dafür tun kann.

Damals, als wir in Sibirien lebten, lag 10 Monate im Jahr Schnee. Und die Sonne schien jeden Tag.

Minimal Stories

Im Schwimmbad

Beide Kinder liebten das Schwimmbad. Vor einigen Jahren gingen wir oft zu Dritt ins Schwimmbad Bondenwald. Unser Sohn (mit Trisomie 21) war dabei immer kaum zu halten. Badelatschen, Badehose, Duschen, Toilette, .. alles war für ihn nicht wichtig, denn er wollte immer sofort und sehr schnell ins Becken springen, egal welches, egal wie tief, egal ob er seine Schwimmflügel schon übergezogen hatte oder nicht. Er konnte auch tausendmal und blitzschnell aus dem Becken steigen und vom Rand wieder hinein springen. Hierbei hatte er eine große Ausdauer und unglaublich viel Spaß.

Von der Seite hörte ich manchmal unsere Tochter rufen: „Mama schau mal, ich kann schon eine Vorwärtsrolle im Wasser!“ Ich schaute dann ein paar Sekunden wie sie die Rolle machte, lobte sie überschwänglich und freute mich für sie. Im Augenwinkel sah ich jedoch, wie unser Sohn in ein anderes Becken stürmte und rannte sogleich ihm schnell wieder hinterher.

Irgendwann hatte unsere Tochter keine Lust mehr auf Schwimmen.

Kommunikation

Unser Sohn hat lange Kontakt mit Menschen in einer Form aufgenommen, die diese erboste oder zumindest verunsicherte. Zum Beispiel hatte er eine Zeitlang jedem vorbei laufenden Passanten auf den Po gehauen oder hat sich in Restaurants immer zuanderen Gästen an den Tisch gesetzt und sie bedrängt. Manchmal wollte er unbedingt auf den einzigen besetzten Platz im Bus sitzen und ließ sich partout davon nicht abbringen. Am Strand lief er häufig von Decke zu Decke und tauschte Sonnenmilch, Badetiere oder Handtücher der Urlauber aus. Auf Spielplätzen machte er oft die Burgen anderer Kinder in den Sandkästen kaputt, versteckte die Schaufeln der anderen Kinder im Gebüsch oder drängelte sich auf Klettergerüsten vor. Er war stets kreativ bei der Kontaktaufnahme. Es schien lange so als ob er starke Reaktionen von anderen Menschen ganz besonders interessant findet und nach derartigen Konflikten ganz bewusst suchte. Zuhause war das ähnlich: er klaute zum Beispiel Dinge aus dem Zimmer seiner Schwester, aß ihre Schokolade auf oder machte absichtlich ihre Lieblingsdinge leer oder kaputt. Ich schimpfte dann oft mit beiden Kindern: mit dem Wissen, dass unser Sohn die Verurteilung seines Verhaltens, meine verbalen Erklärungen und aufgezeigten Konsequenzen kognitiv nicht verstehen würde und auf emotionale Reaktionen ja gerade mit wiederholter Provokation reagierte, beschränkte ich mich meist darauf ihn wütend zu nehmen und zur Strafe erst einmal räumlich von uns zu trennen und in seinem Zimmer aufs Bett zu setzen. Meist bekam seine Schwester auch noch was von mir ab, weil sie „ja wisse, dass er so sei“ oder dass er die Konsequenzen nicht einschätzen könne, dass sie etwas besser nicht hätte liegen lassen oder ihm zeigen sollen. Dann appellierte ich oft an ihre Vernunft diese Situation jetzt nicht noch weiter zu eskalieren.

Das Ergebnis vieler Konflikte war meist ein nach einer Minute wieder fröhlich spielender Sohn und eine von seinen Bedürfnissen angestrengte und genervte Schwester. Oft ärgerte ich mich, dass mir als Mutter die Instrumente fehlten, um in diesen sich oft wiederholenden Situationen mit ihm und auch mit seiner Schwester konstruktiv und förderlich umzugehen. Oft war ich einfach nur erschöpft von den vielen Konfliktsituationen in unserem Alltag.

„Unter ihresgleichen“

Mein Herz hat schon immer links außen geschlagen und nach der Geburt unserer Kinder wurde mir noch deutlicher, dass wir in diesem Gesellschafts-, Bildungs- und Wirtschaftssystem keine gute Zukunft für alle werden haben können. Ich suchte damals für unsere Tochter ganz bewusst eine sogenannte Brennpunktschule aus. Genauso wenig wie eine Sonderschule für unseren Sohn, kam für unsere Tochter ein Gymnasium (der Klassenfeind) in Frage. Beide, unsere Tochter und unser Sohn, sollte mitten in der Gesellschaft lernen und nicht in Sondersystemen. Von Zuhause wusste ich, dass das tägliche Aushandeln von Bedürfnissen in der Gemeinschaft herausfordernd ist, trotzdem glaubte ich ganz fest daran, dass es machbar ist, wenn wir es wollen.

Irgendwann mussten wir dann aber doch bei beiden Kindern, entgegen unseren Überzeugungen, eine schmerzliche Entscheidung gegen die Gesamtschule treffen: unsere Tochter machte im ersten Schuljahr nach dem Wechsel von der Grundschule unschöne Mobbing-Erfahrungen, auf die von Seiten der Lehrer nicht reagiert wurde und die nächstgelegene Gesamtschule war zu weit von unserem Wohnort entfernt. Und unseren Sohn wollten sie in der Gemeinschaftsschule von Anfang an nicht aufnehmen. Unsere Tochter wechselte also aufs Gymnasium, unser Sohn wurde in der Sonderschule eingeschult. Beide fühlen sich in ihrem jeweiligen Sonderbereich mittlerweile wohl.

Ich habe dadurch aber eine ganze Menge Glauben an die Menschen, an Gleichheit und Gerechtigkeit verloren. Das hat mich in den letzten Jahren sehr mutlos gemacht.

Eis essen

Vor ca. einem Jahr war ich mit unserem 9-jährigen Sohn auf dem Langenhorner Markt, um ein Eis zu essen. Vor der Eisdiele, mitten in der Fußgängerpassage, gibt es lustige Wasserfontänen, die in unterschiedlichen Höhen wechselnd aus dem Boden schießen. Es war heiß und sonnig, vielleicht 25 Grad an dem Tag.

Als unser Sohn das Eis fertig hatte, zog er sich plötzlich blitzschnell aus und sprang wild, fröhlich und nackt zwischen den Wasserfontänen umher. Ich konnte ihn nicht aufhalten, bat ihn allerdings bitte den Schlüpfer anzulassen, was er nicht tat.

Er hatte riesigen Spaß. Aber ich war in dieser Situation nicht in der Lage mich für ihn und an ihm zu erfreuen. Einige Kinder kicherten, weil er komplett nackt dort umher tänzelte und das – wenn überhaupt – sonst nur ein- oder zweijährige tun. Vielleicht 50 Personen schauten ihm bei seinen Wasserspielen zu, einige Männer lachten, einige Frauen schüttelten mit dem Kopf und sahen mich strafend an. Anatol genoss die Aufmerksamkeit und wurde immer alberner: wackelte mit dem Po und seinem Penis direkt über den Fontänen und lachte sich dabei selbst kaputt.

Ich weiß noch, wie ich mich fragte, ob er mit 15 Jahren auch noch so hemmungslos, wild und nackt hier herum springen wird und wie mich die Leute dann anschauen?

Nach gefühlt fünf Stunden (es waren glaube ca. 30 Minuten) kam er dann zu mir, ich trocknete ihn mit seinem Unterhemd und seinem Schlüpfer ab, zog ihm T-Shirt, Shorts und Sandalen an und wir gingen nach Hause.

Wäre seine damals 12-jährige Schwester an diesem Tag dabei gewesen, sie wäre vor Scham im Erdboden versunken.

Sehnsucht

Viele Jahre nach den Geburten der Kinder fiel es mir schwer meine Mutterrolle zu verlassen. Ich wollte alle Bedürfnisse beider Kinder gleichberechtigt erfüllen: wenn ich zum Beispiel an einem Sonntag viele Stunden mit unserem Sohn auf dem Abenteuerspielplatz im Niendorfer Gehege war und danach unsere Tochter ins Schwimmbad wollte, dann bin ich mit ihr noch ins Schwimmbad – egal wie müde und erschöpft ich war.

Immer wenn Leute dann zu mir sagten, dass ich auch an mich selbst denken muss, habe ich geantwortet, dass ich schon immer am besten entspannen konnte, wenn ich mich auspowere und es mir deshalb total gut gehe, wenn ich abends mit den Kindern k.o. ins Bett falle. Ein Fünkchen Wahrheit war da auch dran. Die Mutterschaft pushte mich ja auch irgendwie.

Wenn dann aber so einmal im Jahr eine Woche die Kinder bei den Großeltern waren, heulte ich die ganze Woche. Jedes Jahr. Nur in dieser einen Woche im Jahr konnte ich intensiv meine eigene Musik hören, in Ruhe lesen, mich treiben lassen, mir keine Gedanken ums Essen machen oder wie ich mit Konflikten umgehe und lange schlafen (bis 8 Uhr oder so). Und jedes Mal nahm ich mir vor, wenn die Kinder wieder da seien, dann leben wir zusammen ein bisschen mehr genau so entspannt weiter, wir hören dann alle auf die Bedürfnisse der anderen in der Familie, wir helfen dann einander alle mehr, sind liebevoller und netter zueinander und schwingen alle ein wenig mehr im gleichen Takt.

Jeder für sich

Wir schwingen mittlerweile sehr ausgeprägt jeder in seinem ganz eigenen Takt. Jedes Kind kennt seine eigenen Bedürfnisse und fordert sie vehement ein. Ich suche weiter nach einem zeitweisen wir.

Sichtbar werden

Die Hamburgerin Kübra Gümüşay hat Ende Januar ihr großartiges Buch „Sprache und Sein“ veröffentlicht. Im Klappentext heißt es, dass das Buch der Sehnsucht nach einer Sprache folgt, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Gümüşay zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden – und sich nur als solche äußern dürfen. Wie Fragen an sie nur so gestellt werden, dass jede Antwort die Kategorie bestätigen muss. Gümüşay fragt: „Wann wird es einer jungen Frau mit Migrationshintergrund, einem homosexuellen Mann, einer Transfrau oder einem Menschen mit Behinderung möglich sein, einfach nur sie selbst zu sein? Wann dürfen diese Menschen ich sagen und damit auch ich meinen? Wann werden sie auch so verstanden?“ Sie beschreibt junge Schwarze in Deutschland, die sich besonders bemühen, freundlich und zuvorkommend zu sein, höflich zu lächeln und akzentfrei Deutsch zu sprechen, um ungefährlich zu wirken. Oder junge kopftuchtragende Frauen, die überzogen zuvorkommend, frei und lässig tun, weil sie beweisen wollen, dass sie nicht unterdrückt sind, sondern klug und freundlich.

Auch viele Behinderte zeigen sich in Sozialen Medien wie z.B. bei Instagram in besonders schönen, coolen und sportlichen Posen. Menschen, die performen, um als Menschen überhaupt wahrgenommen zu werden. Wie anstrengend das ist, wird, so Gümüşay, erst im Kontrast erkennbar: in jenen Momenten, in denen sie unter vertrauten Menschen sind und nicht mehr dem Druck der Inspektion ausgesetzt sind: „Wenn sie erleichtert ausatmen, die Schutzschilde fallen lassen, wenn ihre Schultern entspannt nach unten fallen, ihre Gesichtsmuskeln sich entspannen und die mittig hoch gezogenen Augenbrauen.“

Menschen, die als Individuen unsichtbar werden

Genau das beobachte ich auch häufig bei Menschen mit Trisomie 21. Die Zuordnung zur Kategorie „Down Syndrom“ beginnt gleich nach der Geburt, z.B. bei diversen Therapeuten, die irgendetwas mit dem nur wenige Monate alten Baby tun, weil bestimmte Entwicklungsverzögerungen bei Kindern mit Down Syndrom üblich sind und nicht, weil sie bei diesem speziellen Kind einen individuellen Bedarf sehen. Spätestens mit Eintritt in die Schule erfolgt die Zuordnung zur Kategorie „geistig behindert“, womit dann für 10 Jahre das Lernangebot auf ein standartisiertes Minimum reduziert wird (das sich in Hamburg „Bildungsplan für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ nennt), unabhängig von individuellen Interessen und Fähigkeiten eines Kindes. Jede Lernverweigerung, jedes Nichtverstehen, alle kommunikativen Schwierigkeiten, jede körperliche Gegenwehr werden fortan mit der Kategorie „weil er geistig behindert ist“ begründet und damit jedes Angebot einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung vorenthalten und jede Anstrengung in diese Richtung als sinnlos erklärt.

Die Unsichtbarkeit von Menschen mit Trisomie 21 wird verstärkt durch die häufig gegebene Stellvertreterfunktion von uns Eltern. Da die Umgebung meist nur sprachlich oder schriftlich geäußerte Positionen akzeptiert und viele Menschen mit Trisomie 21 gerade mit (Schrift-)Sprache Schwierigkeiten haben, versuchen oft wir Eltern mit unserer Sprache die Rechte unseres Kindes einzufordern, um unser Kind als Mensch mit eigenen Bedürfnissen sichtbar zu machen. Die Rolle der Stellvertreter*innen ist fies. Die Unsichtbarkeit unserer Kinder allerdings noch fieser. Denn sie müssen oft nicht nur für ihre Menschenrechte kämpfen, sondern ihr Lebensrecht verteidigen. In vielen Situationen bräuchten sie eigentlich ihren ganz persönlichen Rechtsanwalt plus PR-Team.

Die Mehrheitsgesellschaft fordert eine angepasste Performance, wenn man mitmachen will, egal, ob mit oder ohne Kopftuch, ob behindert oder nicht. Bleibt die geforderte Performance aus, sieht man diese Menschen kaum noch in der Öffentlichkeit, auf Spielplätzen, in Schwimmbädern, in Supermärkten, in Unternehmen. Nicht nur sie, auch ihre Familien werden dann unsichtbar. Man will nicht immer angestarrt werden, man will nicht immer erklären müssen.

Rassismus und Sexismus sichtbar machen

2013 initiierte Kübra Gümüşay zusammen mit Bekannten auf Twitter den Hashtag gegen Alltagsrassismus #SchauHin. Seitdem teilen tausende Menschen wöchentlich eigene Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Betroffene merken, dass sie nicht allein sind, andere sehen, wie viele Menschen Rassismus täglich erleben. Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 initiierte sie zusammen mit 21 anderen Feministinnen den Hashtag #Ausnahmslos gegen Sexismus und Rassismus.

Im Oktober 2017 verbreitete sich im Zuge des Weinstein-Skandals der Hashtag #meToo. Täglich twittern seitdem weltweit unter diesem Hashtag tausende Frauen, die sexuelle Übergriffe von Männern erleben.

Menschen, die in diesem Land geboren sind, fordern die gleichen Rechte wie alle anderen auch. Frauen trauen sich endlich, in der Öffentlichkeit über erlebte sexuelle Übergriffe zu reden. Das Unsichtbare sichtbar machen.

Behindertenfeindlichkeit sichtbar machen

2016 startete der Hashtag #behindernisse. Seitdem teilen viele Menschen ihre täglichen behindertenfeindlichen Erlebnisse und schreiben auch über Barrieren in Gebäuden, über misslungende Kommunikation mit Krankenkassen, Ausgrenzung in Schulen usw., um deutlich zu machen, wie unglaublich viel in Richtung Barrierenabbau und Bewusstsein für Barrieren noch in allen Lebensbereichen passieren muss.

Erst kürzlich haben die Berliner Sozialhelden ein neues Projekt gestartet: das online-Magazin „Die Neue Norm“. Auf der Webseite dieneuenorm.de beschreiben die Macher das Projekt wie folgt: „Dank der Deutschen Industrienorm (DIN) wissen wir, wie groß ein Blatt Papier ist, welche Steigung eine Rampe vor einem Gebäude haben darf und wie wir ein Haus bauen müssen, damit es gewisse Standards erfüllt. Doch Normen haben auch etwas einengendes, auch passen nicht alle Menschen in die Norm, die von der Mehrheitsgesellschaft als solche definiert wird. Wir wollen Normen hinterfragen und aufbrechen. Mit Texten, Beiträgen und einem monatlich erscheinenden Podcast.

Die Neue Norm ist ein Online-Magazin, das verschiedene Fragen und gesellschaftspolitische Mechanismen behandeln und infrage stellen wird. Besonders wollen wir das Thema Behinderung in einen neuen Kontext setzen; raus aus der Charity- und Wohlfahrtsecke, rein in den Mainstream, in die Mitte der Gesellschaft.“

ABER Menschen mit Trisomie 21 und ihre Eltern fehlen noch immer weitgehend im gesellschaftspolitischen Diskurs. In der Literatur, in der Kunst, in der Musik, in den Medien, in der Bildung, in der Öffentlichkeit. Das hat nicht nur persönliche Konsequenzen, sondern gesellschaftspolitische.

Inklusion heißt nicht Perfektion und Bequemlichkeit für alle

Unsere Familie ist ganz gut sichtbar, meine ich. Wir Eltern sind jeweils sichtbar, unsere Kinder sind sichtbar. Wir haben ein Gesicht in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien. Meist geht es uns ganz gut, manchmal geht es uns Scheiße. Lange Zeit dachte ich, sichtbar sein reicht als politisches Statement. Aber neulich sagte die zehnjährige Freundin unserer Tochter, dass sie kein Kind mit Trisomie 21 bekommen möchte und das Kind wegmachen würde. Auch unsere ehemalige Nachbarin sagte mir während ihrer Schwangerschaft vor fünf Jahren, dass sie den Test gemacht hätte und ein Kind mit Trisomie 21 für sie nicht in Frage gekommen wäre. Ich fragte mich also, ob sichtbar sein ausreicht?

Es reicht nicht aus! 90 % aller Schüler*innen mit Trisomie 21 werden jährlich im Lernentwicklungsgespräch zum angeblich gemeinsamen Lernziel „sich mehr an die Regeln zu halten“ genötigt. Die Regelhierarchien und wer sie aufstellen darf scheinen dabei ganz klar. Wenn Schüler*innnen mit Trisomie 21 tatsächlich die Regeln mitbestimmen würden, dann würden diese wahrscheinlich lauten: mehr Spaß zulassen, mehr Scherze, mehr Spontanität, mehr Ablenkung, mehr Aus-der-Reihe-tanzen und mehr individuelle Interessen, weniger standartisierte Strukturen, weniger Gleichschritt. In Sonderschulen unmöglich, in Regelschulen noch unmöglicher. Der Preis für den „harmonischen“ schulischen Gleichschritt ist: eine gleichförmige Welt, eine langweilige Welt. Und vor allem das Unsichtbarwerden von Persönlichkeiten. Das Unsichtbarwerden unserer Kinder mit Trisomie 21.

Was können wir Eltern also tun? Vielleicht in erster Linie unsere Kinder ermutigen, nicht immer deren Regeln zu akzeptieren, sondern ich sagen zu lernen, eigene Bedürfnisse zu kennen und wenn nötig lautstark auszudrücken. Und unseren Kindern ermöglichen, noch sichtbarer zu werden, so wie sie sind, in Real Life und in Social Media.

Einsamkeit

Ich liebe. Am aller meisten unsere Kinder.

Ich habe Angst. Vor dem Tod. Auch vor meinem eigenen.

Ich arbeite. Sehr viel. Muss die Miete bezahlen. Muss für mich und die Kinder Klamotten kaufen. Muss Kaffee trinken. In den Urlaub fahren.

Die Ausgrenzung behinderter Menschen schmerzt mich körperlich. Manchmal ist es kaum auszuhalten.

Handball hilft. Im Team kann man ein wenig Gemeinschaft erleben. Wie sonst nirgens.

Versuche, eine gute Mutter zu sein, die Hassliebe unter den Geschwistern auszugleichen.

Treffe Freundinnen. Trinke Wein. Wie damals als ich nur Verantwortung für mich selbst hatte. Das Thema Inklusion vermeiden wir. Denn dabei verändert sich meine Stimmung oft. Die Wut kommt dann zu schnell.

Weiß nicht, wie wir die Kinderbetreuung in den Ferien organisieren sollen.

„Im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung erscheint A. deutlich nicht altersgemäß entwickelt. So zeigt er besonders in der sozialen Interaktion deutliche Defizite.“, steht in seinem Förderplan. Das ist falsch.

Hasse die Zeit, die soziale Medien fressen. Aber ich lerne und entdecke. Auf Facebook und Twitter. Treffe Gleichgesinnte. Verliere nicht den Anschluss an Freunde, die ich länger nicht sehen kann.

Spüre Musik. Mit jeder Faser meines Körpers. Tanze durch die Wohnung.

Poste auf Instagram, weil ich den Menschen die Angst vor einem Kind mit Trisomie 21 nehmen möchte.

Schreibe gegen meine Angst und Einsamkeit.

Bis zur Erschöpfung.

Wie viel Therapie und Förderung braucht ein Kind mit Trisomie 21?

Uns Eltern eines Kindes mit Trisomie 21 wird regelmäßig in diversen Berichten von Kitas, Schulen, Ärzten und Therapeuten das Entwicklungsdefizit unseres Sohnes im kognitiven, sprachlichen und sozial-emotionalen Bereich mitgeteilt und ausführlich erörtert. Noch häufiger werden mir als Mutter, nicht nur von den eigenen Eltern und Schwiegereltern, sondern auch von irgendwelchen Leuten, Ratschläge zur Förderung und zur Erziehung unseres Sohnes gegeben: Adressen guter Therapeuten oder Therapiezentren werden mir z.B. ungefragt per Mail zugeschickt oder Bücher mit irgendwelchen Wunder versprechenden Fördermethoden geschenkt. Unser Sohn scheint nicht genug gefördert zu werden. Da geht bestimmt noch mehr. Man meint es ja auch nur gut und will helfen.

Ich selbst habe aber noch niemals die Notwendigkeit gesehen, in irgendein blödes Therapiezentrum zu fahren, womöglich noch unseren Urlaub dort zu verbringen. Ich empfinde all diese Ratschläge als übergriffig. All das setzte mich, setzt Eltern schon früh unter Druck.

Und immer wieder die Diagnostik des Abweichenden

Egal ob Mediziner, Therapeuten oder Pädagogen, sie alle diagnostizieren seit der Geburt permanent unser Kind und stellen es auf ihren jeweiligen Entwicklungsskalen auf irgendeiner Stufe dar. Das führte bereits zu solch absurden Situationen, dass unser Sohn mit 18 Monaten von einer Ärztin auf dem Entwicklungsstand eines 12 Monate alten Kindes auf ihrer Normalitäts-Skala platziert wurde, während eine Heilpädagogin ihn zur gleichen Zeit auf dem Entwicklungsstand eines 16 Monate alten Kindes einstufte. Dies stellte für mich sehr früh nicht nur standartisierte Diagnoseinstrumente in Frage, sondern ich fragte mich vor allem schon zu diesem Zeitpunkt nach dem eigentlichen Sinn solcher Einstufungen. Denn die Therapeuten, die mit ihm direkt therpeutisch arbeiten, machen ja sowieso nochmal eine eigene Diagnostik in ihrem spezifischen Therapiegebiet.

Schon sehr früh erkannte ich also für mich, dass unser Sohn und ich perfekt sind wie wir sind und dass wir Diagnostik – soweit möglich – lebenslang aus dem Weg gehen werden. Das war eine Erkenntnis, die mein eigenes Leben und meine Beziehung zu unserem Sohn grundsätzlich veränderte. Auf die Gefahr hin jetzt unglaublich pathetisch zu werden: ich begriff, dass das Unperfekte in unserer so normativ gewordenen Gesellschaft ja gerade das Spannende und Schöne ist. Die Endlichkeit, die Angewiesenheit, die Abhängigkeit, die Begrenztheit und die Fehleranfälligkeit des Menschen sind es, die letztlich jede Idee von Perfektion als Utopie entlarvt. Das allseitige Streben nach Mittelmäßigkeit ist so sterbenslangweilig. Auf jedes angebliche Defizit unseres Sohnes in irgendwelchen Berichten trinke ich seitdem genüsslich ein Glas Wein. Auf jeden angeblichen Erziehungsfehler trinke ich ein weiteres.

Oft kommen wir ja um Diagnostik leider nicht herum. Beim Eintritt in die Schule z.B wurde Diagnostik formal eingesetzt, um den vermuteten Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei unserem Sohn zu bestätigen, um den Bedarf an zusätzlichen personellen und materiellen Ressourcen für seine spezielle Förderung rechtfertigen zu können. Das heißt, ohne Diagnostik kein Geld, ohne Geld keine „spezielle Förderung“ – das sogenannte „Ressourcen-Ettikettierungs-Dilemma“.

Das Thema Diagnostik treibt mich immer wieder an. Jedes Kind ist in seiner Entwicklung einzigartig. Im ursprünglichen Wortsinn bedeutet dia-gnosis eigentlich Unterscheidung, also die einfache Feststellung von spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes. Das heißt, Diagnostik sollte spezifische Eigenschaften und Fähigkeiten unseres Sohnes helfen herauszufinden. Hinzu kommt das Erkennen behindernder äußerer Barrieren. Viele Menschen werden durch eine Vielzahl von Barrieren an einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe (z.B. an Schulen) gehindert. Diese Barrieren stellen nicht nur physische Hindernisse dar (Stufen, Bordsteine, Durchgangsbreiten, Akustik), sondern auch kommunikative (verbale Information, keine Beschilderung, schwere Sprache) sowie abwertende Vorurteile, zu hohe Anforderungen, mangelndes Sozialgefüge, ausgrenzende Zugangsvoraussetzungen oder viel zu große Lerngruppen. Diagnostik sollte diese Barrieren erkennen und abbauen oder wenigstens minimieren. Das Feststellen von persönlichen Einschränkungen und Schwächen – also das, was unsere Kinder eigentlich bei der Diagnostik oft erleben – betont und verstärkt Defizite, auch wenn es von Pädagogen und Therapeuten natürlich nicht so gewollt ist.

Therapie und Förderung

Die Begriffe Therapie und Förderung tauchen meist in einem engen Zusammenhang mit einer gestörten oder verzögerten Entwicklung von (behinderten) Kindern auf, weshalb ich diese Begriffe ebenso schwierig finde wie den der Diagnostik. Das als defizitär erkannte Subjekt muss durch Therapie und Förderung an ein als normal identifiziertes Mittelmaß angepasst werden.

Schnell stellen sich viele Eltern dann die Frage, wie viel Therapie und Förderung ihr Kind benötigt. Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen eines Kindes sowie die Angst ein entscheidendes Entwicklungsfenster zu verpassen treibt dann die Eltern von Kindern mit Trisomie 21 oft von Therapie zu Therapie, von Fördermaßnahme zu Fördermaßnahme. Hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines Kindes mit Trisomie 21 (zwar spielerisch, aber konsequent) zu therapieren und das Kind permanent therapieren oder fördern zu wollen, steht oft Hilflosigkeit und Distanzsuche. Das noch nicht Erreichen von bestimmten Entwicklungsstadien wird als krankhaft und falsch wahrgenommen. Und das darf nicht sein und muss mit ausreichend Förderung verhindert bzw. verringert werden.

Udo Sierck, ein bekannter Behindertenaktivist, sagte einmal in einem Vortrag, den ich erleben durfte, dass man in die Natur des Menschen meist nicht eingreifen kann. Viele „Verhaltensauffälligkeiten“ sind für Behinderte selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds investieren, meint er, und immer wieder erklären, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte.

Eine Mutter aus dem Publikum äußerte daraufhin ihre Angst, dass ihr Kind und dessen Verhalten von der Umgebung eben meist nicht so wertgeschätzt wird und sie ihm mit mehr Therapien und Förderung helfen will, die eigenen Bedürfnisse besser ausdrücken zu können. Sierck wies darauf hin, dass es immer um Hilfen zu mehr Selbstbestimmung gehen muss und man hier individuell ein gesundes Maß für sein Kind finden sollte. Er fügte jedoch klar hinzu, dass ein Kind auch Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um überhaupt selbstständig aktiv werden zu können und selbst nach Lösungen suchen zu können. Negative Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.

Kann Therapie und Förderung schaden?

Derzeit scheint sich insbesondere auch ein präventives Therapie- und Förderdenken durchzusetzen. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen bzw. von einem standartisierten „Programm“ auf ein Kind (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) ist jedoch vollkommen unnötig. Therapien sind lediglich Dienstleistungen, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein können, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollten.
Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie und Förderung jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders! Viele Therapeuten und Sonder- oder Heilpädagogen beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr spezielle Therapie und spezielle Förderprogramme verunsichern. Frühförderung, Sonderkindergärten und Sonderschulen können damit der Anfang eines lebenslangen Kampfes für ein Kind mit Trisomie 21 sein, endlich „normal“ werden zu können – so wie es sich die Erwachsenen um dieses Kind herum so sehr wünschen.

Welche Förderung schadet nicht?

Immer wieder meinen einige (Sonder- oder Heil-) Pädagogen, die richtigen Lernmethoden für Menschen mit Trisomie 21 gefunden zu haben. Sie damit dann aber mit viel personellen und zeitlichen Ressourcen z.B. auf einen Schulabschluss regelrecht zu trimmen, scheint mir nicht die richtige Lösung zu sein. Für mich ist das so wie einen gehbehinderten Menschen auf die deutschen Meisterschaften im 100m-Lauf zu trainieren oder wie mich selbst durch ein Chemiestudium quälen zu müssen.

Therapie und Förderung sollte m.E. immer drei Ziele verfolgen:
1. Unterstützung bei Selbstbestimmung, Unabhängigkeit sowie Entscheidungs- und Handlungsfreiheit.
2. Schaffen und Sensibilisieren von Bezugsgemeinschaften (also unterstützte gemeinsame Gruppenlernprozesse, gemeinsame Arbeitsprozesse, gemeinsame Freizeitgestaltung, usw.).
3. Minimieren bzw. Abbau äußerer Barrieren.

Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht würde er mit gezielterer Sprachförderung jetzt mit seinen sieben Jahren schon ganz allein zwei Kugeln Eis bestellen können. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er mit speziellen Fördermethoden von Frau Manske oder an der Universität Hamburg jetzt schon bis 10 zählen können. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung und Förderung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll so wie er ist.

Pränataldiagnostik und das Geschäft mit der Angst

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entscheidet am 19. September darüber, ob vorgeburtliche Bluttests auf Down-Syndrom künftig von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden.

Ich schließe mich bezüglich des nichtinvasiven Pränataltests (NIPT) auf Kassenleistung der Stellungnahme dieser Verbände, Organisationen und Initiativen vom April 2019 an . Dort heißt es:

I.
Die beabsichtigte Kassenzulassung des NIPT „in den engen Grenzen einer Risikoschwangerschaft“ist nicht realistisch: Der Begriff der Risikoschwangerschaft ist nicht abschließend definiert. Die Geschichte der Fruchtwasseruntersuchung als Kassenleistung zeigt, dass eine Begrenzung auf eine kleine Gruppe sogenannter Hochrisikofamilien selbst bei einer Untersuchung mit einem Eingriffsrisiko nicht möglich war. Eine individuelle statistische Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Trisomie 21 macht dieses werdende Kind noch nicht zum Risiko, das vermieden werden muss.

II.
Der NIPT hat ein hohes Diskriminierungspotential: Er kann zwar mit höherer Aussagekraft als andere nichtinvasive Untersuchungen berechnen, ob das werdende Kind bspw. eine Trisomie 21 hat. Mit diesem Untersuchungsergebnis ist jedoch keine therapeutische Handlungsoption verbunden. Der Test kann nur den Träger dieses Merkmals identifizieren. Die einzige Handlungsalternative zur Geburt des Kindes mit Behinderung ist der Schwangerschaftsabbruch. Mit der Kassenfinanzierung dieses Tests verbindet sich die Botschaft der Solidargemeinschaft an die werdenden Eltern: Die pränatale Suche nach Trisomie 21 und anderen Trisomien ist medizinisch sinnvoll, verantwortlich und sozial erwünscht. Damit sagen wir ihnen zugleich: Ein Kind bspw. mit Trisomie 21 ist ein vermeidbares und frühzeitig zu vermeidendes Risiko. Eine solche Botschaft steht in Widerspruch zu den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention und zu unse-rem gesellschaftlichen Konsens, dass jeder Mensch eine unverlierbare Würde hat.

III.
Der NIPT als Kassenleistung wird das Recht der Frauen, sich selbstbestimmt für oder gegen pränataldiagnostische Untersuchungen zu entscheiden, nicht stärken. Er wird die Erklärungsnöte der werdenden Eltern noch erhöhen, die sich gegen diesen Test und andere gezielte vorgeburtliche Untersuchungen bzw. für ihr Kind mit Behinderung entscheiden. Psychosoziale Beratung kann nicht im Beratungsgespräch einen ethischen Diskurs der Gesellschaft über den NIPT und dessen zwiespältige Folgen ersetzen.

IV.
Aus unserer Sicht fehlt die Grundlage für die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Der nichtinvasive Pränataltest hat keinen medizinischen Nutzen. Er kann weder die Gesundheit der schwangeren Frau noch des werdenden Kindes erhalten, wiederherstellen oder bessern (§ 1 Abs. 1 SGB V). Dies gilt auch für die Fruchtwasseruntersuchung, wenn sie für die Suche nach Trisomien eingesetzt wird.

V.
Es kann nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen sein, allen Frauen einen gleichen Zugang zu einer medizinischen Leistung zu gewähren, deren Zielset-zung in hohem Maße diskriminierend ist.

Selbstbestimmte Norm

Meine persönliche Erfahrung mit bzw. bewusste Ignoranz von Pränataldiagnostik während meiner Schwangerschaften hatte ich in dem Blogbeitrag „Selbstbestimmung, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ bereits formuliert. Hier zitierte ich das von mir sehr geschätzte Buch von Kirsten Achtelik „Selbstbestimmte Norm“ und einen mir wichtigen Satz aus dem Buch: „Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden!“ Den Gedanken möchte ich nun aufgreifen, denn dieser Satz schien mir immer wieder in verschiedenen Gesprächen irgendwie unpassend zu sein, zumal ich z.B. Pränataldiagnostik nicht etwa ablehnte, weil ich so viel wusste, sondern weil ich mir schlicht gar keine Gedanken darüber gemacht habe und einfach mit einem Urvertrauen in mich und meine ganze Welt die Schwangerschaften erlebte. Wenn ich diesen Satz richtig verstanden habe, dann suggeriert er, dass Schwangere sich bewusst gegen einen Pränataltest (auf z.B. Trisomie 21) entscheiden würden, wenn sie zum einen Bescheid wüssten darüber, dass die meisten Behinderungen während der Geburt oder im Laufe des Lebens eintreten (also die sogenannte Garantie auf ein gesundes Kind sowieso keiner hat) bzw. wenn die werdenden Eltern nur genug Wissen über ein Leben mit Kindern mit Down Syndrom hätten (also wüssten, wie glücklich betroffene Menschen und Familien sind).

Verantwortung wird zu einem individuellen Problem gemacht

Beiden Argumenten wird (vielleicht zurecht?) immer widersprochen: Man wisse, dass man keine Garantie auf ein gesundes Kind hätte, aber zumindest sei man schon einmal beruhigt, wenn man Trisomien ausschließen könne, heißt es oft. Und außerdem kenne man eine Familie x, die mit ihrem Kind mit Trisomie 21 völlig überfordert sei. Selbstverständlich kenne auch ich viele überforderte Familien, einschließlich meiner eigenen (und bin auch häufig genervt von dem Argument, dass auch Familien mit gesunden Kindern oft überfordert sind.). Typische Elternthemen wie z.B. Verantwortung, Grenzen, Ernährung, Schlaf, Wut/Gewalt/Trotz, Geschwisterbeziehung, Freunde, usw. sind einfach noch viel viel komplizierter mit einem Kind mit einer geistigen Beeinträchtigung. Wahnsinnig kompliziert, wahnsinnig anstrengend. Viele Eltern berichten mir oft, sie seien so froh, wenn die Kleinkindphase bei ihren Kindern vorbei ist und die eigenen Kinder endlich „vernünftig“ sind oder endlich sagen können, was sie brauchen oder was ihnen weh tut. Bei einem Kind mit einer geistigen Beeinträchtigung können sich bestimmte Entwicklungsstufen aber jahrelang hinziehen, manchmal werden sie auch gar nicht erreicht. Es ist unglaublich hart, das als Eltern anzunehmen und zu akzeptieren. Nicht, weil man ein tolles, schlaues Kind wollte, sondern, weil einem Jahr für Jahr der lebenslange Begleitungsbedarf des Kindes immer bewusster wird. Dieses Kind wird seinen eigenen selbstbestimmten Weg nur mit viel Hilfe gehen können, meist mit der Hilfe der Eltern.

Vor diesem noch schwierigeren Familienalltag, vor der eventuell noch schwierigeren Vereinbarung von Arbeit/Kindern und dieser lebenslangen Verantwortung haben natürlich fast alle Menschen (meist Frauen, die genau das zum großen Teil immer allein stemmen) Angst. Das finde ich absolut nachvollziehbar. Diese Angst begleitet auch mich. Diese Angst wird auch nicht weniger, wenn in irgendwelchen Inklusionssongs niedliche, lachende Kinder mit Trisomie 21 von der Buntheit der Welt singen.

Meine Überforderung ist nicht mein persönliches Versagen, sondern politisches Versagen

In ihrem Buch macht Kirsten Achtelik einige Vorschläge, was getan werden könne, um der Tendenz zu einer immer weiteren Normalisierung von selektiver Diagnostik und anschließenden Abtreibungen entgegen zu wirken, u.a.“Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes! Es ist wichtig […] Teilhabe für alle an allem zu ermöglichen und Normen, Vorurteile und Diskurse zu verändern. […] Wir alle sind auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Sowohl Feministinnen als auch Behindertenrechtsaktivistinnen haben ein Interesse daran, diese scheinbar privaten Bedürfnisse zu politisieren und zu einem zentralen Bestandteil gemeinsamer politischer Auseinandersetzungen zu machen.“

Den Kampf gegen immer ausgeklügeltere Pränataldiagnostik (auf Kassenleistung) möchte ich nicht kämpfen. Hier sind wirtschaftliche Interessen einfach zu mächtig. Aber ich möchte mich meinen Ängsten stellen. Und Frauen ermutigen es auch zu tun. Sie sind nicht allein. Wir sind viele.

Gemeinsam können wir unsere Überforderung heraus schreien und bei jeder Gelegenheit Teilhabe von allen an allem fordern. Nur Teilhabemöglichkeiten von allen an allem können die massenhaften Abtreibungen von werdenden Kindern mit Trisomie 21 verringern.

Unser Lebensthema: Kommunikation und sozial-emotionale Entwicklung

Im Mai 2018 begutachtete ein Sonderpädagoge Anatol (6) in der Kita und beschrieb seinen Entwicklungsstand im Bereich Sprache folgendermaßen: „Im Entwicklungsbereich Sprache zeigt Anatol insgesamt eine deutliche Entwicklungsverzögerung im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern. Anatol kommuniziert vorwiegend mit einfachen Einwortäußerungen, nutzt jedoch teilweise auch komplexere Aussagen mit bis zu drei Wörtern. Dabei verwendet er neben Nomen auch Verben und Füllwörter. Anatol ist dabei wirksam, auch durch das Nutzen von nichtsprachlichen Mitteln wie Gesten. Bezugspersonen zieht er zu sich und zeigt durch Stupsen oder Führen seine Bedürfnisse an. Für genauere Informationen ist er auf die Interpretationen und Nachfragen von Bezugspersonen angewiesen. Die Kommunikation gestaltet sich mit den anderen Kindern schwieriger, da diese den aktiven ausgleichenden Anteil der Kommunikation mit Anatol nicht erfüllen können. Insgesamt ist Anatol sehr kommunikativ und lässt sich auch von misslungener Kommunikation nicht abschrecken. Sein Wortschatz ist für seine Kommunikation tragfähig und umfasst wichtige Begriffe und häufig verwendbare Verben und Hilfswörter. Seine Aussprache ist relativ schwer verständlich, ein sichtbarer Kontext sehr hilfreich. Eine Reihe phonologischer und phonetischer Prozesse in Verbindung mit einem die Artikulation erschwerenden Tonus im Mundbereich machen seine Aussprache undeutlich und verwaschen. Im Bereich des Sprachverständnisses kann Anatol einfache Aussagen mit deutlichen Kernaussagen einfache Informationen entnehmen und diese in Handlung umsetzen. Komplexere Fragen und abstrakte Aussagen kann er nur schwer dekodieren. Ein sichtbarer Kontext und eine Unterstützung durch Gesten sind hilfreich. […] „

„Die Kinder beziehen ihn ein wegen seiner Neigung die Rolle des „Gruppenkaspers“ zu besetzen.“

Weiter heißt es da: „Anatol erscheint im Bereich der sozialen Entwicklung und emotionalen Entwicklung insgesamt deutlich nicht altersgemäß entwickelt. Besonders in der sozialen Interaktion zeigt er deutliche Entwicklungsdefizite verglichen mit gleichaltrigen Kindern. Es fällt ihm schwer mit allen Kindern der Kita auf allgemein akzeptierte und konventionelle Art und Weise Kontakt aufzubauen, meist greift er auf weniger produktive Strategien zurück. Anatol geht dabei wenig methodisch zu, phasenweise boxt und tritt er jedes Kind, an dem er vorbei geht. Dabei scheint es ihm nicht um eine Verletzung zu gehen, er scheint seine Wirksamkeit in seinen Handlungen auszutesten. Beim Anziehen vor dem Freispiel in der Hospitation hält er so z.B. einen deutlich jüngeren Jungen davon ab, sich umzuziehen, indem er ihn durch leichte Tritte daran hindert auf seinen Garderobenplatz zu gelangen. In Konflikten mit anderen Kindern, etwa im Streit um Spielzeug, greift er relativ schnell auf körperliche Strategien zurück, die er ausdauernd anwendet. Wird er daraufhin zurechtgewiesen, gelingt es ihm nur eingeschränkt, sein Fehlverhalten einzusehen. Trotzdem schafft er es mit Hilfe der Erzieher, sich zu entschuldigen, auch Anzeichen für Scham und Ertapptfühlen sind sichtbar. Anatol ist ein fröhlicher Junge, der durch seine Gesamtpersönlichkeit und besonders auch in Interaktion und unter Aufsicht von Erwachsenen, die ihm im Bereich der sozialen Interaktion helfen, das Gruppengeschehen mit seiner Art bereichert. Die Kinder beziehen ihn wegen seiner Fröhlichkeit und auch wegen seiner Neigung die Rolle des „Gruppenkaspers“ zu besetzen, in ihre Handlungen mit ein und lachen viel und oft mit ihm.“

 

„Anatol gerät oft in Konfliktsituationen.“

In einem aktuellen Entwicklungsbericht der Kita von Februar 2019 heißt es: „Anatols Wortschatz ist viel größer geworden und er spricht mittlerweile Mehrwortsätze. Die Kinder verstehen ihn besser und fangen an sich mit ihm verbal zu unterhalten. Seit ca. 4 Wochen benutzt er seinen eigenen Namen und spricht ihn verständlich aus. Auch Verben setzt er immer häufiger ein. Anatols Sprechfreude hat deutlich zugenommen. Im Morgenkreis erzählt er so gut er kann auch von seinen Wochenenderlebnissen und freut sich sehr darüber, dass es von Mal zu Mal besser klappt. […]
Alle Kinder in seiner Gruppe mögen ihn sehr gerne und akzeptieren ihn so wie er ist. Viele Kinder aus der Gruppe haben zur Zeit andere Interessen als Anatol, so dass er oft mit seinen Spielideen nicht so gut ankommt. Anatol mag sehr gerne toben oder auch raufen, was bei den Jungs zur Zeit nicht so angesagt ist. Die Mädchen aus seiner Gruppe beziehen ihn häufig in ihr Rollenspiel ein und er kann mit ihnen dann im Freispiel „Vater, Mutter, Kind“ spielen oder mit ihnen Höhlen bauen. Die Jungs in seiner Gruppe spielen zur Zeit gerne Konstruktionsspiele. Anatol versucht immer wieder mit Unterstützung der Erzieher dort mitzumachen. Er zeigt dabei aber nicht soviel Geduld.
Anatol ist ein hilfsbereites Kind und sieht sofort wenn jemand Hilfe braucht. Wenn z.B. andere Kinder ihre Stifte nicht angespitzt haben, bemerkt er es sofort und spitzt diese für sie ohne Aufforderung an. Sein Essen teilt er auch gerne mit den Kindern.
Anatol gerät oft in Konfliktsituationen. Oft nimmt er nicht die Grenzen der anderen wahr oder testet diese aus. So schmeißt er z.B. die gebauten Sachen der anderen um oder nimmt ihnen ihre Sachen weg. Er freut sich über die Reaktion der Kinder und fängt im ersten Augenblick an zu lachen. Ohne Unterstützung der Erzieher schafft er es noch nicht die Situation zu verstehen und solche Konflikte zu beenden. Anatols Frustrationstoleranz ist größer geworden. Wenn nicht sofort alles klappt, versucht er es inzwischen noch ein zweites Mal und kann dieses viel besser aushalten. Durch Anatols fröhliche Art ist stets eine gute Stimmung in der Gruppe.“

Kommunikation und die damit einhergehende sozial-emotionale Entwicklung bleiben unser Lebensthema. Hoffentlich erhält Anatol seine Kommunikations- und Sprechfreude. Seit einigen Wochen will er morgens nicht mehr so gern zur Kita wie früher, jetzt will er jeden Tag zum Handballtraining. Zusammen toben und Sport machen gefällt ihm viel besser als zusammen lernen oder spielen.

Anatol und Liljana im Januar 2019

Gespräch

Ich: „Ich wünsche mir, dass wir nett und liebevoll zueinander sind.“
Sie: „Du willst immer nur Friede, Freude, Eierkuchen.“
Ich: „Es geht mir nicht um ständige Harmonie. Aber du brüllst mich permanent an, beschimpfst mich oder schreist Ich-hasse-dich. Das macht mich richtig fertig. Eine solche Kommunikation halte ich nicht aus und möchte nicht so leben. Ich will, dass wir in Ruhe miteinander sprechen.“
Sie: „Das liegt daran, dass Du mich immer ändern willst. Du willst, dass ich anders bin. Du willst, dass ich Fahrrad fahre obwohl ich Videos schauen will. Du willst, dass ich Hühnersuppe esse, obwohl ich lieber etwas anderes esse. Du willst, dass ich nett zu irgendwelchen Leuten bin, obwohl ich sie gar nicht kenne. Du willst, dass ich mich für alles begeistere so wie du… Theater, Bücherhalle, Handball,… Aber das tue ich nicht!“
Ich: „Ich will Dich nicht ändern. Ich liebe Dich so wie Du bist. Aber wir wohnen hier zusammen, auch ich möchte mich hier in der Familie wohl fühlen und ab und zu Gemeinschaft mit Euch erleben. Ich mache gerne Ausflüge, ich freue mich über gutes Essen und ich freue mich wenn jemand mit mir Sport treibt. Ich kann nicht den ganzen Tag in der Wohnung hocken. Auch kann ich den gesamten Haushalt nicht allein schaffen. Dafür brauche ich ab und zu Eure Hilfe.“
Sie: „Du willst immer, dass ich aufräume und helfe, obwohl Anatol nie aufräumt und hilft.“
Ich: „Du weißt, dass Anatol viele Dinge noch nicht versteht. Ich versuche ihn immer ins Aufräumen und Saubermachen einzubeziehen. Oft gelingt es mir nicht. Er hat seinen eigenen Kopf.“
Sie: „Ich habe auch meinen eigenen Kopf. Bei mir wird das nicht akzeptiert.“
Ich: „Ich will, dass Du glücklich bist.“
Sie: „Das kann nicht sein. Dann würdest Du mich nicht ständig quälen und mir das Handy wegnehmen.“
Ich: „Das Handy nehme ich Dir weg, weil ich Dich liebe und ab und zu mit Dir etwas machen möchte. In der realen Welt. So richtig mit dem Körper und so. Und, weil ich ab und zu reden möchte. So reales Reden, von Mensch zu Mensch.“
Sie (genervt): „Was willst Du denn immer reden? Reden, reden, reden.“
Ich: „Erzähl mir, was ihr heute in der Schule gemacht habt?“
Sie: „Nichts.“
Ich: „Was gab es zum Mittag?“
Sie: „Nudeln“
Ich: „Hast Du Dich mit jemanden gestritten?“
Sie: „Ja. Aber wir haben uns dann wieder vertragen.“
Ich: „Worum ging es denn da?“
Sie: „Hab ich schon wieder vergessen.“
Ich: „Hast Du Hausaufgaben auf?“
Sie: „Nein. Fertig geredet? Kann ich jetzt mein Handy wieder haben?“
Ich: „Nein. Lass uns Ubongo spielen.“
Sie: „Keine Lust.“
Ich: „Worauf has Du Lust?“
Sie: „Auf Schwimmbad.“
Ich: „Es ist 19 Uhr. Morgen ist Schule. Du musst gleich ins Bett.“
Sie: „Warum fragst Du mich worauf ich Lust habe, wenn wir es eh nicht machen?“