Dilemma Dankbarkeit

Ich empfehle jedem unbedingt das neue Buch von Udo Sierck und Nati Radtke „Dilemma Dankbarkeit„. Es ist einfach großartig. Es geht hierin um die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. „Dieser Aspekt des Zeitgeistes fordert die Renaissance der Demut“, heisst es im Klappentext.

Die beiden Autoren, die seit vielen Jahren in der politischen Behindertenbewegung aktiv sind, meinen, dass Behinderte mehr denn je als Dankbarkeits-Apostel gelten, die der Aufwertung jener dienen, die sich mit ihnen abgeben.

Das Buch nähert sich dem Phänomen Dankbarkeit historisch und aktuell aus verschiedenen Perspektiven: Dankbarkeit in Philosophie und Literatur, Dankbarkeit als christliches Rituale, Dankbarkeit und Esoterik, Dankbarkeit kontra Emanzipation, Dankbarkeit und Wissenschaft sowie Dankbarkeit und Gerechtigkeit.

An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel aus dem Kapitel ‚Dankbarkeit als christliches Ritual‘ zitieren: Die Schriftstellerin Christa Schlett beschreibt ironisch distanziert ihre Erfahrungen mit christlicher Nächstenliebe: „Wenn ich mein Leben betrachte, so sind es bald 24 Jahre, die ich damit verbrachte, erst Behinderter zu sein und dann erst Mensch. Das hört sich hart an und ein wenig bitter aber man macht so seine Erfahrungen: Als ‚Nehmender‘ sei man doch immer wieder zu unterwürfiger Dankbarkeit und Katzbuckedienerei verurteilt. Erklärte mir vor wenigen Wochen doch erst wieder ein Verwandter mit gerechtem Ernst, dass wohl jedermann in den sogenannten Himmel komme, welcher an meiner Person Christenpflicht übe. Ja, nun weiß ich endlich, zu was ich in der Welt nützlich bin. Ist es nicht eine feine Sache, wenn man so vielen Menschen zur Seligkeit verhelfen kann…?“ [aus: Schlett, Chr.: …Krüppel sein dagegen sehr. Wuppertal 1970. zit.in: Ernst Klee, Behindertenreport, Frankfurt a.M.]

Wunderbar nachvollziehbar ist für mich das Kapitel ‚Dankbarkeit und Esoterik‘, denn es beschreibt mehrere Phänomene, die ich derzeit beobachte und noch nicht ordnen konnte. Zum Beispiel der allgegenwärtige Trend der Ratgeberliteratur, die nicht selten mit einer Behauptung beginnen, die bedenkenlos bekanntes sozialdarwinistisches Gedankengut „für ein Leben in Fülle“ aufgreift. Dankbarkeit, heißt es da, „sei ganz wichtig in unserem Leben; tiefe Dankbarkeit schafft innere Zufriedenheit und ein starkes Immunsystem – denn in einem gesunden Körper befindet sich ein gesunder Geist.“ Dazu führen Sierck und Radtdke einen Sinnspruch an, der Behinderung als Abschreckungsmodell nutzt: „Ich weinte, dass ich keine Schuhe mehr hatte, bis ich jemanden traf, der keine Füße mehr hatte.“

Dankbarkeit gilt einerseits als positives Lebensgefühl, andererseits kann sie in Selbsterniedrigung enden. Die Autoren fordern mit dem Buch die Reflexion über das Dilemma der Dankbarkeit.

Nati Radtke / Udo Sierck
Dilemma Dankbarkeit
ISBN 978-3-940865-92-2 I 2015
148 Seiten I 16 €

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