Der Tag des Verteidigers des Vaterlandes

Der День защи́тника Оте́чества ist ein gesetzlicher Feiertag in Russland und einigen anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Er wird in Russland jährlich am 23. Februar gefeiert und ist seit 2002 arbeitsfrei. Er soll die Angehörigen der russischen Streitkräfte feiern, inoffiziell ist er jedoch auch der „Tag des Mannes“.

Ich kann mich an die Paraden erinnern, die jährlich am 23. Februar in Irkutsk stattfanden. An diesem Tag gab es keine Hello-Kity-Luftballons, sondern aufblasbare Panzer und Maschinengewehre für die Kinder, Männer trugen Sakkos mit unzähligen Orden zur Schau, die Tochter einer Freundin bastelte einen kleinen Panzer für den Papa im Kindergarten und der große echte Panzer an der nahe gelegenen Kreuzung, der als Denkmal gilt, wurde mit Blumen geschmückt. Zweifellos ein Tag an dem die meisten Irkutsker ausgelassenen feierten, die Helden des Landes, den Mann als solchen und Kriegsrhetorik in erster Linie als etwas Heldenhaftes, Starkes, Unbesiegbares und Positives gesehen wird. Kein Wunder, dass mich dieser Tag in Russland immer befremdete. Er war ein Teil der russischen Kultur, den ich niemals verstand.

Und heute sehe ich auf der Webseite des Down-Syndrom-Vereins in Irkutsk, in dem ich während unserer Russland-Zeit recht aktiv war und noch heute guten Kontakt zu einigen Muttis habe, dieses Foto einer Glückwunschkarte:

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Ein kleiner Junge mit Down Syndrom trägt eine Soldatenmütze und gratuliert heute allen „Verteidigern des Vaterlandes“. Ein behindertes Kind als Soldat mit Armee-Hintergrund. Da kommen bei mir ganz schreckliche Assoziationen hoch. Gleich fragte ich Sascha: „Sag mal, wurden in der Sowjetunion eigentlich die Behinderten nicht getötet oder deportiert?“. Er antwortete: „Stalin und seine Terror/Gulag-Zeit und auch die Staatsgründung der CCCP unter Lenin, sind ein komplett unaufgearbeitetes Kapitel. Sie genießen höchstes Ansehen und Aufklärung wird aktiv verhindert.“

Ich schaute im Netz, was ich finden konnte. Der kleine Junge auf der Glückwunschkarte ging mir nicht aus dem Kopf. Dort stieß ich auf den Namen Walerij Fefelow. Er veröffentlichte 1986 das Buch „In der UdSSR gibt es keine Invaliden!…“ und galt als Kämpfer für die Rechte von Menschen mit Behinderung in der UDSSR. 2008 starb er in Frankfurt am Main.
Man erzählt, dass Stalin sich einmal während der Fahrt durch das Nachkriegs-Moskau empört über so viele Invaliden auf den Straßen geäußert habe. Fefelow schreibt: „Außerstande einen Behinderten in einen Rollstuhl zu setzen, schämte sich der Staat seiner Erscheinung und versuchte ihn aus den Augen zu schaffen! Und das ist nur konsequent: eine Gesellschaft, die sich selbst als ideal ansieht, muss alles ordentlich sein: die Kleidung, die Auslagen, die Fassaden. Das ist als ob entlang der makellosen Reihe der Militärmusiker und Tribünen plötzlich irgendeine verkrüppelte Kreatur entlang kriecht oder auf einem selbstgebauten Brettchen mit Rollen entlang rollt. Wer hat das zugelassen? Weg damit! Weg damit! Weg damit!“

In der UdSSR gab es 1.500 Häuser für Behinderte, in denen sie, so Fefelow, “eingemauert” waren. Es war ihnen offiziell untersagt, Kinder zu haben. Auf den Straßen waren sie nicht zu sehen. Ein Funktionär erklärt: „Die gesunden Menschen sind an die Behinderten nicht gewöhnt.“ Als ein echtes Konzentrationslager, als sowjetisches Buchenwald, bezeichnete man das Behindertenlager im Dorf Makorty im Sophia-Bezirk des Gebiets Dnipropetrowsk – „[…] Da ist eine Hölle: keine Behandlung, kein Essen. Diese Tiere versuchen Dich ins Jenseits zu schicken, aber ohne Laute, damit alles schön verdeckt bleibt […]“. Fefelow schreibt, dass während der UdSSR die Behinderten nicht einmal für Menschen gehalten wurden.

Ich erinnere mich, wie ich 2002 so viele junge Männer ohne Gliedmaßen in den U-Bahntunneln in Moskau betteln sah. Sie waren kaum älter als ich, manche sogar jünger. Tschetschenien hatte ihr Leben zerstört. Niemand feiert sie, niemand kümmert sich um diese „Vaterlandsverteidiger“. Bei den jährlichen russischen Militärparaden stolzieren die wenigen Kriegshelden mit ihren Orden und Medaillien an der Brust durch die Straßen, die keine sichtbaren Einschränkungen durch diverse Kriegseinsätze davon getragen haben. Denn in Russland gibt es auch heute noch keine Behinderten.

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