Inklusion in der Schule heißt Verantwortung übernehmen für jedes einzelne Kind

Gestern brach eine Diskussion über einen Twitter-Tweet von Hamburger Schulsenator Ties Rabe los. Er äußerte sich kurz zu einem Artikel im Hamburger Abendblatt, in dem die Situation eines zehnjährigen Jungen mit dem sogenannten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung beschrieben wird, den keine Schule in HH mehr beschulen möchte: „Zeitung: Kind prügelt dauernd, greift Lehrer an, hat Soft-Pistole dabei. Daran soll also die Schulwelt „Schuld“ sein. Niemals die Eltern?“.

Die Schuldfrage zu stellen sei, wie einige Follower kommentierten, zynisch und lösungsfern. Ich selbst wage sogar zu behaupten, dass wir in diesem Tweet die Kernproblematik der Inklusion in HH und vielleicht in ganz Deutschland treffen. Ich denke ein Großteil der PädagogInnen lässt sich vielleicht noch auf die behinderten SchülerInnen ein, solange sie zahm sind, nicht stören und man den SchulmitarbeiterInnen irgendeinen „Leitfaden“ in die Hand drückt, wie man mit denen umgehen soll und welchen Stoff man denen anbieten kann/soll. ABER die verhaltensauffälligen, anstrengenden SchülerInnen, die sollen bitteschön irgendwo anders hingehen und erstmal „richtig erzogen“ werden. Die Problematik liegt also darin, dass sich Schule und ihre Akteure aus der Verantwortung ziehen und wieder – wie einst im harten Hamburger Schulstreit – die Schmuddelkind-Karte zücken: prügelnde SchülerInnen in der Klasse. Nein Danke. Systemsprengend, viel zu anstrengend.

Selten haben Eltern von Kindern mit den sogenannten Förderschwerpunkten Lernen oder emotional-soziale Entwicklung die Ressourcen, sich für ihr Kind einzusetzen, für das Recht des Kindes auf chancengleiche Schulbildung zu kämpfen. In diesem einen Fall hatten die Eltern Kraft und Mut, und sofort werden die Geschütze hoch gefahren und die Eltern mit einer völlig unnötigen Schuldfrage konfrontiert, um die es niemals gehen darf.

Stattdessen muss es in der inklusiven Schule grundsätzlich immer um Verantwortung gehen. Verantwortung für jedes einzelne Kind, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten, Behinderungen oder Aufmerksamkeitsbesonderheiten. Kein einziges Kind darf auf der Strecke bleiben.

Der Schlüssel hierin liegt m.E. darin, diese Verantwortung zu verinnerlichen und Top-Down, also ausgehend von der obersten Organisationsebene, vorzuleben. Das erwarte ich von einem Schulsenator, der schulische Inklusion wirklich ernst nimmt.

Die beste Schule für das Kind?

„Ja, schulische Inklusion ist ein Menschenrecht, sie ist wichtig und notwendig, alle sollen gemeinsam lernen können. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Aber ist das wirklich das Beste für Ihr Kind mit Down Syndrom der oder die einzige Schülerin mit einer geistigen Behinderung unter ausschließlich „normal entwickelten“ in der Klasse zu sein?“ Das ist eine Frage, die ich als Mutter eines Kindes mit Down Syndrom von anderen Eltern häufig gestellt bekomme.

Abgesehen davon, dass die Frage anmaßend ist (Ich frage ja auch niemanden, ob sie bei ihrer Schulwahl tatsächlich das Wohl ihres Kindes im Auge haben.), entsteht diese Frage entweder aus einem tiefen Leistungs- und Vergleichsdenken heraus oder aus Mitleid für das arme „benachteiligte“ Kind. Viele Menschen haben ein solches Denken leider verinnerlicht, auch wenn sie es oft nicht bös meinen. Ich habe aber das große Glück, dass ich mich neben all den anfänglichen Sorgen und Ängsten um unseren Sohn, frei machen konnte von diesem schrecklichen Leistungsdenken, von Vergleichen mit anderen Müttern und deren Kindern und von unnötigem Mitleid. Trotzdem trifft mich die Frage natürlich direkt ins Herz. Denn diese Frage stellen sich ja alle Eltern tagtäglich: Was ist das Beste für mein Kind? Und wer weiß das?

Das Leben mit unserem Sohn mit Down Syndrom ist überraschend. Wir wissen nicht, wie er sich weiter entwickeln wird und, was auf uns noch zukommt. Dadurch beobachte ich ihn noch genauer, wie er am besten lernen könnte, wie und was er versteht, wie er sich Abläufe merkt, wie er mit anderen Kindern und Erwachsenen umgeht, wie und wann er lautiert oder sogar einzelne Wörter spricht, was er sagen will, wofür er sich besonders interessiert, was ihn ermüdet usw. Ich weiß noch, wie ich mich bei unserer Tochter gefreut habe als sie mir endlich sagen konnte, was ihr weh tut oder was sie möchte wenn sie weint. Wie sehr genieße ich mittlerweile die Gespräche mit ihr. Wie sehr überraschen mich immer wieder ihre klugen Bemerkungen. Die Beziehung zu unserem Sohn mit Down Syndrom entwickelte sich genauso schön, aber auf einer völlig anderen Ebene. Mit ihm kommuniziere ich viel mehr über Mimik und Gestik. Seine Körperhaltung und seine Augen signalisieren mir, wie es ihm geht. Zudem vergisst er schnell und freut sich über (fast) jedes Angebot. Bricht er gerade noch zutiefst traurig zusammen, weil er kein Eis bekommt, so kann er zwei Minuten später völlig selbstverständlich und glückselig sein Wurstbrot essen als ob gerade nichts gewesen ist. Haute er gerade noch zehn Minuten stinksauer an die Kinderzimmertür, weil die großen Mädchen ihn nicht mitspielen lassen wollen, so puzzlet er kurz darauf angeregt und fröhlich mit mir als ob ihm die Ablehnung der Mädchen völlig unwichtig ist. Wenn er spürt, dass man sich für ihn interessiert, wenn man ihm freundlich begegnet und ihm Angebote macht, dann ist er immer dabei und wirkt auf mich extrem ausgeglichen und zufrieden.

Wenn mich also jemand fragen würde, welche die beste Schulform für unseren Sohn wäre, würde ich demnach antworten: eine mit klaren Strukturen (Rhythmus), mit vielen visuellen Anreizen, in der die Lehrer freundlich auf ihn zugehen, nicht ihr „Programm“ durchziehen, sondern ihm viele Angebote machen und ihn dann selbst entdecken lassen bzw. auf seine Signale reagieren. Wenn man sich auf ihn einlässt, versteht man sehr gut, wofür er sich interessiert und was er weiter lernen möchte. Auch würde ich sagen, dass er enorm von anderen Kindern profitiert, Kinder, die er immitiert, die ihn auf ihre Art motivieren, etwas auch zu können. Eigentlich die basalen Lernvoraussetzungen für jedes Kind. Bei einem Kind mit DS sind diese Voraussetzungen nur ganz besonders deutlich, weil es sich eben nicht „kontrollieren“ kann, sondern diese kindliche Neugierde und Affektsteuerung wahrscheinlich immer behalten wird. Für ein „Funktionieren“ in der Gesellschaft mag das von großem Nachteil sein. Als menschliches Charakteristikum ist es bewunderswert. Vor genervten, gestressten, ignoranten oder sogar böswilligen Mitschülern und Lehrern kann ich unseren Sohn nicht bewahren, weder an der Förderschule noch an der Regelschule. Es geht mir auch nicht um einen Schulabschluss oder darum, ihn mir nicht in einer Werkstatt für Behinderte vorstellen zu können. Keineswegs. Es geht mir einzig und allein darum, dass er glücklich ist und bleibt, egal in welchen Institutionen er sich rumtreibt und wie gut oder, ob er überhaupt irgendwann einmal lesen und schreiben kann. Das Wunderbare bei einem Kind mit einer geistigen Behinderung ist nämlich, dass ich mich als Mutter entspannen kann! Ich habe nicht den Druck, mich dafür verantwortlich zu fühlen, dass das Kind das Abitur schafft und einmal studiert. Ich habe ja nicht einmal den Druck, dass das Kind im Zahlenraum bis 100 dividieren können muss. Das Kind MUSS gar nichts, im Gegenteil. Ich freue mich stattdessen über seine Neugierde, Offenheit und jedes einzelne Wort, das er spricht. Und eine Kindheit ohne Können-müssen ist doch die schönste Kindheit, die man haben kann! Durch ihn habe ich auch im Umgang mit unserer Tochter viel gelernt.

Eine Entscheidung für oder gegen eine Schule bzw. für oder gegen Inklusion ist für mich als Mutter keine theoretische Entscheidung und wenig an pädagogischen Konzepten oder Bedingungen geknüpft. Das Recht des Kindes auf inklusive Beschulung steht für mich zwar an erster Stelle. Derzeit sind aber die praktischen Erfahrungen von vielen Hamburger Eltern von Schülern mit DS sowohl an den Förderschulen als auch in der Inklusion ziemlich unbefriedigend. Ich bin so froh, dass ich jetzt keine Entscheidung treffen muss. Würde unser Sohn dieses Jahr eingeschult, dann wäre mein Schulwahlkriterium wahrscheinlich zuerst ein klares „Wir interessieren uns für Ihr Kind! Lassen Sie es uns gemeinsam angehen!“ In erster Linie wäre mir also wichtig, dass man freundlich ist und sich auf ihn einlassen will. So wenig.

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Mehr Sonne und mehr Meer

Letzten Donnerstag haben wir uns spontan entschieden, das Wochenende an der Ostsee zu verbringen. Wir wollten mal raus aus der Großstadt. Glücklicherweise habe ich kurzfristig eine wunderschöne Ferienhütte in Ahrenshoop gefunden. Ein Mietauto ging auch kurzfristig mit günstigem Wochendendtarif klar.
Das Häuschen war herrlich und wir hatten das ganze Wochenende Sonne. Nach tagelangem Regen in Hamburg (hört dieser Regen hier denn nie auf??) haben wir das gebraucht.
Leider hat Anatol auf dem Heimweg eine dicke Erkältung mitgebracht. Und wenn er nicht in die Kita geht, wird Liljana auch immer krank. Heute früh tat ihr ganz plötzlich der Rücken und das Schienbein weh.

Ich (am Mittagstisch): Isst du bitte noch zwei Löffel Reis?
Lili: Sag das nicht! Du bist nicht meine Mutter! Weißt du etwa nicht, wer ich bin? Ich bin… DIE KÖNIGIN DER NACHT! Fürst Sarastro hat meine Tochter Anna entführt. Ich befehle dir, sie zu befreien!
Ich: Und was ist mit dem Reis?
Lili (richtig böse): Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin die Königin der Nacht ….

Das Zauberflöten-Fieber kommt auch noch dazu.

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Schnee

In Sibirien hatten wir viel Schnee. Wir hatten mehr Monate im Jahr mit als ohne Schnee. Es war so kalt, dass der Schnee nicht schmolz und, dass Schnee- und Eisfiguren mindestens von Dezember bis März standen. Es war wunderschön. Die Spielplätze waren in diesen Monaten uninteressant, denn hinter jedem Haus wurde eine Eisrutsche gebaut, die die Kinder dann täglich für mehrere Monate runterrutschten wie die Wilden. Lili rutschte jeden Tag.

Unser erster Winter in Deutschland (2013/14) war warm. Es lag in Hamburg ganze zwei Tage lang Schnee. Lili weinte und wollte zurück nach Russland. Unser zweiter Winter in Deutschland ist nun noch wärmer. Lili sagt, dass die faule Pechmarie gerade bei Frau Holle ist: „Sie soll endlich nach Hause gehen!“

Vor Sylvester waren wir vier Tage bei Großeltern in Brandenburg. Und in dieser Zeit hat es tatsächlich ein klein wenig geschneit. Nicht wirklich sibirische Schneeverhältnisse, aber besser als nix. Ein wenig Schlittenfahren, ein wenig Glück.

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Warum wir uns oft nicht wohlfühlen in Deutschland

Oft werde ich gefragt, ob es ganz ehrlich Dinge gibt, die in Russland besser sind als in Deutschland? Ich antworte meist: sehr viele! Können sich manche Leute nicht vorstellen. Hier nur ein paar Beispiele, die für mich „gute Deutsche“ tun und die man zumindest in Osteuropa so niemals erleben würde:

Neulich hat die Gemeinschaft der Vermieter unseres Wohnhauses beschlossen, dass aus ästhetischen Gründen offene Schuhregale zukünftig im Treppenhaus verboten werden sollen. Alle Mieter wurden daraufhin aufgefordert ihre Schuhregale doch bitte zu entfernen.

Vor ein paar Monaten hat ein Bewohner unseres Hauses (der selbst Eigentümer der Wohnung ist, in der wohnt) beobachtet, wie zwei oder dreimal Fremde ein abgelaufenes Busticket oder einen leeren Getränkekarton in „unsere“ hauseigenen Mülltonnen geworfen haben. Daraufhin wurde in der Eigentümerversammlung beschlossen, monströse abschließbare Mülltonnen zu besorgen, die ruckizucki aufgebaut wurden.

Im Haus existiert eine große Tiefgarage. Jeder Anwohner kann dort einen Stellplatz mieten. Nicht alle Parkplätze sind besetzt, im Gegenteil, es ist noch genügend Platz für andere Fahrzeuge. Es gibt auch einen Fahrradkeller. Dieser ist aber komplett überfüllt. Aus diesem Grund haben wir letzte Woche mal vorsichtig angefragt, ob wir den Fahrradanhänger (der leider nicht durch unsere Kellertür passt, aber trotzdem nicht groß ist) in eine ungenutzte Ecke der Tiefgarage stellen können. Wir haben uns aber schon vorher gedacht, dass „sowas“ „prinzipiell“ „verboten“ ist.

Der kleine Spielplatz unten im Hof ist natürlich nur für die Kinder, die hier im Haus wohnen. Kinder aus dem Nachbarhaus dürfen da nicht rauf.

Der Parkplatz an unserer Kita hat 20 Stellplätze, die ebenfalls gemietet werden können. Davon sind 13 Stellplätze für einen privaten Fahrradladen, 5 für eine Ausbildungsstätte des UKE und 2 für unsere Kita (in die Kita werden täglich 90 Kinder gebracht). In dem Fahrradladen habe ich noch niemals mehr als 5 Personen gesehen, einschließlich die zwei Verkäufer. Zu den Bring- und Abholzeiten der Kita (zwischen 8:30 und 9 Uhr und zwischen 15 und 15:30 Uhr) kommt es natürlich dazu, dass Kita-Eltern auch auf den nicht von der Kita angemieteten Parkplätzen kurzzeitig parken. Und auch wenn die eigenen Parkplätze gerade nicht benötigt werden, lässt der Besitzer des Fahrradladens hier regelmäßig in wenigen Minuten Autos abschleppen. 20 m in die Kita zu gehen und um Entfernung des Autos zu bitten, ist scheinbar absolut unmöglich.

Ich komme nach Hause und eine Nachbarin beschwert sich darüber, dass die Hinz und Kunzt – Verkäuferin (HuK ist das Hamburger Obdachlosenmagazin) vor dem Lidl sich tatsächlich wagt, sie zu grüßen. Unsere Nachbarin will mit solchen Leuten aber nix zu tun haben. Ist das klar!

An unserem Haus entlang führt ein Fußgängerweg plus Radweg. Wenn man von der Stadt mit dem Fahrrad zu uns fährt, muss man ca. 500 m vor unserem Haus die Straße überqueren und den Radweg in entgegengesetzte Richtung fahren. Geister-Radler sind aber trotz ausreichend breiten Wegen in Deutschland sehr unbeliebt. Also werde ich regelmäßig auf dem Heimweg von Wildfremden angemeckert und über die Straßenverkehrsordnung aufgeklärt.

Solche und ähnliche Erlebnisse haben Sascha und ich fast täglich. In diesen Momenten fühlen wir uns hier sehr fremd und finden Deutschland einfach zum Kotzen.

Mein Unwort des Jahres 2013: Lampedusa-Heinis

Von Juni bis Ende November 2013 fanden 80 Männer, die auf ihrer Flucht aus Libyen auf Lampedusa gestrandet waren, dank Pastor Sieghard Wilm in der St. Pauli Kirche in Hamburg Ottensen ein Dach über dem Kopf. Die Stadt Hamburg fühlte sich zunächst nicht zuständig für diese Flüchtlinge. Nach der großen Tragödie im Oktober vor Lampedusa, immer häufigeren Demonstrationen für das Bleiberecht der 80 Männer und Hartnäckigkeit des St. Pauli-Pastors, gelang es, dass der Senat nun ausgelagerte Wohncontainer als Winterunterkünfte bereitstellte, so dass die Männer nicht mehr auf dem Kirchenboden schlafen müssen, sondern Anfang Dezember in diese Containern, die sich ebenfalls auf dem Kirchengelände befinden, umziehen konnten. Die humanitäre Ebene ist geklärt, und das freut uns, sagte Wilm zur aktuellen Situation. Dennoch ist die politische Ebene noch unklar. 

Neulich bei einer Party unseres Nachbarn, bei der auch ein Polizist anwesend war, der z.B. Demonstranten beschützen muss (sagte er), die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzen, kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Als ein anderer Nachbar dann sagte, dass die Lampedusa-Heinis in der Pauli-Kirche doch Eliteflüchtlinge wären, die alles in den Arsch gesteckt bekommen und der Pfarrer sogar mit ihnen joggen gehe, habe ich gleich gemerkt, dass dies in dieser Runde kein gutes Thema für zukünftig friedliche Nachbarschaftsbeziehungen ist. Zumal wir eine Nachbarin haben, die vor 20 Jahren als Kind mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus dem Iran geflüchtet ist, die ersten Jahre in Deutschland im Asylbewerberheim lebte und davon noch immer traumatisiert ist. Vermutlich weiß das keiner außer ich im Haus. Mein persönliches Unwort des Jahres 2013 stand fest: Lampedusa-Heinis.

Ich gehe mal davon aus, dass unser Haus schon einen guten Querschnitt durch die Gesellschaft darstellt. Wir haben Migranten, Behinderte, Schwerverdiener, Arbeitslose, Hausfrauen, Verheiratete, Partnerschaften, Singles, Feministen, Machos, große und kleine Leute, Dicke und Dünne, Buchhalter und Autoren,… O.k., niemand im Haus ist über 50. Bei der Bundestagswahl am 22. September wurden aus unserem 8-Parteien-Haus mindestens 4 Parteien gewählt, vielleicht auch fünf. Dementsprechend spannend sind unsere Hauspartys. Auf des besagte Wort reagierte keiner. Aus den unterschiedlichsten Gründen.

Auf jeden Fall erzeugt dieses Wort noch immer in mir große Wut. „Sozialtourismus“ ist aber auch nicht schlecht.

„Geht doch! Inklusion erfahren“ – Ein Ausstellungsbesuch

Heute haben wir einen Familienausflug in die Ausstellung „Geht doch! Inklusion erfahren.“ ins Hamburger Museum gemacht, die ich mir schon lange anschauen wollte. Wenn ich das erste Mal in einem Museum bin, mache ich gern eine Führung mit. Ich ging bei dieser Ausstellung davon aus, dass uns ein Mensch mit Trisomie 21 oder mit einer Sehbeeinträchtigung oder auch einfach ein Künstler, der die Ausstellung mitgestaltet hat, durch die Ausstellung führt. Das war aber nicht so. Die Dame, die uns stattdessen die Ausstellung zeigte, begann ihre Führung mit den Worten „10 Prozent aller Menschen weltweit leiden an einer Behinderung…“. Ich hätte sie gerne korrigiert, dass nicht alle LEIDEN würden, aber sie war so im Redefluss, dass ich sie nicht unterbrechen wollte. Da die Ausstellung anlässlich des 150jährigen Bestehens der Stiftung Alsterdorf erdacht wurde, beginnt sie mit einem recht kurzen Blick in die meist gruselige Alstersdorfgeschichte, die man zum Teil auch hier nachlesen kann. Also nur ganz kurz: 1860 gründete der Theologe Heinrich Sengelmann die „Alsterdorfer Anstalten“. Sengelmann wollte hier „geistig behinderte“ Menschen beschulen und sie in Werkstätten, Gärtnereien und in der Landwirtschaft beschäftigen. 1899 lebten mehr als 600 Menschen in den Anstalten. 15 Jahre später, mit beginn des I. Weltkrieges, wurde der Unterricht eingestellt, weil für den Nachfolger Sengelmanns Pädagogik keine Priorität mehr hatte. Nun wurde auf Forschung und medizinische Behandlungs- und Heilmethoden gesetzt. 1920 erscheint ja von Karl Binding und Alfred Hoche der Leseband „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die schwierigen 20er Jahre erwiesen sich als geeigneter Nährboden für diese radikalen Thesen und so wird in diesem Sinne die Stiftung Alsterdorf einige Jahre später zum „Spezialkrankenhaus für alle Arten geistiger Defektzustände“ erklärt. Auf der Webseite der Stiftung heißt es dazu: Der damalige Oberarzt Dr. Gerhard Kreyenberg entwickelte ein umfassendes Modernisierungskonzept im Sinne des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts. Röntgentiefbestrahlungen, Insulin- und Cardiazol-Schockbehandlungen, Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren sollten geistig behinderten Menschen Heilung und Linderung bringen. Ab 1933 werden im „Spezialkrankenhaus“ Massensterilisationen durchgeführt. Die Anstalten bekommen mehrere Auszeichnungen und werden zum „Nationalsozialistischen Musterbetrieb“ erklärt. Und was dann zwischen ’38 und ’45 geschah, lest selbst! Das Abendblatt schreibt, die Geschichte der Alsterdorfer Stiftung, die ja sehr viele Besucher interessiert, hätte ausführlicher dargestellt werden können. Ich kann dazu nicht wirklich was sagen, da wir mit den beiden Kindern die Ausstellung besuchten und ich mich mit ihnen ohnehin nicht zu lange bei diesem Ausstellungsteil aufhalten wollte.

Man verlässt dann die dunklen Räume und kommt in eine helle bunte Welt. Cool. Die Wände voll mit pinken, türkisen, knallbunten Bildern. Viele Videoinstallationen, Hörbeiträge, alles ist zum Anfassen, Mitmachen, Ausprobieren. Unsere Ausstellungsführerin sagt, dass „dies den Austritt aus der grauen Welt in die bunte Welt symbolisiert“, um nochmal zu betonen, was mehr als eindeutig ist.

Es wurde interaktiv. Wir durften auch gleich Klebepunkte kleben. Wie groß bist du? Liegst du damit im Durchschnitt? (Erkenntnisgewinn: es gibt auch viele Menschen, die viel größer oder viel kleiner sind.) Nächste Klebetafel: Wann brauchtest du mal Hilfe in deinem Leben? Als Baby, als Kranker, wenn das Internet nicht funktioniert,…usw.? (Erkenntnisgewinn: jeder Mensch ist irgendwann in seinem Leben hilfebedürftig.) Dann kommt eine interessante Installation. Ein Klingelbrett mit ca. 30 Namen. Drückt man eine Klingel, sagt die Person, welche Situationen ihr Schwierigkeiten bereiten. z.B. sagt eine Dame, dass sie Angst vor dem Busfahren hat. Jemand anderes sagt, dass er absolut keinen Käse essen kann. (Erkenntnisgewinn: nicht die offensichtliche Behinderung macht einem Schwierigkeiten, sondern alltägliche Dinge, die auch vielen anderen Menschen Schwierigkeiten bereiten.) Es folgen eine Schaukel (hier freute sich Lili enorm!), auf der man ein Lied hören kann. Dann ein Sandkasten, wo zwei Mütter (eine Mutter eines hochbegabten und eine Mutter eines weniger begabten Kindes) miteinander reden. Dann kommt ein Tischfußball mit Fußballern mit verschiedenen Behinderungen. An der Wand hängt ein Telefon, durch das man verschiedene Anrufer hört, die sich beschweren. z.B. beschwert sich eine Rentnerin, die unter einer WG von Menschen mit Behinderungen wohnt, bei deren Betreuern, dass sie immer nachts zu laut Musik hören und sie nicht schlafen könne. Als die Betreuer sie auffordern, es doch den Leuten einfach selbst zu sagen, antwortet sie: „Die verstehen mich doch gar nicht.“ (Erkenntnisgewinn: Ich muss mit den Leuten selbst sprechen und nicht mit ihren Angehörigen oder Betreuern.) Dann kann man noch erfahren, welche Schwierigkeiten Menschen mit handicaps im öffentlichen Verkehr haben. z.B. gibt es nicht an allen U- oder S-Bahnhöfen Fahrstühle. Viele Rollstuhlfahrer brauchen mindestens 30 min. länger für eine Fahrt als ihre gehenden Mitmenschen. Man kann die coolen Videos von Station 17 sehen. Auch gibt es eine richtig gute Installation mit dem Lied „Unter der Käseglocke“, in dem es um einen völlig isolierten Menschen geht, die laut unserer Ausstellungsführerin das Lieblingsstück der hier ausstellenden Künstler ist und auch mir am besten gefallen hat. Außerdem gibt es noch viele Fühlbilder, die für unsere Kinder interessant waren. Und Geschwister erzählen über ihre Schwestern oder Brüder mit handicap. Ich will und kann gar nicht alles aufzählen. Alles war bunt und zum Mitmachen. Die Ausstellung ist barrierearm und damit für viele zugänglich. Zum Schluss gab es noch Bilderpaare: auf dem einen Bild waren z.B. nur gelbe Äpfel, auf dem daneben verschiedenes buntes Obst. Auf dem nächsten Bild waren nur grüne Bäume, auf dem daneben herbstlich bunte Bäume. Welches Bild uns besser gefallen würde, fragte uns die Ausstellungsführerin? Ich fand sie alle gut. Sie meinte aber, dass die bunten, die eine Vielfältigkeit symbolisieren, doch besser aussehen würden, oder?

Auf dem Heimweg redeten wir lange über die Ausstellung. Es gab nicht wirklich was Neues für uns. Irgendwie erinnerte sie mich an meine Conny-Wenk-Ausstellung in Irkutsk, bei der sich 12 Irkutsker Vereine von Menschen mit Behinderung vorstellten. Sie schleppten dann alle irgendwelche Dinge an wie Topflappen, bemalte Eier, Holzspielzeug oder Bilder, die Menschen mit Behinderungen im Rahmen ihrer Vereinsaktivitäten hergestellt hatten und, die wir in Vitrinen ausstellen sollten. Hinzu kamen Fotos von Angehörigen oder Betreuern, die etwas Nettes mit dem behinderten Kind machten und es zum Lachen brachten. Hmm. Schon damals war mir das irgendwie peinlich, die Menschen so auszustellen. Natürlich ist diese Ausstellung bei weitem besser, da sie die Menschen zum Teil selbst zu Wort kommen lässt und sie zum Teil in die Ausstellungsgestaltung mit einbezogen hat. Trotzdem bleibt es eine Ausstellung, in der man Kunst von (fast) ausschließlich Menschen mit Behinderungen wahrnehmen kann und in der über Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Vielleicht sind sie zum Teil in gemeinsamer Arbeit entstanden, aber dann ist das Interessante doch eigentlich der Prozess, wie gemeinsam Kunst entsteht, wie man sich gegenseitig wirklich inspiriert oder stört. Ist die Welt von Menschen mit Behinderungen denn wirklich immer so bunt? Sascha brachte es auf den Punkt, indem er sagte, ihm sei die Ausstellung zu friedlich und schön. Er würde gerne etwas Provokantes, etwas Schockierendes, etwas Irritierendes sehen. „Ich setze mir eine Augenbinde auf und probiere mal, wie sich ein Blinder fühlt“, will die Ausstellung und macht damit alles andere als Inklusion erfahrbar. Im Gegenteil, sie grenzt damit Nicht-Blinde von Blinden ab. Fragen wie „Wo beginnt eigentlich Behinderung?“ „Wer oder was und vor allem wie und wo wird man behindert?“ werden nicht tiefgründiger bearbeitet. Der Titel der Ausstellung lautet „Geht doch! Inklusion erfahren.“. Wie dieser Titel entstanden ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall kann ich mir nicht genau erklären, was damit gemeint ist. Bei den Worten „Geht doch!“ habe ich erwartet, dass Erfahrungen und Schwierigkeiten bei gemeinsamen Projekten auftauchen bzw., dass gezeigt wird, wie oder wo ES (;-) geht. Wie bei vielen Ausstellungen, werden leider auch hier Behinderte von Nicht-Behinderten abgegrenzt, als ob diese Gruppen irgendeine Homogenität besäßen.

Ganz zum Schluss gab es noch die Möglichkeit, eine Papierfigur (z.B. Figuren im Rollstuhl) auszuwählen und drauf zu schreiben, was man den Menschen wünscht, die ein handicap haben. Lili meinte ganz spontan „Geld“. Und irgendwie hat diese Vierjährige auch sowas von recht. Wenn  Menschen mit Behinderung, die z.B. auf Assistenz angewiesen sind, endlich nicht mehr in Armut gezwungen werden würden, dann wäre ein großer Schritt gegen die alltägliche Demütigung getan und sie wären bei Ausstellungen nicht mehr nur auf die finanzielle Unterstützung von Sponsoren angewiesen, bei der meist ihre Behinderung zur Schau gestellt wird, sondern könnten endlich ihr eigenes Ding machen.