„Woran merkt man eigentlich, dass man stirbt?“

Schon lange wollte ich etwas zum Buch „Am liebsten bin ich Hamlet“ von Sebastian Urbanski schreiben, das mich sehr beeindruckt hat. Kurz zum Inhalt: Das Buch beginnt mit der Beschreibung seiner Arbeit als Synchron-Sprecher im Film „Mee too“. Hier gab Sebastian Urbanski dem Schauspieler Pablo Pineda eine deutsche Stimme. Dann kommt ein Sprung zurück zu seiner Geburt und wie seine Eltern und Großeltern die Diagnose Down Syndrom erlebten und anschließend damit umgingen. Im Anschluss daran erzählt Urbanski, wie er schwimmen und wie er anhand der Geburts- und Sterbedaten auf den Grabsteinen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin rechnen lernte. Er erzählte von seinem geliebten Kater Poldi und wie er ihn aufgrund einer schlimmen Krankheit verlor. Dann beschreibt er noch seine schwierige Beziehung zu Jessi, einer Frau, die er sehr liebte und die ihn leider zu oft sitzen ließ. Lange Kapitel des Buches widmen sich seiner Schauspielerei und wie intensiv er die Stücke und die Rollen, in die er schlüpft, wahrnimmt.

Am meisten beeindruckte mich seine intensive Beschäftigung mit dem Sterben und dem Körper – inspiriert durch das Theater. Sebastian Urbanski ist ja Schauspieler im Theater Ramba Zamba in Berlin. In verschiedenen Dokumentationen hatte ich Ausschnitte einzelner Theaterstücke gesehen, die zum Teil heftige Themen bearbeiteten. Ich erinnere mich an ein Stück zum Thema Selektion und Pränataldiagnostik, in dem die Schauspieler im Stück Babies nach Brauchbarkeit sortierten. Was nicht perfekt war, wurde weggeschmissen. Seit dem ich das sah, fragte ich mich, wie die Schauspieler des Ramba Zamba-Ensembles mit diesen Themen klar kamen? Selbst auf mich als Mensch ohne Behinderung hatte das so eine starke Wirkung, dass ich nur Weinen musste und kaum damit klar kam. In seinem Buch beschreibt Sebastian Urbanski nun genau diesen Konflikt, den er beim Spielen eines Stückes zur Euthanasie-Thematik empfand:
„[…] Das Stück hatte mich so geschafft, dass ich an die Fahrt nach Hause keine Erinnerung mehr habe. Dort angekommen, ging ich gleich nach oben in mein Zimmer und legte mich so, wie ich war, ins Bett. Schlafen konnte ich aber trotz meiner Erschöpfung nicht. Stattdessen hörte ich die Schreie aus den Einspielungen und sah die Leichenberge, die seitlich projiziert worden waren. Es war grauenhaft. Die abgemagerten, teilweise völlig verrenkten Körper. Das Leid und die Leere, die einem aus tiefen, dunklen AUgenhöhlen entgegenstarrten. Die zerstörten Gesichter.[…] Das setze mir genauso zu wie die Rolle des Desserteurs, in den ich mich so hineingelebt hatte, dass ich dachte, selber mit verbundenen Augen erschossen zu werden.[…] Schließlich hatten wir mit dem Wissen im Hinterkopf auf der Bühne gestanden, im Ernstfall die ersten Opfer zu sein.[…] Mein Vater war aufgebracht und fand, dass mit dieser Inszenierung die Grenze des Erträglichen überschritten worden sei. Zwar solle man das Publikum aufrütteln und warnen, damit sich so etwas wie Krieg und die Vernichtung der Juden nicht wiederhole, aber auch das Publikum, darunter viele Menschen mit Behinderung, sei vollkommen überfordert gewesen. Doch nicht nur sie hatten damals zum Teil die Vorstellung verlassen. Auch andere Zuschauer hielten es nicht mehr aus, uns Schauspieler mit Behinderung jene spielen zu sehen, die unter den Nazis getötet worden wären. Ich stellte es mir vor allem für den Kollegen schlimm vor, der im Rollstuhl sitzt. Aufgrund seiner sichtbaren Behinderung würde man ihn vermutlich als Ersten aussortieren und er könnte sich am wenigsten wehren. Anders als manche geistig behinderte Schauspieler versteht er ja auch alles sehr gut, während mancher von uns nicht immer vollständig erfasst, was auf der Bühne vor sich geht. Ich frage mich noch heute, was er empfand, als ihm einmal bei der Probe, auf den Kopf zugesagt wurde, er würde auf der Todesliste ganz oben stehen. Wie fühlt es sich eigentlich an zu sterben?“

Sebastian Urbanski bekam Albträume, auch die vielen Gespräche mit seinen Eltern halfen nichts. Was ihm in dieser Zeit half, war die Beschäftigung mit dem Körper, den Organen und ihren Funktionen. Ein Buch, das viele Abbildungen hatte, las er immer wieder und nahm es überall mit hin. Mit dem Wissen darüber, wie in seinem Körper was funktioniert, überprüfte er fortan regelmäßig, ob in ihm alles arbeitete: er lauschte seinem Atem, probierte unterschiedlche Atemtechniken aus, untersuchte seinen Puls, hielt sich die Ohren zu, um das Rauschen seines Blutes zu hören. Irgendwann war es dann soweit: er war überzeugt davon, dass er jetzt sterben müsse, dass sein Herz aufhöre zu schlagen. Er bekam Panik, Schweißausbrüche, Angst.
Nachdem die Ärzte bestätigten, dass mit seinem Herzen alles in Ordnung sei, ging es mit ihm wieder bergauf.
Einen kurzen Rückfall brachte die gemeinsame Fahrt zum Konzentrationslager Majdanek.“Schaut euch das an. In diesen Baracken hätte man euch umgebracht.“, hörten die Schauspieler. So etwas hatte Urbanski auf einer DVD von Spiegel-TV schon gesehen. Aber hier, in den niedrigen, düsteren Baracken, wirkte alles noch viel schlimmer. Sie wollten gehen, wurden aber zum Bleiben aufgefordert. „Nein, ihr müsst es euch ansehen. Ihr wärt alle verbrannt worden.“ Obwohl er wußte, dass das alles der Vergangenheit angehörte und nur gezeigt wurde, damit sich dies nicht wiederhole, verstörte es ihn und die anderen der Gruppe sehr. Für seine Eltern grenzte dieser Besuch des KZs an Misshandlung. Sie riefen die Eltern der anderen Schauspieler an. Sebastian Urbanski bekam wieder Albträume. Er hoffte insgeheim, dass sie endlich wieder im Theater an Stücken arbeiteten, die mehr Lebensfreude ausstrahlten und ihn nicht so belasten würden.

Und es kam wirklich so. Es folgten hoffnungsvolle Stücke, auch übernahm er eine Hauptrolle in dem Film „So wie du bist“, bei dessen Dreharbeiten er auch noch enger mit Juliana Götze zusammen arbeiten konnte. Außerdem spielten sie nun Shakespeare und die Rolle des Hamlet wurde das Aufregenste, was Urbanski am Theater je gespielt hatte. Auch zog er in dieser Zeit mit 5 weiteren Leuten in eine WG und Kai Pflaume drehte mit ihm und ein paar anderen Menschen mit Down Syndrom die tolle Doku „Zeig mir deine Welt„, die super beim Fersehpublikum ankam. Das alles machte ihm wieder Mut.

„Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mich „behindert“ oder durch das Down Syndrom beeinträchtigt fühle. Und da kann ich ganz klar sagen: überhaupt nicht! Dass ich das Syndrom habe, wird mir nur dann bewusst, wenn ich meinen Schwerbehindertenausweis vorzeigen muss, zum Beispiel um eine Ermäßigung bei Eintrittdgeldern zu bekommen. Im Ausweis festgehalten ist mein Behinderungsgrad, mehr nicht. Klar ist das Down Syndrom bei Arztbesuchen mal Thema, aber es steht nicht im Vordergrund, weil es eben keine Krankheit ist, obwohl das viele denken. Ich leide nicht am Down Syndrom!“

Urbanski endet sein Buch mit dem Satz: „Das Leben ist zwar nicht immer einfach, aber es ist viel zu schön, um sich von irgendetwas zurückhalten zu lassen.“

Sehr schönes Buch. Toller Mann. Interessantes Leben.

Urbanski, S.: Am liebsten bin ich Hamlet
Fischer Verlag, 2015, 14,99 Euro

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