Lili tut so als wär sie behindert

Das Thema scheint Lili (6) gerade sehr zu beschäftigen. Neulich malte sie Behinderte und gestern spielte sie behindert. Sie stellt wenig Fragen. Sie hat ihre Art, sich damit auseinanderzusetzen. Wir fuhren also gestern ins Schwimmbad und ich wollte noch kurz bei der Post anhalten, um zwei Briefe loszuwerden. Vor der Post gab es dann aber keinen freien Parkplatz. Also tat ich etwas, was ich total verabscheue: ich stellte mich auf den Behindertenparkplatz. Als ich aus dem Auto stieg, stellte mich auch gleich der Mann aus dem Nachbarauto zur Rede und fand es unmöglich, dass ich mich auf diesen Parkplatz stellte. Ich entschuldigte mich verlegen und sagte, dass ich nur eine Minute schnell die Briefe wegbringe und gleich zurück sei. Dann rannte ich schnell in die Post, gab die Briefe hastig ab und rannte wieder zurück zum Auto.

Im Auto sagte Lili: „Mama, mach dir keine Sorgen. Während du weg warst habe ich so getan als wäre ich behindert.“

Ich: „Wie denn? Zeig mal!“

Lili setzte sich unbeweglich auf. Sie erschlaffte ihre gesamten Gesichtsmuskeln und ließ, ihr Kinn nach unten fallend, den Mund offen stehen.

Geschwister, Eifersucht und mein unterschiedliches Schimpfverhalten

Am Dienstag hatte ich ein interessantes Gespräch. Alle 14 Tage fahre ich zur Diakonie in Hamburg und mache dort eine sogenannte Lebensberatung. ‚Lebensberatung‘ klang für mich im Januar ausreichend allgemein, um da alles unterzubringen, was gerade bei mir brennt. Na und als eine Freundin dann Sylvester zu mir sagte, dass wir für jeden Scheiß Beratung in Anspruch nehmen, aber für das Komplizierteste, nämlich das Leben und die Begleitung von Kindern beim Wachsen, nicht, bestärkte mich das in meiner Entscheidung. so eine Beratung mal auszuprobieren. Mittlerweile habe ich schon das Gefühl, dass es mir hilft. Am Dienstag sprachen wir über meine Konflikte mit unserer Tochter. Ich habe ein wunderbares, inniges und liebevolles Verhältnis zu ihr. Trotzdem glaubt sie manchmal, ich würde Anatol mehr mögen. Oft hört sie nicht darauf, wenn ich „Nein“ sage bzw. achtet meine Grenzen nicht und bekommt Wutanfälle. Ich muss dazu sagen, dass ich meine persönlichen Grenzen lange ihr gegenüber nicht deutlich gemacht habe. Erst vor einem Jahr ungefähr habe ich angefangen, meine Grenzen innerhalb der Familie selbst wahrzunehmen und zu zeigen und mir auch mehr Zeit für mich selbst zu nehmen. Das war für mich schwer. Vorher tat ich es aus Überzeugung nicht, ich dachte immer, dass die ersten Jahre eines Kindes nunmal 100%ige Aufmerksamkeit bedürfen und, dass ich die Neugierde der Kinder nicht bremsen darf, war sehr stolz auf ihre Willenstärke. Ich wollte ja immer selbstbestimmte und selbstbewußte Kinder und keine Mäuschen. Das führte nun aber dazu, dass ich in eskalierenden Situationen wie z.B. Wutanfälle mit unserer Tochter immer sprach wie mit einem erwachsenen Menschen, der seine Taten ganz genau reflektieren kann: Zuerst ließ ich sie toben. Wenn sie sich beruhigt hatte, dann redete ich mit ihr in Ruhe. Ich sagte immer: „Lili, ich bin verunsichert, wenn du solche starken Wutanfälle bekommst und weiß dann selbst nicht, wie ich darauf reagieren soll. Wie möchtest du in dieser Situation behandelt werden? Was soll ich tun?“ Meine Beraterin sagte nun vorgestern, dass ich ein sechsjähriges Kind (oder sogar jüngeres) total überfordere mit solchen Fragen. Sie braucht ein ganz klares „Nein. So geht das nicht! Punkt.“ Und zwar ohne Diskussion und ohne, dass sie selbst überlegen muss, was Mama machen soll oder selbst in dieser Situation eine Entscheidung treffen muss.
Ich begann zu verstehen, warum unsere Tochter sich immer die Ohren zuhält, wenn ich schimpfe. Ich war schon immer eine Rede-Mutter und überschätzte schon immer die natürliche Wahrnehmung von Grenzen von Kleinkindern bei sich selbst und anderen. Mit einem Jahr erklärte ich unserer Tochter z.B. schon lang und breit, was warum lieber nicht getan werden sollte und welche Konsequenzen das hätte. Meine Schwiegermutter wunderte sich schon immer, was ich immer rede. Vorgestern begann ich auch zu verstehen, warum unsere Tochter das Gefühl hat, dass ich mit Anatol nicht so viel schimpfe wie mit ihr. (Was ich selbst komischerweise niemals so wahrnahm, was aber auch mit ein Grund dafür sein kann, warum sie manchmal das Gefühl hat, dass ich Anatol lieber mag.) Aber sie hat recht. Ihm habe ich noch nie „Predigten“ gehalten, weil ich ja weiß, dass er diese sowieso nicht versteht. Bei ihm habe ich immer ganz klar, kurz und laut Stopp oder Nein gesagt. Das Äußerste ist dann, wenn ich ihn bestimmt greife und ihn in sein Zimmer setze, wenn er Mist gebaut hat. Dann weint er. Und nach einer Weile ist alles wieder gut. Unsere Tochter musste stattdessen ihr gesamtes Kinderleben lang bei Mist einen moralgeladenen Redeschwall ertragen. Ohje. Das arme Kind. Jetzt tut sie mir so leid. Dieses unterschiedliche Schimpfverhalten war mir vorher absolut nicht bewußt und es ist einfach furchtbar.
Schlimm fand ich, als meine Beraterin sagte, dass Kinder, die die Eltern nicht als Über-Allem-Stehend erleben, sich oft nicht sicher fühlen. Kinder hätten das Bedürfnis, dass Erwachsene ihnen sagen, was richtig und was falsch ist, ohne, dass sie darüber nachdenken müssen. Erst dann fühlen sie sich behütet, sicher und beschützt. Erst wenn sie vollkommen sicher sind, dann fangen sie irgendwann an zu rebellieren. Was auch wichtig ist.
Dann fragte ich die Beraterin, ob da noch etwas zu retten sei? Ich bin natürlich total geschockt gewesen, dass gerade mein Kind sich von mir wahrscheinlich nicht ausreichend beschützt fühlt. All das schien mir nämlich absolut plausibel in der Beziehung zu ihr. Die Beraterin meinte, dass es natürlich nicht zu spät ist.
Man man man. Warum ist das alles nur immer so kompliziert? Ich bin doch auch nur ein Mensch.