Vielfalt als Last oder das asoziale Bildungsbürgertum

Die meisten Eltern tun alles, damit ihre Kinder gut gebildet sind. Viele wollen auch, dass ihr Nachwuchs in Zukunft selbstbewusst und zielstrebig der Konkurrenz standhalten kann und vermitteln damit mehr oder weniger unbewusst ein für sie heute ganz natürlich gewordenes Wettbewerbsdenken. Oliver Nachtwey forscht derzeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung zu Arbeit, Ungleichheit und Demokratie und sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“

Genau das erlebe auch ich in meinem Umfeld quasi täglich: eine Freundin konnte z.B. kaum glauben, dass es heute immer noch Schulen gibt, die unseren Sohn mit Trisomie 21 nicht beschulen möchten. Gleichzeitig beschwert sie sich darüber, dass ein Kind mit Behinderung aus der Nachbarschaft an der von ihr ebenfalls angewählten (integrativen) Wunschschule aufgenommen wurde während ihre eigene Tochter nur die Zweitwunschschule besuchen darf. Es sei total ungerecht, dass das behinderte Kind bevorteilt wurde. Dass dieses Kind gar keine andere Wahl hatte, sieht sie nicht. Ein anderer Freund beschwerte sich neulich, dass ausgerechnet in der Klasse seines Sohnes ein „verhaltensauffälliges“ Kind sei. Dass sein eigener Sohn große Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Kindern hat, sei ja etwas ganz anderes. Meine Cousine, Geschichts- und Englischlehrerin, derzeit Referendarin in einem Gymnasium, sagte neulich zu mir: Man müsse mindestens drei behinderte Kinder haben, um als Referendarin in der gewünschten Schule zu landen. Als normaler Mensch hat man jeden Morgen einen einstündigen Anfahrtsweg zur zugewiesenen Schule. Das sei nicht gerecht. Dass Mütter von behinderten Kindern jede Menge zusätzliche Wege haben, sieht sie nicht. Und auch im Bündnis für Inklusion kommen immer wieder Diskussionen darüber auf, ob Inklusion denn überhaupt Sinn macht, denn „Was können nichtbehinderte Kinder denn schon von behinderten Kindern lernen?“. Oder anders ausgedrückt: Was können die denn mehr als Stören? Und erst letzte Woche schickte mir eine befreundete Sport- und Geschichtslehrerin ein Video, in dem bei einem Laufwettkampf mehrere Kinder mit Down Syndrom Hand in Hand gemeinsam durch die Ziellinie liefen. Sie fand das total rührend. Ist es auch. Aber für die meisten gehen solche Videos über einen inspiration porn nicht hinaus.

All diese meine Bekannten und Verwandten betonen immer wieder die Selbstverständlichkeit von Inklusion. Einige sprechen sogar laut und überzeugt mir gegenüber davon, dass behinderte Kinder in der Klasse die sozialen Kompetenzen der MitschülerInnen fördern würden. Dass für sie Inklusion aber doch nicht so selbstverständlich ist, wird mir schon darin deutlich, dass sie immer wieder „Bewunderung“ dafür äußern, wie ich „das alles“ mit einem behinderten Kind so schaffe. Viele haben wenig Vorstellung von der Realität des Alltags mit einem behinderten Kind. Im Alltag kann ich sehr viel selbst organisieren, beeinflussen, „schaffen“. Ich kann mein eigenes Leben und meine Rolle als Mutter selbst reflektieren, ändern und meine eigenen Momente der Entspannung finden.
Womit ich mich jedoch absolut hilflos fühle, ist die z.T. versteckte, z.T. aber auch explizite Ablehnung von Kinder mit Behinderung in unserem Bildungssystem.

Wenn die Hamburger Stadtteilschulleiter in ihrem Positionspapier von der Vielfalt als Last sprechen, also von Inklusion als große „Bürde“, dann fühle ich mich – selbst unter links-grün-liberalen Intellektuellen – einem System ausgeliefert, in dem überall großartig von Vielfalt als Reichtum gesprochen wird, aber, das in Wirklichkeit riesengroße Berührungsängste hat. Dort heisst es: „Den STS-SchülerInnen […] werden die größten Herausforderungen unserer Zeit aufgebürdet […]. Sie sollen dafür sorgen, dass auch SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf und zugewanderte SchülerInnen integriert werden.“.  Auch wenn Eltern von mir wissen wollen, wie unser Sohn denn nun konkret das Lerngeschehen der Klasse bereichern kann, dann fühle ich mich sehr hilflos, weil ich mit einer Frage konfrontiert werde, die ich nicht beantworten will, weil sie im Kern für mich absolut asozial ist. Verweise auf die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Recht auf Bildung und Teilhabe scheinen mir für das Gegenüber in solchen Momenten völlig irrelevant solange die eigene Tochter oder der eigene Sohn nicht am Lernerfolg gehindert werden. Die meisten bildungspolitischen Aktivisten dieser Stadt sind davon überzeugt, dass man die Möglichkeiten der leistungsstarken und leistungsorientierten SchülerInnen an den Stadtteilschulen verbessern muss. Diese würden dann die angespannte Situation in den Gemeinschaftsschulen entspannen, meinen sie. Ich denke dagegen, dass sich damit die STS-Leiter und ihre LehrerInnen noch mehr (Leistungs-) Druck aussetzen. Entspannen würde die Gemeinschaftsschulen stattdessen ein ganz anderer Ansatz von Bildung, von handlungsorientiertem und sozialem Lernen, von Gemeinschaft, Wertschätzung von Andersartigkeit und Solidarität.

Auch bei Eltern von Kindern mit Trisomie 21 ist diese Lebenslüge verbreitet: das Geschwisterkind sollte möglichst auf das Gymnasium gehen. Man will ja schließlich zeigen, dass man zum weltoffenen Bildungsbürgertum gehört und das geht eben nur mit Abitur und Auslandsaufenthalt. Gleichzeitig wünschen sie sich für ihr Kind mit Trisomie 21 die Gemeinschaftsschule – möglichst mit vielen ruhigen und sozial kompetenten SchülerInnen mit einer Gymnasialempfehlung, also möglichst keine STS in einem sozialen Brennpunkt. Denn sie können ja nichts für die Beeinträchtigung ihres Kindes während die Eltern dieser Kinder dort sich ihre Misere ja schließlich selbst eingebrockt hätten. Sie predigen täglich Vielfalt und Chancengerechtigkeit zum Wohle ihres Kindes mit Behinderung. Aber der Schüler, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist oder die traumatisierte Schülerin seien ihnen völlig fremd und machen Angst. Irgendwo sollten die unbedingt integriert werden, ihren Platz bekommen und gefördert werden. Aber das müsse ja nicht unbedingt in der Klasse ihres behinderten Sohnes sein. Sie hätten schon genug Probleme.

Ich liebe meine Kinder. Sie sind wundervoll. Und ich habe manchmal große Angst vor der Zukunft.

Urlaub in Fedderwardersiel

Endlich Urlaub. Wir waren im Juli in Fedderwardersiel in Niedersachsen und hatten eine ganze Woche Nordsee-Traum-Sonnenschein. Fedderwardersiel hat den einzigen Fischerhafen in Butjadingen mit mehreren Fischerbooten und einer Krabbenfischerei. Die benachbarte Deichschäferei hält auf etwa dreizehn Kilometer Deichlinie 500 Schafe, die für die Festigkeit der Grasnarbe sorgen, damit der Deich den schweren Anforderungen der Sturmfluten standhalten kann. Es war wunderschön und Sascha und ich haben uns fast gar nicht gestritten. Mit Lili habe ich die erste Wattwanderung meines Lebens gemacht und Krabben und Garnelen gefischt. Auch Anatol war vom Watt, dem vielen Schlick, den Würmern und Krabben ganz begeistert.

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Radikalisierung in der Mitte, Palastbewohner und das gute Gewissen

Joachim Nikolaus Steinhöfel, Hamburger Rechtsanwalt und beliebter Großkotz, postet am 7. Juli auf facebook:
„Wer rund um die Uhr mit Allah und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen verschleiert, Wein und Musik für sündhaft hält, die europäische Literatur, den europäischen Geist und die europäische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Franzose nie den Louvre betreten, nie ein Konzert, nie eine Oper besucht hat und stattdessen glaubt, die Welt mit beduinischen Verhaltensvorschriften aus dem 7. Jahrhundert missionieren zu müssen, ist kein Europäer, auch wenn seine Eltern in Europa geboren sein sollten. Es sind Fremde, denen man auch in zweiter oder dritter Generation die gepflegte Fremdheit durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit autochthonen Europäern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie in ihr leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse ethnisch-psychisch-soziale Fremdheit. Es gibt längst überall in Westeuropa Gebiete, in denen man als Araber geboren wird.“ Michael Klonovsky

Dieses Zitat (bekam übrigens 586 Likes auf facebook, 149 mal geteilt, auch von Politikern aller Parteien) ist hochinteressant. Es beschreibt den einfachen und leicht verständlichen Aufbau eines Feindbildes, das derzeit große Zustimmung erfährt. Es schafft gleichzeitig ein vermeintliches Wir-Gefühl: WIR sind gebildet, WIR kennen UNSERE Literatur und Kunst, WIR schätzen den europäischen Geist, WIR lieben die Oper. Es transportiert wohl etwas, das viele Menschen vermissen, etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl, etwas wie ein Gefühl von Vertrautheit und Anerkennung, von Übersichtlichkeit.
Wer mit solchen Feindbildern und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld bezahlt als Männern, gleichgeschlechtliche Ehe in Schulbüchern für sündhaft hält, die Weltliteratur, den Weltgeist und pluralistische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Deutscher nie in Syrien war, nie ein Trommelkonzert in Ghana erlebte, nie einen Schneesturm in Sibirien oder vergleichbares überstanden hat und stattdessen glaubt, ein Land mit einem Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert sei innovativ und könne auf aktuelle gesellschaftliche Probleme reagieren, ist dagegen für mich kein ernst zu nehmender Mitbürger. Es sind Angsthasen, denen man auch in zweiter und dritter Generation die Angst vor Vielfalt und Pluralität durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit allochthonen Bürgern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie mit ihnen leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse Sehnsucht nach einer vermeintlich ethnisch-psychisch-sozialen Einheit. Es gibt längst überall in der Welt Gebiete, in denen man als Deutscher geboren wird.

In „Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie“ schreibt Herbert Schnädelbach: Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart. Slavoj Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen. Er ist der Ansicht, dass Ideologien heute nicht mehr aufgrund eines fanatischen Engagements funktionieren, sondern vielmehr umgekehrt aufgrund einer inneren Distanz und Gleichgültigkeit, die das symbolische Mandat des Subjekts nicht ernst nehme.

Wir Palastbewohner glauben die Welt draussen zu kennen – aber in Wahrheit haben wir keine Ahnung. Wir können uns ein Leben in Armut und Misere nicht einmal mehr vorstellen, geschweige denn ein solches Leben aushalten. Darum hat auch die Solidarität mit den «Armen» oftmals etwas so Aufgesetztes, Selbstgefälliges. Im Palast wohnen und mit den anderen mitfühlen – in dieser Position hat man beides: das Geld und das gute Gewissen. Man spendet den Flüchtlingen alte, zu kleine Klamotten und redet sich damit ein, sein solidarisches Soll erfüllt zu haben. Abscheulich!

Wir müssen endlich diesen Steinhöfels und Co. den Wind aus den Segeln nehmen. Sie sind es, die die europäische pluralistische Wertegemeinschaft schwächen mit dem ständigen Schüren von Angst vor dem vermeintlich Fremden. Sie sind mit ihrer dauerhaften Verteidigung einer antidemokratischen „reinen“ Leitkultur diejenigen, die Mauern bauen und einer solidarischen Gemeinschaft schaden.

Lili tut so als wär sie behindert

Das Thema scheint Lili (6) gerade sehr zu beschäftigen. Neulich malte sie Behinderte und gestern spielte sie behindert. Sie stellt wenig Fragen. Sie hat ihre Art, sich damit auseinanderzusetzen. Wir fuhren also gestern ins Schwimmbad und ich wollte noch kurz bei der Post anhalten, um zwei Briefe loszuwerden. Vor der Post gab es dann aber keinen freien Parkplatz. Also tat ich etwas, was ich total verabscheue: ich stellte mich auf den Behindertenparkplatz. Als ich aus dem Auto stieg, stellte mich auch gleich der Mann aus dem Nachbarauto zur Rede und fand es unmöglich, dass ich mich auf diesen Parkplatz stellte. Ich entschuldigte mich verlegen und sagte, dass ich nur eine Minute schnell die Briefe wegbringe und gleich zurück sei. Dann rannte ich schnell in die Post, gab die Briefe hastig ab und rannte wieder zurück zum Auto.

Im Auto sagte Lili: „Mama, mach dir keine Sorgen. Während du weg warst habe ich so getan als wäre ich behindert.“

Ich: „Wie denn? Zeig mal!“

Lili setzte sich unbeweglich auf. Sie erschlaffte ihre gesamten Gesichtsmuskeln und ließ, ihr Kinn nach unten fallend, den Mund offen stehen.

Die Angst überwinden – Fortsetzung

Drei Tage Kita-Reise an die Ostsee. Wieder beim Abschied heimlich geweint. Anatol (4) ist noch so klitzeklein. Die Kita-Leitung nennt ihn liebevoll den „Leisen Übeltäter“, weil er sich immer unbemerkt, still und leise davon schleicht und Blödsinn macht. So hatte sie ihn einmal gerade noch rechtzeitig erwischt als er über den Gartenzaun der Kita kletterte und das Weite suchen wollte.

Drei Tage ohne Mama, Papa und Lili. Für ihn kein Drama. Für die ErzieherInnen wahrscheinlich eine Herausforderung. Und für mich eine Möglichkeit, Loslassen zu üben. Das ist wirklich schwer.

Gestern den ganzen Tag Bücher mit Lili gelesen, im Schwimmbad und mit Papa im Restaurant gewesen. Und dann finde ich ein Brief von ihr an ihren Bruder im Briefkasten. Und wieder ein bisschen Weinen. Es geht uns gut.

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Inklusion in der Schule heißt Verantwortung übernehmen für jedes einzelne Kind

Gestern brach eine Diskussion über einen Twitter-Tweet von Hamburger Schulsenator Ties Rabe los. Er äußerte sich kurz zu einem Artikel im Hamburger Abendblatt, in dem die Situation eines zehnjährigen Jungen mit dem sogenannten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung beschrieben wird, den keine Schule in HH mehr beschulen möchte: „Zeitung: Kind prügelt dauernd, greift Lehrer an, hat Soft-Pistole dabei. Daran soll also die Schulwelt „Schuld“ sein. Niemals die Eltern?“.

Die Schuldfrage zu stellen sei, wie einige Follower kommentierten, zynisch und lösungsfern. Ich selbst wage sogar zu behaupten, dass wir in diesem Tweet die Kernproblematik der Inklusion in HH und vielleicht in ganz Deutschland treffen. Ich denke ein Großteil der PädagogInnen lässt sich vielleicht noch auf die behinderten SchülerInnen ein, solange sie zahm sind, nicht stören und man den SchulmitarbeiterInnen irgendeinen „Leitfaden“ in die Hand drückt, wie man mit denen umgehen soll und welchen Stoff man denen anbieten kann/soll. ABER die verhaltensauffälligen, anstrengenden SchülerInnen, die sollen bitteschön irgendwo anders hingehen und erstmal „richtig erzogen“ werden. Die Problematik liegt also darin, dass sich Schule und ihre Akteure aus der Verantwortung ziehen und wieder – wie einst im harten Hamburger Schulstreit – die Schmuddelkind-Karte zücken: prügelnde SchülerInnen in der Klasse. Nein Danke. Systemsprengend, viel zu anstrengend.

Selten haben Eltern von Kindern mit den sogenannten Förderschwerpunkten Lernen oder emotional-soziale Entwicklung die Ressourcen, sich für ihr Kind einzusetzen, für das Recht des Kindes auf chancengleiche Schulbildung zu kämpfen. In diesem einen Fall hatten die Eltern Kraft und Mut, und sofort werden die Geschütze hoch gefahren und die Eltern mit einer völlig unnötigen Schuldfrage konfrontiert, um die es niemals gehen darf.

Stattdessen muss es in der inklusiven Schule grundsätzlich immer um Verantwortung gehen. Verantwortung für jedes einzelne Kind, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten, Behinderungen oder Aufmerksamkeitsbesonderheiten. Kein einziges Kind darf auf der Strecke bleiben.

Der Schlüssel hierin liegt m.E. darin, diese Verantwortung zu verinnerlichen und Top-Down, also ausgehend von der obersten Organisationsebene, vorzuleben. Das erwarte ich von einem Schulsenator, der schulische Inklusion wirklich ernst nimmt.

Inklusion stellt die Machtfrage

Seit November 2015 formiert sich eine neue „Krüppelbewegung“ in Deutschland, meinte kürzlich Andreas Vega in dem Artikel Aufstand der Behinderten.
Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein.

Die Kritik an der derzeitigen Politik wird tatsächlich immer schärfer. Matthias Vernaldi, seit Jahrzehnten großer Berliner Behinderten-Aktivist, sieht das lange Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt: „Vielleicht sollten wir weniger freundlich sein. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politikern sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.“

Selbst Raúl Krauthausen vom Berliner Verein „Sozialhelden“ wird deutlicher: „Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen. […] Inklusion stellt die Machtfrage. Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand.“

Auf die Frage, was eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt bewirken kann, antwortete Vernaldi:
„Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch: Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien. […] Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt: die Krüppel bloggen zwar mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; aber die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut. […] Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons.“

Kein Musterkruppelchen

Lili malt Behinderte

Neulich im Auto.
Lili (6): Mama, wenn wir zuhause sind, dann male ich einen Behinderten.
Ich: Mach doch.
Lili: Ich kann gut Behinderte malen!
Ich: Willst du einen Menschen im Rollstuhl malen oder was?
Lili: Nein, einen Behinderten der gehen kann.
Ich: Und woran erkennt man dann, dass es ein Behinderter ist?
Lili: Das erkennt man. Ich kann ja einen Behinderten neben einem Normalen malen. Dann kannst du den Unterschied sehen.

Zuhause malte sie drauf los. Das hier sind ihre zwei Behinderten:

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Und das ist ein Normaler und ein Behinderter (damit man den Unterschied sieht):

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Ich: Aber Anatol ist doch auch behindert und er hat nicht nur ein Auge?
Lili: Ja Mama. Aber das ist doch nur meine Fantasie. So sehen Behinderte in meiner Vorstellung aus.