Deutschland – „Ein Paradies für Rentner und Menschen mit Behinderungen“?

Ich habe jetzt insgesamt fast sechs Jahre in Russland gelebt und habe noch nie einen Menschen mit Down Syndrom hier gesehen. Wo sind sie? Werden sie versteckt?

Die Reaktionen unserer Mitmenschen nach der Geburt unseres Sohnes mit DS waren dementsprechend haarsträubend. Eine Kindergärtnerin bot mir an, ihren bekannten Heilpraktiker mal aufzusuchen. Der habe magische Hände, sagte sie, und könne alles heilen. Eine gute Mitarbeiterin von mir sagte, dass ihre entfernte Cousine ebenfalls ein Kind mit Down Syndrom habe. Die Familie gehe davon aus, dass sie ein solches Kind bekommen hat, weil sie in ihrer Jugend einmal Drogen genommen hatte. Eine andere Mitarbeiterin wollte es nicht glauben, dass unser Kind das Down Syndrom hat. So etwas passiert doch nicht in normalen Familien! Eine bekannte Mutter eines dreijährigen Jungens mit Down Syndrom sagte mir neulich, dass in ihrer Familie bis heute nur ihr Ehemann und ihre zwei anderen Kinder vom DS beim Jüngsten wissen. Selbst der Großmutter scheut sie sich, es zu sagen. Auf meine Frage, ob diese das nicht bemerke, antwortete sie: „Sie hat einen anderen Umgang damit. Sie geht jetzt häufiger in die Kirche. Sie betet für den Jungen. Sie betet, dass er bald sprechen lernt.“

85 % aller Neugeborenen mit Down Syndrom verlassen russische Geburtskliniken nicht mit ihren Familien. DownSideUp, die größte NGO Russlands, die Familien mit Kindern mit DS berät, diverse Fortbildungen anbietet und sich das vorsichtige Ziel gesetzt hat, das Verhältnis der russischen Gesellschaft zu Menschen mit Behinderungen „positiv“ zu beeinflussen, veröffentlicht auf ihrer Webseite acht Mythen über das Down Syndrom, die in Russland kursieren:

1. Das Down Syndrom ist eine Krankheit, die man heilen muss.

2. Menschen mit Down Syndrom können nichts lernen.

3. Ein Kind mit Down Syndrom ist die Folge asozialen Verhaltens der Eltern.

4. Familien brechen auseinander aufgrund eines Kindes mit Down Syndrom.

5. Menschen mit Down Syndrom sind gefährlich für die Gesellschaft: sexuelle Aggressionen, unzureichendes Benehmen und ständiger Wechsel zwischen Gutmütigkeit und Wutanfällen bestimmen ihr Verhalten.

6. In Russland gibt es weniger Menschen mit Down Syndrom als in Europa.

7. In meiner Familie kann so etwas nicht passieren.

8. Ein Kind mit Down Syndrom sollte lieber in eine spezielle Einrichtung, wo Spezialisten es behandeln können.

Punkt 5. wird übrigens, so unsere Tagesmutti, auch in russischen Talkshows zur Primetime heiß diskutiert.

Als ich neulich bei einem Gespräch mit einer Mutter eines Kindes mit DS weinte, sagte sie: „Ich dachte, Menschen aus Europa weinen nicht nach der Geburt eines behinderten Kindes. Bei uns sieht man nur Bilder von glücklichen Familien aus Europa. Sie werden vom Staat ernst genommen mit ihren Bedürfnissen und nicht ausgegrenzt. Wir Russen denken, Deutschland ist ein Paradies für Rentner und für Behinderte.“

DownSyndromeMyths