Im Anfang war das Wort

Das allererste Wort war Nein. Es kann ja gar nicht anders sein.
Das Ja lässt alles, wie es war, doch Nein schafft Neues wunderbar.

Das allerzweite Wort war Du, und dann kam erst das Ich dazu.
Ich ohne Du gibt keinen Sinn, denn Du erst zeigst mir, wer Ich bin.

Vom dritten weiß man’s nicht genau, vielleicht war’s Himmel oder Frau,
Glück, Liebe oder Apfelbaum, vielleicht vergehen oder Traum.

Martin Auer

Selbstüberschätzung

Manchmal befällt mich die Angst, ich hätte etwas falsch gemacht: in den Schwangerschaften, bei den Geburten, im Umgang und in der Erziehung der Kinder, als Ehepartnerin, in den Beziehungen zu meiner Schwester, meinen Cousinen, meiner Mutter, meiner Tante, meinen Freunden. Ich bin Schuld, wenn unsere Kinder unausgeglichen sind, frech und aufmüpfig. Ich bin Schuld daran, wenn mein Mann sich ständig von mir unter Druck gesetzt und misstraut fühlt. Ich bin Schuld, dass meine Schwester Angst davor hat, ein Baby zu bekommen,….

Sascha meint, ich solle mich selbst nicht so wichtig nehmen.

Diagnose Down Syndrom – So war es bei mir

Ich werde immer wieder gefragt, wie es für uns war, als wir erfuhren, dass unser Sohn das Down Syndrom hat. Ich versuche mal, mich daran etwas genauer zu erinnern.

Alle Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft waren unauffällig. Auch die Geburt lief mehr oder weniger problemlos. Ich erinnere mich noch, wie kurz nach der Geburt die Ärztin sagte, das Kind wiege 2360 g und sei 48 cm groß. Ich stutzte sofort und fragte, warum das Baby so leicht sei? Die Ärztin schien das Gewicht überhaupt nicht zu beunruhigen. Sie sagte, dass manche Babys etwas kleiner sind und, dass das völlig normal sei. Ich war sehr glücklich über den kleinen Wurm.

Einen Tag später kam die Kinderärztin zu mir und bat mich, mit ihr gemeinsam das Kind genau anzuschauen. Sie fragte, ob mir etwas auffalle bei diesem Säugling? Ich sagte „Nein.“. Sie fragte, ob das Kind anders aussehen würde als mein erstes Kind. Ich sagte „Nein“. Dann sagte sie, ihr wären einige Merkmale aufgefallen, die meist bei Kindern mit dem Down Syndrom vorkommen. Ich sagte „O.k.“. Sie schaute mich an. Sie wiederholte den Satz, dass ihr einige Merkmale aufgefallen wären, die meist Kinder mit dem Down Syndrom hätten. Und fügte ungläubig hinzu „Haben Sie mich verstanden?“. Ich sagte, dass ich sie bereits beim ersten Mal verstanden hätte und gerne wüsste, welche „Merkmale“ sie meine. Ich hatte das Gefühl, dass meine Reaktion die russische Kinderärztin etwas überraschte. Sie erwartete wahrscheinlich, dass ich in Tränen ausbreche. In diesem Moment nahm ich diese Info allerdings nüchtern auf. Dies mag daran gelegen haben, dass ich in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Diagnosen und Medikamentenverordnungen von russischen Ärzten häufig Rücksprache mit deutschen Ärzten gehalten hatte, weil meine Russischkenntnisse nicht perfekt sind und, weil dir russische Medizin zum Teil sehr veraltet ist und die Behandlungsmethoden sich sehr stark von denen in Deutschland unterscheiden.

Die Kinderärztin zählte die Merkmale auf, die zu ihrer Blickdiagnose Trisomie 21 führten:

– 3. Fontanelle

– mandelförmige Augen

– etwas tiefer gelegene Ohren

– Stupsnase

– sehr trockene Haut

– unnormale Armhaltung (das konnte ich übrigens nicht nachvollziehen)

– leichte Sandalenlücke

Ich nahm das zur Kenntnis, wobei er für mich vollkommen „normal“ aussah. Die Ärztin betonte, dass dies nur eine Blickdiagnose sei und, dass sie noch einige Untersuchungen machen möchten, weswegen wir wahrscheinlich etwas länger in der Geburtsklinik bleiben sollten. Außerdem fragte sie mich, ob ich einen Gentest durchführen möchte, um 100%ige Gewissheit zu haben. Ich sagte „Ja.“. Am nächsten Tag wurde dem Baby schon das Blut abgenommen und zur Analyse eingeschickt. Sascha schrieb ich per SMS, dass wir wegen einiger Untersuchungen etwas länger in der Klinik bleiben müssen und, dass die Kinderärztin vermutet, das Anatol das Down Syndrom hat. Er reagierte ebenfalls nüchtern, fand natürlich schade, dass wir noch länger dort bleiben mussten. Die zehn Tage in der Geburtsklinik waren durchzogen von vielen Untersuchungen, bei denen immer irgendetwas nicht der Norm entsprach:

– Zyste im Kopf

– erweitertes Nierenbecken

– Blutunverträglichkeit mit Mutterblut (weswegen mir das Stillen verboten wurde)

Ich stillte trotzdem und wurde dafür von der Kinderärztin als verantwortungslos beschimpft. Mir ging es körperlich aber überhaupt nicht gut. Ich hatte nach der Geburt viel Blut verloren. Mir kreiste vierzehn Tage lang der Kopf, ich war noch wochenlang kreidebleich. (6 Wochen nach der Geburt musste ich noch einmal für eine Woche in die Klinik. Das war sehr schlimm für mich.) Dann die schlecht gelaunten Kinderärzte. Vor meinem Patientenzimmer balancierten die zentralasiatischen Bauarbeiter komplett ungeschützt im noch unfertigen 4. Stock eines Hochhauses. Es fiel häufig Baumaterial von ganz oben runter. Die Bauarbeiter am Boden wichen den fallenden Ziegelsteinen und Brettern aus, die im 4. Stock warnten sie meist rechtzeitig. Ich konnte diese Baustelle nicht mehr mit ansehen. Also zog ich die Gardine zu und machte sie kaum noch auf. An das Down Syndrom habe ich in diesen zehn Tagen nur nebenbei gedacht, ich war sehr mit mir selbst beschäftigt und hoffte bei jeder Untersuchung, dass es Tolja gut geht. Ab und zu las ich ein paar Texte über DS im Internet durch. In diesen zehn Tagen wurde ich mehrere Male von der Kinderärztin gefragt, ob sie dem Jungen Präparate (Vitamine und Mineralien) geben solle, ob ich ihn mit nach Hause nehme?.

Dann kamen wir endlich nach Hause. Ich weinte auf dem Heimweg vor Erleichterung. Hatte extra eine Decke genäht, in die wir das Baby einwickeln konnten. Weder unsere Tagesmutter noch meine Schwiegereltern, die gerade in Irkutsk waren, konnten diese Blickdiagnose bestätigen. Auch ich sah ein Baby, das trinkt, weint, kackert, strampelt, jedenfalls nichts Ungewöhnliches tat. Ich war mir sicher, dass er nicht die Trisomie 21 hatte und dachte auch kaum noch daran.

Drei Wochen später sollte Sascha dann das Analyseergebnis abholen. Er rief mich gleich an, als er den Zettel in der Hand hielt: „Anatol hat Freie Trisomie, steht hier. Aber wir lassen das nochmal in Deutschland testen.“, sagte er am Telefon, um mich gleich zu beruhigen. Jetzt brach ich in Tränen aus und sagte: „Was willst du noch in Deutschland testen? Bluttest ist Bluttest. Da hat niemand andere Ergebnisse.“

Ich weinte zwei Tage fast durchgängig. In vielen Beratungsbroschüren steht, dass die Eltern zuallererst um das „gesunde“ Kind trauern werden und dieses begraben müssen, um das geborene Kind anzunehmen. Diese Trauer hatte ich nicht. Zumindest nicht bewusst. Ich hatte das Kind vom ersten Moment an angenommen. Auch die Diagnose änderte nichts an meiner Liebe zu Anatol. Meine ersten Gedanken galten dagegen ausschließlich mir selbst: ich war enttäuscht. Das letzte Drittel der Schwangerschaft war anstrengend. Dann der Blutverlust nach der Geburt und diese schreckliche Zeit im Geburtshaus. Diese ganze Quälerei für ein „behindertes“ Kind? Heute sind mir diese Gedanken, die ich damals hatte, sehr unangenehm. Ich komme mir sehr egoistisch vor. Sascha ging mit der Diagnose so um, als wäre uns gesagt worden, dass das Kind rote Haare bekommen würde. Es spielte für ihn keine große Rolle. So nahm ich es zumindest wahr. Ich war in dieser Zeit kaum aufnahmefähig für ihn.

Dieses Selbstmitleid bei mir hatte ich dann nach diesen zwei Tagen raus geheult. Danach versuchte ich durch Artikel, Blogs, Bücher, Fotos, Dokumentationen und Zeitschriften alles über Trisomie 21 zu erfahren. Ich wollte wissen, was auf uns zukommt. Zwischendurch dachte ich auch ab und zu an Anatol als Kind mit Trisomie 21. Das heißt: er war immer ein „normales“ Baby für mich. Wir hatten keine OPs oder Krankenhausaufenthalte, er lag nicht schlaff auf dem Boden, ich konnte ihn problemlos stillen. Auch wurde er nach der Geburt nicht beatmet, hing nie an Schläuchen, sah nie bedauernswert oder traurig aus, hatte keine Schmerzen. Die Zyste im Kopf wurde schon drei Wochen nach der Geburt im Ultraschall nicht mehr gesehen. Er hatte einen minimalen Herzfehler (der ihn nicht beeinträchtigte), von dem mir gesagt wurde, dass der zu 99% zu wachse (was dann auch nach einem Jahr der Fall war). Das erweiterte Nierenbecken sollte sich von selbst zurück bilden, was ebenfalls nach einem Jahr der Fall war. Bei seinem Blut war nichts mehr auffällig. Ich hatte also niemals Anlass, mir Sorgen um ihn zu machen, denn er war immer mopsfidel. Wir hatten Glück.

Meine Cousine erzählte mir nach vier Monaten die Ängste meiner Mutter und meiner Tante, die sie am Telefon mit gehört hatte. Es hieß, sie befürchteten, dass ich jetzt mein komplettes Leben umstellen müsse, dass ich mein Leben lang dieses nie erwachsen werdende Kind an der Backe haben werde und, dass ich nie wieder richtig arbeiten gehen werden könne.

Ich selbst hatte diese Ängste nie. Es stimmt, dass ich etwas öfter zum Arzt mit Anatol musste, als ich mit der Lili in den ersten zwei Lebensjahren war. Aber das störte mich nicht. Momentan geht er ganz normal in den Kindergarten und die Physiotherapie und Heilpädagogik läuft ganz nebenbei dort ab. Ich habe also kaum einen Mehraufwand mit ihm. Das hängt auch damit zusammen, dass er sich sehr gut entwickelt. Da ich mich von Anfang an viel mit dem Thema beschäftigt hatte, wusste ich, dass viele Menschen mit Trisomie 21 sehr gut selbständig mit Assistenz leben können. Abgesehen davon, ist es für mich gar keine Schreckensvorstellung, wenn Anatol lange oder meinetwegen für immer bei uns lebt. Im Gegenteil. Damit hätte ich kein Problem. Kann mir aber kaum vorstellen, dass er das später so will. In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass sehr viele Menschen nach der Geburt ihre eigenen Ängste auf mich projizierten und voller Mitleid waren. Das finde ich schade und unnötig.

Was mich dagegen im ersten Jahr tatsächlich häufig beschäftigte (ca. einmal im Monat bekam ich Weinanfälle und wurde melancholisch), waren hauptsächlich zwei Ängste:

1. Werde ich mit ihm mal so richtig reden können? Wird er mich verstehen? Wird er mir normal antworten können?

2. Angst, um seine Zukunft. Es ist natürlich absurd, im ersten Lebensjahr so viele Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Aber es war so. Wird er einmal ausgegrenzt? Wird er gemobbt werden? Wird er Freunde haben? Dies waren meine Ängste.

Jetzt, zwei Jahre nach seiner Geburt, habe ich diese Weinanfälle gar nicht mehr und diese Ängste sehr selten. Ich lebe jetzt fast nur noch in der Gegenwart mit ihm. Und die Gegenwart mit ihm ist wunderschön und lustig und cool. Da er schon jetzt mit mir verständlich kommuniziert, uns versteht und reagiert, gehe ich davon aus, dass wir uns mal „richtig“ unterhalten können. Inwieweit seine Sprache ausgeprägt, differenziert und deutlich sein wird, weiß ich natürlich noch nicht. Daran denke ich manchmal. Aber eher mit Spannung als mit Angst. Momentan im Kindergarten sehe ich, wie toll er mit den anderen Kindern umgeht, und, dass er in der Gruppe ganz normal im Spielbetrieb dabei ist wie alle anderen auch.

Ich habe immer versucht, so bewusst wie es mir möglich ist, zu leben und immer getan, was ich wollte. Mein Leben hat sich durch Anatols Geburt nur insofern verändert, dass wir jetzt zwei Kinder haben und nicht nur eins. Vielleicht wird der Mehraufwand irgendwann deutlicher. Momentan kann ich das nicht behaupten. Ganz bestimmt weiß ich seit Anatols Geburt viel mehr als vorher über die Trisomie 21 und beschäftige mich seit dem intensiv mit dem Thema Inklusion. Ansonsten ist das dritte 21. Chromosom jetzt für mich das, was es für Sascha von Anfang an war: eine Eigenschaft, wie z.B. rote Haare.

 

Suche neue Freunde!

Vor genau einem Jahr habe ich dieses Blog begonnen. Eigentlich sollte es ein Tagebuch mit selbstgemachten Dingen und Rezepten werden. Nun wurde es doch etwas bunter. Und meinen guten Vorsatz, jeden Tag etwas selbst zu machen, habe ich leider nicht durchgehalten. 2014 also aufs Neue.

Gestern habe ich bei unserer Silvesterparty erfahren, dass man „Bildungsfernheit“ (mein Unwort des Jahrhunderts) bei Kindern bereits am Namen und an den Gesichtszügen erkennen kann. Schon zwei Schluck Wein in der Schwangerschaft zum falschen Zeitpunkt getrunken, können die Gesichtszüge des Embryos beeinflussen und führen zu dem „typisch“ dummen Aussehen bei Menschen. Wenn man Namen wie Jacqueline oder Kevin hört, sei schon alles klar, behaupteten einige Partygäste. Ich musste dann mal kotzen.

Außerdem habe ich jetzt schon zweimal bei Freunden gehört, dass Eltern von Kindern mit Behinderung bevorzugt werden würden. Einmal sagte jemand, dass sein Kind nicht in die gewählte Schule aufgenommen wurde, weil ein Kind mit Behinderung den Platz bekommen hat. Was für eine Ungerechtigkeit. Dann sagte jemand, der nach dem Lehramtsstudium ein Referendariat an einer Schule machen muss, die ihm zugeteilt wird: „Man muss schon drei Kinder mit Behinderung haben, damit man einen Referendariatsplatz am Heimatort bekommt. Sonst muss man mit einem Anfahrtsweg zur Schule von mindestens 45 Minuten rechnen.“ Was für eine Ungerechtigkeit.

Schön, dass dieses Bildungsbürgertum in Deutschland Politik macht (Vor nicht langer Zeit habe ich mich noch gefragt, wer eigentlich CDU wählt? Jetzt ist mir klar: Die meisten meiner Freunde!). Schöne Aussichten.

Ich suche dann 2014 mal neue Freunde. Frohes Neues!

Eine Welt voller unbekannter und nicht nachlesbarer Erwartungen und Regeln

Der Querdenker ist immer lesenswert. Er beschreibt die Schwierigkeiten, auf die er als Autist in unserer Gesellschaft häufig stößt. Manchmal fühle ich mich beim Lesen schuldig. Ich bin keine Autistin und stresse oder überfordere eher meine Mitmenschen, insbesondere meine Familie, mit Plänen, Erwartungen und Regeln, als sie mich. Kein Wunder also, dass meine Familie ab und an mit Wut reagiert. (Auch der Querdenker beschreibt übrigens seine Wutausbrüche – auch wenn die andere Ursachen haben). Jedenfalls lese ich dieses Blog und es hat immer irgendeine Bedeutung für mich. Hier schreibt der Querdenker z.B., warum er manchmal tagelang nicht mehr sprechen möchte und wie das Schweigen ihm einen Rückzug ermöglicht: […] Wenn ich anfange zu schweigen, sind das oftmals Situationen die mich entweder extrem belasten oder überfordern. Sei es das in meinem Leben etwas massiv schief läuft und ich mir in dem Moment nicht zu helfen weiß. Oder emotional sehr belastende Situationen wenn Menschen in mein Leben eindringen und es von außen fremdbestimmen möchten. Ich brauchte sehr lange bis ich das verstanden habe, aber mein Körper und meine Seele schützen sich in diesem Moment selbst. […] Für ihn ist das Schweigen oft wie ein „beruhigendes Streicheln“. Und schließlich ist ein sehr angenehmer Nebeneffekt vom Schweigen, dass es die Menschen mit denen er lebt trainiert, auch auf andere Arten der Kommunikation zu achten und sie wahrzunehmen.

In diesem Blogeintrag fragt sich der Querdenker, was eigentlich unsoziales Verhalten sein soll? […] Das Wort sozial an sich kommt vom lateinischen socius und bedeutet erst einmal nicht mehr als „gemeinsam, verbündet bzw. verbunden“. Sozial ist man also wenn man etwas gemeinsam macht. Sozial ist man auch, wenn man sich mit anderen verbündet…Man kann sich … auch prima gegen jemanden verbünden. Ist man dann nun sozial wie im Wortsinn oder doch eher unsozial weil man unter Umständen unredliches ausheckt? … Sozial ist immer eine Sache des Standpunktes. […] Schwierig wird es … bei den Erwartungen die an einen gestellt werden. Ich denke hier gibt es schon die ersten Probleme für alle Menschen: Es wird, und je exklusiv sozialer sich das Umfeld gibt, das Paket an erwartetem Verhalten unheimlich komplex und auch verworren. […]  …die ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Miteinanders. Es scheint einen ganzen Haufen Regeln zu geben über die eigentlich niemand redet weil es doch peinlich ist wenn man sie nicht kennt. […] Besonders schwer wird es … dann, wenn das soziale Verhalten nur um der Erwartung Willen und nicht des Sinnes wegen praktiziert wird. […]

Jeder Mensch braucht dann und wann ein bisschen Wüste

Warum Russland? Und warum war ich so verrückt, beide Kinder dort zu bekommen?

Diese beiden Fragen werden mir ziemlich häufig gestellt. Meist erzähle ich dann irgendeinen Quatsch, weil ich so genau über diese beiden Fragen nie nachgedacht hatte. Es hat sich alles einfach ergeben. Wir waren damals unzufrieden in unseren Jobs in Berlin, wir wollten beide noch mehr von der Welt sehen, wir hatten beide ein Jahr in russischsprachigen Ländern gelebt und wollten Russisch noch richtig beherrschen und wir wollten gemeinsam etwas erleben. Na und da Sascha dann den Job in Irkutsk bekommen hatte und ich bald auch dort was fand, landeten wir in Sibirien. Und das fühlte sich gut an.

Kinder wollten wir von Anfang an. Sie waren nicht in Russland eingeplant. Aber ich hatte auch nichts dagegen einzuwenden. Viele Kollegen und Freunde hatten in verschiedenen Irkutsker Geburtskliniken entbunden. Warum also nicht? Und abgesehen von der mangelnden Freundlichkeit und Herzlichkeit – die ich kannte und erwartete – war ja auch alles in Ordnung. Das Einzige, was ich damals unterschätzt hatte, war, dass medizinische Betreuung nicht alles ist in einem so wichtigen Lebensabschnitt. Der Austausch mit anderen Schwangeren und nach der Geburt mit jungen Muttis hat mir enorm dann in Sibirien gefehlt. Nach der Geburt von Anatol hatte ich ja Kontakt zu mehreren anderen Muttis, ich lud sie auch zu uns nach Hause ein. Aber irgendwie blieb ich immer die Ausländerin, die nur für einen begrenzten Zeitabschnitt da ist. Was ja auch klar ist.

Wie war es in Russland? Ist auch so eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Zum einen waren diese fünf Jahre für mich von zwei Schwangerschaften und zwei Geburten geprägt. Ich habe also zwei Entdeckungsreisen parallel erlebt: Sibirien und Mutterschaft. Wow. Wie schön. Und zum Teil natürlich auch unglaublich fremd und anstrengend. Auf jeden Fall so voll, dass ich das alles nicht in zwei drei kurzen Sätzen im smalltalk zusammenfassen kann. Zum Ende unserer Zeit dort war ich von all dem Entdecken ja auch etwas erschöpft. Momentan fühle ich mich in Deutschland wohl, weil alles vertraut ist und ich nichts entdecken muss. (Selbst das von so vielen Deutschen verinnerlichte Beamtentum hat sich um keinen Deut verbessert.) Genau wie Sascha hatte ich in Russland auch erst gezögert und wollte nicht nach Deutschland. Immer hatte ich das Gefühl, wir haben noch irgendetwas nicht erlebt oder irgendetwas wichtiges nicht verstanden. Selbst die Lebensgeschichten, die ich mir im Laufe des letzten Jahres von verschiedenen Freunden und Bekannten hab erzählen lassen, haben dieses Gefühl kaum geändert.

Jetzt beginnt etwas Neues. Ich bin 34 und habe die letzten 19 Jahre nie drei Jahre am Stück in Deutschland gelebt. Die nächsten Jahre geht die Reise in mich hinein.

Darf man hier mal gepflegt einen Heulen, oder was?

So. Zurück in Deutschland. Eigentlich schon seit Ende Juni. Aber der Juli war Akklimatisierung. Der August war Funktionieren in der Mutterrolle. Und nun läuft der September so langsam an mit einem noch nicht angekommenen Ehemann, dem ein „Sprich mich nicht an!“ auf der Stirn steht.

Ich fühle mich super wohl in der Wohnung, in HH, mit den Wänstern, mit dem neuen Anfang und überhaupt. Verderben tut mir die Laune momentan nur der mürrische Mensch im Haus, der eigentlich lieber allein sein will.

Aber ich wollte über anderes schreiben. Nämlich über das lustige Wochenende. Öffentliches Heulen ist mir nicht unangenehm. Was raus muss, muss raus.
Gestern Abend erzählte mir eine entfernte Verwandte von Sascha auf einem Familientreffen, dass sie einen schwerst behinderten Sohn hatte, der vor einem Jahr mit 25 Jahren gestorben ist. Die Geschichte der Geburt, das Leben mit ihm, seine nächtlichen Schrei-Attacken, ein weiterer Unfall, jahrelanges Koma und schließlich sein Tod waren für mich so traurig, dass ich lange weinen musste. Diese Frau muss Unglaubliches durchgemacht haben! Und nun schafft sie es, relativ distanziert über ihn zu sprechen. Krass. 25 Jahre. Und ich durfte diese Geschichte hören. Vielleicht hatte sie genug Vertrauen, sie mir zu erzählen, weil wir ja auch ein geistig behindertes Kind haben? Hm. Sie ist absolut gegen „diese Inklusion“. Das hätte mit ihrem Jungen nicht funktioniert. Hm. Ich könne sie anrufen, sagt sie. Hm.

In sämtlichen Foren erzählen Eltern von Kindern mit Behinderungen, dass ihnen andere „Betroffene“ geholfen hätten. Aber ich fühle mich ja nicht betroffen oder hilflos. Ich habe genauso wenig gemeinsam mit dieser Mutter wie mit Angela Merkel. Ich will solche Geschichten hören, weil sie mich bewegen. Es macht mich auch stolz, wenn jemand mir so etwas persönliches erzählt. Nach Anatols Geburt hat mir sogar irgendeine Arbeitskollegin meiner Mutter, die einen behinderten Sohn hat, einen Brief geschrieben, „wie alles bei ihr war“. Das war mir mehr als unangenehm. Als ob wir nun etwas gemeinsam hätten. Ich habe gar nicht drauf reagiert.

Die Nacht war sehr unruhig in der fremden Umgebung. Auch, weil mich diese Mutter und ihre Art zu erzählen, irgendwie verwirrt hatten. Wir haben nicht gut geschlafen. Ziemlich übermüdet schleppe ich heute früh nun die Kinder zum Frühstück und bekomme plötzlich unerwartet den gesamten Vormittag gut gemeinte Ratschläge von verschiedenen Verwandten: ich solle mich doch „unbedingt um eine gute Förderung des Jungen kümmern“. Und dann noch der Ratschlag, „ich solle mir rechtzeitig helfen lassen, wenn ich mit mir nicht mehr klar komme“. Außerdem „solle ich doch mal ein bisschen lockerer sein“. Und „ich soll die verschrobenen Ansichten einiger Verwandter zum Thema Behinderung nicht zu nah an mich heran lassen.“ „Frauen, die weinen, sehen übrigens sehr unschön aus.“ Und last but not least, begrüßt uns ein Verwandter mit den Worten: „Ach, da sind die Sibirier. Und da ist ja der kleine Mongo.“Das war dann alles zusammen ein bisschen viel der frechen Sprüche für meine sensiblen Nerven. Zwischendurch stellte übrigens noch einer so nebenbei beim Beobachten von Anatol fest, was er denn alles nicht so gut beherrscht wie ein „normales“ Kind.

Vielen Dank für die vielen gut gemeinten Ratschläge und Kommentare! Habe sie alle verdaut, ausgeschissen und bereits das Klo runter gespült. Leben und Leben lassen.

 

 

 

 

 

 

Schuld war nur der Bossa Nova

Der Querdenker hat in seinem letzten Blogeintrag (mit dem schönen Titel „Des Wahnsinns Kinder“) auf den Punkt gedacht, worüber auch ich mich gerade aufrege. Hier schreibt er, dass seit Jahren diverse „wissenschaftliche“ Studien auftauchen, wer oder was an Autismus „schuld“ ist. Das Übel beginnt mit Impfungen, Gluten- oder eine Eiweißunverträglichkeit, Umweltfaktoren, wie an einer belebten Straße wohnen, und, und, und. Die Folge dieser Studien sind dann präventives Verhalten und sogar Heilungsversuche: Gegen Impfschäden „hilft“ nicht zu impfen. Gegen Allergien „helfen“ Diäten. Gegen zu viel Straßenverkehr hilft umziehen in die Arktis. Und sogar gegen die bösen Autismus-Bakterien gibt es ein Mittel.

Im Gegensatz zu der meines Erachtens in Westeuropa und den USA eher verbreiteten (oft absurden) Wissenschaftsgläubigkeit, geht die Schuldsuche in Russland in eine andere, nicht weniger absurde Richtung: eine russische Freundin, die einen mittlerweile siebenjährigen Sohn mit Down Syndrom hat, erzählte mir neulich von ihrer Überzeugung, dass ihre Vorfahren gesündigt hätten und dementsprechend ihr Sohn eine Prüfung Gottes für sie sei. Als Reaktion auf die weit verbreitete religiöse Erklärung des DS als Strafe, werden den Kindern häufig ein „besonderer Zauber“ oder sogar „übernatürliche Kräfte“ zugeschrieben.  In der Frühfördergruppe einer Bekannten ist vor einigen Monaten ein Junge gestorben. Als die Mutter des Verstorbenen einige Wochen später in die Gruppe kam, umarmten und trösteten alle Kinder sie, obwohl sie von dem Tod ihres Jungen nichts wussten. Meine Bekannte, die mir diese Geschichte erzählte, ist davon überzeugt, dass die Kinder „den Tod gespürt“ hätten und dass „sie hellseherische Fähigkeiten“ haben.

Na da bin ich ja gespannt, was unsere Kassandra uns prophezeien wird (wenn er dann mal sprechen kann). Hoffentlich kann man damit Geld verdienen.

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