Diagnose Down Syndrom – So war es bei mir

Ich werde immer wieder gefragt, wie es für uns war, als wir erfuhren, dass unser Sohn das Down Syndrom hat. Ich versuche mal, mich daran etwas genauer zu erinnern.

Alle Ultraschalluntersuchungen in der Schwangerschaft waren unauffällig. Auch die Geburt lief mehr oder weniger problemlos. Ich erinnere mich noch, wie kurz nach der Geburt die Ärztin sagte, das Kind wiege 2360 g und sei 48 cm groß. Ich stutzte sofort und fragte, warum das Baby so leicht sei? Die Ärztin schien das Gewicht überhaupt nicht zu beunruhigen. Sie sagte, dass manche Babys etwas kleiner sind und, dass das völlig normal sei. Ich war sehr glücklich über den kleinen Wurm.

Einen Tag später kam die Kinderärztin zu mir und bat mich, mit ihr gemeinsam das Kind genau anzuschauen. Sie fragte, ob mir etwas auffalle bei diesem Säugling? Ich sagte „Nein.“. Sie fragte, ob das Kind anders aussehen würde als mein erstes Kind. Ich sagte „Nein“. Dann sagte sie, ihr wären einige Merkmale aufgefallen, die meist bei Kindern mit dem Down Syndrom vorkommen. Ich sagte „O.k.“. Sie schaute mich an. Sie wiederholte den Satz, dass ihr einige Merkmale aufgefallen wären, die meist Kinder mit dem Down Syndrom hätten. Und fügte ungläubig hinzu „Haben Sie mich verstanden?“. Ich sagte, dass ich sie bereits beim ersten Mal verstanden hätte und gerne wüsste, welche „Merkmale“ sie meine. Ich hatte das Gefühl, dass meine Reaktion die russische Kinderärztin etwas überraschte. Sie erwartete wahrscheinlich, dass ich in Tränen ausbreche. In diesem Moment nahm ich diese Info allerdings nüchtern auf. Dies mag daran gelegen haben, dass ich in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Diagnosen und Medikamentenverordnungen von russischen Ärzten häufig Rücksprache mit deutschen Ärzten gehalten hatte, weil meine Russischkenntnisse nicht perfekt sind und, weil dir russische Medizin zum Teil sehr veraltet ist und die Behandlungsmethoden sich sehr stark von denen in Deutschland unterscheiden.

Die Kinderärztin zählte die Merkmale auf, die zu ihrer Blickdiagnose Trisomie 21 führten:

– 3. Fontanelle

– mandelförmige Augen

– etwas tiefer gelegene Ohren

– Stupsnase

– sehr trockene Haut

– unnormale Armhaltung (das konnte ich übrigens nicht nachvollziehen)

– leichte Sandalenlücke

Ich nahm das zur Kenntnis, wobei er für mich vollkommen „normal“ aussah. Die Ärztin betonte, dass dies nur eine Blickdiagnose sei und, dass sie noch einige Untersuchungen machen möchten, weswegen wir wahrscheinlich etwas länger in der Geburtsklinik bleiben sollten. Außerdem fragte sie mich, ob ich einen Gentest durchführen möchte, um 100%ige Gewissheit zu haben. Ich sagte „Ja.“. Am nächsten Tag wurde dem Baby schon das Blut abgenommen und zur Analyse eingeschickt. Sascha schrieb ich per SMS, dass wir wegen einiger Untersuchungen etwas länger in der Klinik bleiben müssen und, dass die Kinderärztin vermutet, das Anatol das Down Syndrom hat. Er reagierte ebenfalls nüchtern, fand natürlich schade, dass wir noch länger dort bleiben mussten. Die zehn Tage in der Geburtsklinik waren durchzogen von vielen Untersuchungen, bei denen immer irgendetwas nicht der Norm entsprach:

– Zyste im Kopf

– erweitertes Nierenbecken

– Blutunverträglichkeit mit Mutterblut (weswegen mir das Stillen verboten wurde)

Ich stillte trotzdem und wurde dafür von der Kinderärztin als verantwortungslos beschimpft. Mir ging es körperlich aber überhaupt nicht gut. Ich hatte nach der Geburt viel Blut verloren. Mir kreiste vierzehn Tage lang der Kopf, ich war noch wochenlang kreidebleich. (6 Wochen nach der Geburt musste ich noch einmal für eine Woche in die Klinik. Das war sehr schlimm für mich.) Dann die schlecht gelaunten Kinderärzte. Vor meinem Patientenzimmer balancierten die zentralasiatischen Bauarbeiter komplett ungeschützt im noch unfertigen 4. Stock eines Hochhauses. Es fiel häufig Baumaterial von ganz oben runter. Die Bauarbeiter am Boden wichen den fallenden Ziegelsteinen und Brettern aus, die im 4. Stock warnten sie meist rechtzeitig. Ich konnte diese Baustelle nicht mehr mit ansehen. Also zog ich die Gardine zu und machte sie kaum noch auf. An das Down Syndrom habe ich in diesen zehn Tagen nur nebenbei gedacht, ich war sehr mit mir selbst beschäftigt und hoffte bei jeder Untersuchung, dass es Tolja gut geht. Ab und zu las ich ein paar Texte über DS im Internet durch. In diesen zehn Tagen wurde ich mehrere Male von der Kinderärztin gefragt, ob sie dem Jungen Präparate (Vitamine und Mineralien) geben solle, ob ich ihn mit nach Hause nehme?.

Dann kamen wir endlich nach Hause. Ich weinte auf dem Heimweg vor Erleichterung. Hatte extra eine Decke genäht, in die wir das Baby einwickeln konnten. Weder unsere Tagesmutter noch meine Schwiegereltern, die gerade in Irkutsk waren, konnten diese Blickdiagnose bestätigen. Auch ich sah ein Baby, das trinkt, weint, kackert, strampelt, jedenfalls nichts Ungewöhnliches tat. Ich war mir sicher, dass er nicht die Trisomie 21 hatte und dachte auch kaum noch daran.

Drei Wochen später sollte Sascha dann das Analyseergebnis abholen. Er rief mich gleich an, als er den Zettel in der Hand hielt: „Anatol hat Freie Trisomie, steht hier. Aber wir lassen das nochmal in Deutschland testen.“, sagte er am Telefon, um mich gleich zu beruhigen. Jetzt brach ich in Tränen aus und sagte: „Was willst du noch in Deutschland testen? Bluttest ist Bluttest. Da hat niemand andere Ergebnisse.“

Ich weinte zwei Tage fast durchgängig. In vielen Beratungsbroschüren steht, dass die Eltern zuallererst um das „gesunde“ Kind trauern werden und dieses begraben müssen, um das geborene Kind anzunehmen. Diese Trauer hatte ich nicht. Zumindest nicht bewusst. Ich hatte das Kind vom ersten Moment an angenommen. Auch die Diagnose änderte nichts an meiner Liebe zu Anatol. Meine ersten Gedanken galten dagegen ausschließlich mir selbst: ich war enttäuscht. Das letzte Drittel der Schwangerschaft war anstrengend. Dann der Blutverlust nach der Geburt und diese schreckliche Zeit im Geburtshaus. Diese ganze Quälerei für ein „behindertes“ Kind? Heute sind mir diese Gedanken, die ich damals hatte, sehr unangenehm. Ich komme mir sehr egoistisch vor. Sascha ging mit der Diagnose so um, als wäre uns gesagt worden, dass das Kind rote Haare bekommen würde. Es spielte für ihn keine große Rolle. So nahm ich es zumindest wahr. Ich war in dieser Zeit kaum aufnahmefähig für ihn.

Dieses Selbstmitleid bei mir hatte ich dann nach diesen zwei Tagen raus geheult. Danach versuchte ich durch Artikel, Blogs, Bücher, Fotos, Dokumentationen und Zeitschriften alles über Trisomie 21 zu erfahren. Ich wollte wissen, was auf uns zukommt. Zwischendurch dachte ich auch ab und zu an Anatol als Kind mit Trisomie 21. Das heißt: er war immer ein „normales“ Baby für mich. Wir hatten keine OPs oder Krankenhausaufenthalte, er lag nicht schlaff auf dem Boden, ich konnte ihn problemlos stillen. Auch wurde er nach der Geburt nicht beatmet, hing nie an Schläuchen, sah nie bedauernswert oder traurig aus, hatte keine Schmerzen. Die Zyste im Kopf wurde schon drei Wochen nach der Geburt im Ultraschall nicht mehr gesehen. Er hatte einen minimalen Herzfehler (der ihn nicht beeinträchtigte), von dem mir gesagt wurde, dass der zu 99% zu wachse (was dann auch nach einem Jahr der Fall war). Das erweiterte Nierenbecken sollte sich von selbst zurück bilden, was ebenfalls nach einem Jahr der Fall war. Bei seinem Blut war nichts mehr auffällig. Ich hatte also niemals Anlass, mir Sorgen um ihn zu machen, denn er war immer mopsfidel. Wir hatten Glück.

Meine Cousine erzählte mir nach vier Monaten die Ängste meiner Mutter und meiner Tante, die sie am Telefon mit gehört hatte. Es hieß, sie befürchteten, dass ich jetzt mein komplettes Leben umstellen müsse, dass ich mein Leben lang dieses nie erwachsen werdende Kind an der Backe haben werde und, dass ich nie wieder richtig arbeiten gehen werden könne.

Ich selbst hatte diese Ängste nie. Es stimmt, dass ich etwas öfter zum Arzt mit Anatol musste, als ich mit der Lili in den ersten zwei Lebensjahren war. Aber das störte mich nicht. Momentan geht er ganz normal in den Kindergarten und die Physiotherapie und Heilpädagogik läuft ganz nebenbei dort ab. Ich habe also kaum einen Mehraufwand mit ihm. Das hängt auch damit zusammen, dass er sich sehr gut entwickelt. Da ich mich von Anfang an viel mit dem Thema beschäftigt hatte, wusste ich, dass viele Menschen mit Trisomie 21 sehr gut selbständig mit Assistenz leben können. Abgesehen davon, ist es für mich gar keine Schreckensvorstellung, wenn Anatol lange oder meinetwegen für immer bei uns lebt. Im Gegenteil. Damit hätte ich kein Problem. Kann mir aber kaum vorstellen, dass er das später so will. In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass sehr viele Menschen nach der Geburt ihre eigenen Ängste auf mich projizierten und voller Mitleid waren. Das finde ich schade und unnötig.

Was mich dagegen im ersten Jahr tatsächlich häufig beschäftigte (ca. einmal im Monat bekam ich Weinanfälle und wurde melancholisch), waren hauptsächlich zwei Ängste:

1. Werde ich mit ihm mal so richtig reden können? Wird er mich verstehen? Wird er mir normal antworten können?

2. Angst, um seine Zukunft. Es ist natürlich absurd, im ersten Lebensjahr so viele Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Aber es war so. Wird er einmal ausgegrenzt? Wird er gemobbt werden? Wird er Freunde haben? Dies waren meine Ängste.

Jetzt, zwei Jahre nach seiner Geburt, habe ich diese Weinanfälle gar nicht mehr und diese Ängste sehr selten. Ich lebe jetzt fast nur noch in der Gegenwart mit ihm. Und die Gegenwart mit ihm ist wunderschön und lustig und cool. Da er schon jetzt mit mir verständlich kommuniziert, uns versteht und reagiert, gehe ich davon aus, dass wir uns mal „richtig“ unterhalten können. Inwieweit seine Sprache ausgeprägt, differenziert und deutlich sein wird, weiß ich natürlich noch nicht. Daran denke ich manchmal. Aber eher mit Spannung als mit Angst. Momentan im Kindergarten sehe ich, wie toll er mit den anderen Kindern umgeht, und, dass er in der Gruppe ganz normal im Spielbetrieb dabei ist wie alle anderen auch.

Ich habe immer versucht, so bewusst wie es mir möglich ist, zu leben und immer getan, was ich wollte. Mein Leben hat sich durch Anatols Geburt nur insofern verändert, dass wir jetzt zwei Kinder haben und nicht nur eins. Vielleicht wird der Mehraufwand irgendwann deutlicher. Momentan kann ich das nicht behaupten. Ganz bestimmt weiß ich seit Anatols Geburt viel mehr als vorher über die Trisomie 21 und beschäftige mich seit dem intensiv mit dem Thema Inklusion. Ansonsten ist das dritte 21. Chromosom jetzt für mich das, was es für Sascha von Anfang an war: eine Eigenschaft, wie z.B. rote Haare.

 

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