Der Frühförderwahn als logische Konsequenz des allgegenwärtigen Optimierungszwangs

„Heutzutage kann man mit Frühförderung ganz viel machen und selbst Kinder mit Down Syndrom könnten sich den Umständen entsprechend ganz gut entwickeln. Man muss da nur dran bleiben.“ Diese oder ähnliche Sätze hören Eltern von Kindern mit Trisomie 21 meist schon kurz nach der Geburt und dann regelmäßig bis etwa zur Pubertät. Danach ist sowieso dann alles verloren, denn „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.“, meinen die traditionellen Pädagogen.

Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen
Kindheit verläuft in hochproduktiven Ländern wie Deutschland immer stärker nach einem globalisierten Universalmodell, ausgerichtet auf eine möglichst intensive und frühe kognitive Förderung. In den Kitas steht statt Basteln die Erweiterung des Zahlenraums auf dem Programm, statt Freispielen gilt musikalische Frühförderung. Die Gesellschaft ist von ökonomischen Imperativen bestimmt: Leistung, Anstrengung, Selbstdisziplin, Kontinuität. Wir leben in einer Zeit der Effizienzbestrebungen und des Controlling. Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen macht selbstverständlich auch nicht Halt vor Kindern mit Trisomie 21. Eltern fühlen sich oft gezwungen, das Beste aus ihren Nachwuchs raus zu holen.

Der drängende Wunsch, bloß keine Möglichkeiten und Fähigkeiten brachliegen zu lassen, hat manchmal wahnhafte Züge. Manche Eltern haben ein schlechtes Gewissen, wenn ihr Kind nicht mindestens ein Förderangebot pro Tag wahrnimmt. Andere Eltern fühlen sich schlecht, weil ihr Kind mit Trisomie 21 mit zwei Jahren immer noch nicht läuft. Haben sie nicht genügend Bewegungsanreize gegeben? Sollten nicht weitere Physiotherapie-Stunden privat finanziert werden, bevor das späte Laufen die gesamte Entwicklung des Kindes um Jahre zurück wirft? Wieder andere Eltern sind verunsichert, weil ihr Kind mit sechs Jahren immer noch kein Wort spricht. Was machen sie falsch? Zu wenig Bücher gelesen? Zu wenig gemeinsame Lieder gesungen? Nicht genug Sprachförderspielzeug besorgt? Ist der Logopäde inkompetent? Oder reden die Erzieher in der Kita nicht genug mit dem Kind? Denn irgendjemand muss ja Schuld sein, wenn das Kind nicht so funktioniert wie andere.

Hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines Kindes mit Trisomie 21 (zwar spielerisch, aber konsequent) zu therapieren und das Kind permanent fördern zu wollen, steht Hilflosigkeit und Distanzsuche. Das noch nicht Erreichen von bestimmten Entwicklungsstadien wird als krankhaft und falsch wahrgenommen. Und das darf nicht sein und muss mit ausreichend Förderung verhindert bzw. verringert werden.

Es ist die Nicht-Anerkennung des Anders-Seins
Ein Kind wird nach seinen Funktionen be- und verurteilt und permanent mit statistischen Standardnormen oder „normal“-entwickelten Gleichaltrigen verglichen, zuerst von den Eltern, dann vom Kinderarzt, dann von den Erziehern in der Kita, dann von den Lehrern in der Schule, usw..

Verunsichern lassen sich viele Eltern von den absurden „Vielfalt ist großartig“-Institutionen: „Ihr Kind darf nur mitmachen, wenn es keinen oder geringen Unterstützungsbedarf hat. Es darf mitmachen, wenn ein Kollege freiwillig den Mehraufwand betreibt.“ Es kann doch schließlich nicht das ganze System geändert werden wegen eines Kindes. Das ist unmöglich. Also muss das Kind verändert werden. Es muss möglichst viel selbständig können – egal ob Trisomie 21 oder nicht. Egal welche Einschränkung, es muss möglichst wenig Aufwand machen, möglichst ein pflegeleichtes, angepasstes Kind sein. Dann ist es für alle Seiten so viel entspannter.

Ergebnisse einer sechsjährigen Studie zu Frühförderung von Kindern mit Trisomie 21
Cora Halder, die selbst eine erwachsene Tochter mit Trisomie 21 hat, fragt in ihrem Artikel „Wann sind wir wieder frei?“ in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Leben mit Down Syndrom „Was wollen die jungen Menschen mit Trisomie 21 selbst? […] Vielleicht möchten sie lieber gemütlich daheim auf dem Sofa sitzen, fernsehen, Chips essen und Cola trinken, lieber passiv sein als sich aktiv zu betätigen.“ Sie schlussfolgert für sich in ihrem Artikel, dass es eine lebenslange Aufgabe der Eltern ist, ihre Kinder davor zu bewahren, denn ein solches Leben wäre sowohl für die Gesundheit als auch für die Psyche auf die Dauer schädlich, schreibt sie.

Herr P., Experte für Trisomie 21, kam jedoch nach einer sechsjährigen Begleitforschung zu Therapie und Förderung bei Kleinkindern mit Down Syndrom zu einem gegenteiligen Ergebnis: „Arschloch. Eiermann. Popokacka. Alle blöd.“

Wer braucht hier eigentlich Förderung?

Ob ein Kind mit Down Syndrom „engagierte“ Frühförderung durch Therapeuten und Eltern erfahren hat oder nicht und welchen Unterschied es jeweils in der Entwicklung des Kindes gemacht hat oder nicht, weiß keiner. Natürlich kann man das auch nicht erforschen. Wenn ein Kind sich gut entwickelt hat, dann lag es ja immer an dem Einsatz der Eltern, der Therapeuten und der Pädagogen. Wenn ein Kind sich nicht so super entwickelt, dann lag es an den zu starken körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen des Kindes. Da kann dann keiner was dafür.

Immer wieder erzählen Eltern älterer Kinder mit DS, die von Reittherapie über tägliches GUK-Lernen bis hin zu spezieller Ernährung oder anderer heilsversprechender Spezialkuren alles Mögliche mit ihrem Kind getan haben, dass sie im Rückblick weniger Zeit mit Therapien hätten verschwenden wollen und lieber mehr Zeit für Spaß gehabt hätten. Immer wieder berichten Eltern älterer Kinder, dass trotz jahrelanger Therapie ihr Kind nicht laufen oder nicht (deutlich) sprechen könne. Welche Therapien helfen wem und in welchem Umfang eigentlich wirklich?

In Wider die Therapiesucht habe ich schon einmal Michael Wunder und Udo Sierck zitiert: „Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.“ Wunder und Sierck forderten schon 1981 ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte. 35 Jahre später hat diese Forderung nicht an Aktualität verloren.

Frühförderung bei Kindern mit Down Syndrom ist derzeit weder individuell noch knapp verordnet. Sofort nach der Geburt bekommt man nur aufgrund der Diagnose Down Syndrom die Komplexleistung Frühförderung als dauerhaftes Rezept. Zu diesem Zeitpunkt kann wohl noch niemand einschätzen, wie das Kind sich entwickeln wird. Erreichen Kinder mit DS in den ersten Lebensjahren entscheidende Entwicklungsschritte nicht, sind die Eltern „Schuld“, da sie dem Kind keine genügend anregende Umgebung schaffen oder nicht genug üben. Noch mehr Druck machen sich die Eltern durch die medial bekannten „Super-DSler“ wie Pablo Pineda oder Carina Kühne. Bei guter Förderung, so wird ihnen allseits suggeriert, kann ihr Kind sich auch so toll entwickeln. Eine Defizit-Orientierung MUSS zwangsläufig einhergehen mit Heilsversprechen und Schuldzuweisungen. Genau die sind aber die furchtbare Konsequenz der heil- und sonderpädagogischen Förderung in Deutschland und es beginnt kurz nach der Geburt und wird im Laufe der Jahre im Kindergarten und in der Schulen immer schlimmer. Später sind es nicht nur die Eltern, sondern auch die Pädagogen, die daran Schuld sind, wenn das Kind verhaltensauffällig wird. Und so schieben sich im Laufe der Zeit alle Beteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Aber was ist eigentlich mit dem Kind?

Kinder mit DS sind nicht krank. Sie entwickeln sich in ihrem Tempo. Egal, ob sie Therapien machen oder nicht, ich behaupte, sie werden sich nicht großartig anders entwickeln. Es ist absurd, sich von Defizit-orientierten Therapeuten mit angeblichen Lern-Zeitfenstern wahnsinnig machen zu lassen: „Zwischen 3 und 5 Jahren muss das Kind sprechen lernen. Sonst haben Sie das entscheidende Zeitfenster der Sprachentwicklung verpasst.“ usw. Die Berichte der Sozialpädiatrischen Zentren, der Psychologischen und Medizinischen Dienste, in denen man lesen kann, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und auf welchem Entwicklungsstand verglichen mit normal-entwickelten Kindern es sich befindet (einschließlich Skalen mit aufgeführter Abweichung des Kindes vom Standard) haben nur zwei Funktionen:
1. Die Eltern zu verunsichern.
2. Das Therapie- und Fördersystem aufrecht zu erhalten.

Lange hatte ich es nicht verstanden: ich bin es, die mein Kind behindert. Die Gesellschaft ist es, die mein Kind behindert. Ich und sie brauchen Förderung! Warum hat mir das nie jemand angeboten? Die „Förderung“, die ich mir von Anfang an gewünscht hätte, wäre eine dauerhafte und regelmäßige Hardcore-Kuschel und -Tobe-Verordnung, d.h. eine Beratung beim Beziehungsaufbau mit unserem Sohn, von Anfang an. Kuscheln ist z.B. viel wichtiger als jede Entwicklungstabelle und jeder Meilenstein. Die „Fördereinheiten“, die ich mir gewünscht hätte, hätten darin bestanden, das Kind einfach zu beobachten, zu versuchen, seine Signale aufzunehmen, zu verstehen und auf sie zu reagieren bzw. einzugehen. Das ist sehr schwer. Sich einlassen. Loslassen. Ihn so lassen, wie er ist. Das hätte ich gerne früher gelernt. Das hätte ich gerne schon damals bei unserer Tochter gelernt.

Der andere Aspekt, der für viele Eltern bedeutsam ist, ist eine neutrale und umfangreiche Information zu den behindernden Strukturen in der heutigen Gesellschaft, z.B. bei den Behörden. Therapeuten, Pädagogen, Psychologen, Behörden usw. sind es, die Förderung benötigen und nicht das Kind.

Lasst die Kinder in Ruhe! Sie sind perfekt.

Frühförderkurse in Irkutsk

Auf Empfehlung einer Mutter einer dreijährigen Tochter mit Down Syndrom, bin ich heute mit Tolja in das „Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen“ gefahren. Immer freitags findet dort kostenfrei für alle Interessierten ein anderthalbstündiger Frühförderkurs statt. Ich war ganz gespannt, was uns dort erwartet. Zuerst wurden wir in den Sensorikraum geführt. Hier durften die Kinder 30 Minuten ihre Sinne trainieren. Mit uns waren noch 4 Kinder zwischen ein und fünf Jahren mit Down Syndrom. Es gab eine Spielkiste mit Bällen, Lichtersäulen, Matratzen, eine Werkbank aus Holz, Massagebälle, einen Plastiktunnel zum Durchkrabbeln und einen Teppich mit vielen kleinen Lichtern. Zwischendurch wurde für 10 Minuten das Licht ausgemacht, so dass man die vielen Lichter schön sehen konnte. Eine Psychologin ging abwechselnd zu jedem Kind und animierte es zum Spielen. Tolja wollte sich in diesem Raum fast ausschließlich an der Werkbank zu Schaffen machen. Die Psychologin verbot ihm jedoch, die verschiedenen Holzteile in den Mund zu nehmen, was ihm gar nicht gefiel. Als ein anderes Mädchen mit Tolja spielen wollte, wurde es von der Mama zurechtgewiesen, dass es nur die Hände von Tolja fassen sollte und nicht ihn überall anzufassen habe. Tolja war die gesamte Zeit überwältigt von den vielen Lichtern und Leuten und beobachtete meist das Geschehen. Aufgrund des Zeitmangels setzten die anderen Eltern ihre Kinder hintereinander an jede Fühl-, Spiel- oder Lichtquelle. Nach 30 Minuten wurden wir aufgefordert, den Sensorikraum wieder zu verlassen. Eine Pädagogin wartete auf uns, um die 30minütige „pädagogische Förderung“ durchzuführen. Dort eilten wir sogleich hin. Diese Förderung bestand aus 15 Minuten zwei Trickfilme anschauen (Mascha und der Bär, eine im russischen TV sehr bekannte Kinderserie). Danach wurden den Kindern Fragen zu den beiden Filmen gestellt, die sie beantworten sollten. Danach sollten die Kinder noch ein Frühlingsbild aus Servietten basteln, was den meisten Kindern nicht so gut gelang, weshalb die Mütter dann mehr oder weniger das hübsche Bild gestalteten. Die Kinder, die sich nicht beteiligten, wurden von der Pädagogin ermahnt oder ignoriert. Danach eilten wir zur Musikförderung. Dreißig Minuten wurden die Kinder animiert, mit Rasseln, Tüchern oder Xylophonen Töne zu erzeugen, während die Musiktherapeutin Klavier spielte. Sie sang auch ab und zu und leitete rhythmische Bewegungen mit Händen und Beinen an. Zwischendurch zeigte sie an einem Computer verschiedene Bilder eines Hahnes und es ertönte ein Lied über einen Hahn im Hintergrund der Diashow. Wenn sie nicht ständig das Instrument, das Lied, die Handpuppen oder das Medium gewechselt hätte, wäre es interessant gewesen. Aber auch hier fühlte ich mich getrieben, denn die Dame führte ihr „Programm“ durch und auch sie forderte uns nach 30 Minuten auf, den Raum zu verlassen.
Nach diesen anderthalb Stunden Förderung war ich fix und alle. Kaum saßen wir im Auto fielen Tolja die Augen zu.

Den Stress tun wir uns nicht nochmal an.