Das Ideal

Ja, das möchste:
Eine Altbauwohnung im Grünen mit Terrasse,
vorn die Elbe, hinten die Osterstrasse;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist der Kirchturm zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.

 
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Fünf Zimmer – nein, doch lieber Sechs!
Ein Dachgarten, wo das Gemüse wächst,
Internet, Fußbodenheizung, Garage,
wenig Arbeit und viel Gage,
einen klugen Mann voller Rasse und Verve –
(und einen fürs Wochenende, zur Reserve),
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.

 
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
frisches Obst und leckeres Essen,
alte Weine aus schönem Pokal–
und trotzdem bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.

 
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Arbeit, dann hast du keine Görn;
hast du Kinder, dann stört dich der Lörm –
hast du einen Mann, dann fehlt die Leidenschaft
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns die Kraft.
Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.

 
(Angelehnt an Kurt Tucholsky: Das Ideal, 1927)

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