Same question as every year: Sonderschule oder Regelschule?

Unser mittlerweile sechsjähriger Sohn hat eine Trisomie 21. Meist wird Eltern von Kindern mit Down Syndrom der Besuch einer speziellen Sonderschule empfohlen, weil davon ausgegangen wird, dass die Barrieren, die mit dem Besuch einer Regelschule verbunden wären, für Kinder mit Down Syndrom einfach noch zu groß sind und nicht mit vertretbarem Aufwand und schon gar nicht sofort beseitigt werden könnten.

Die Entscheidung in welcher Schulform unser Sohn besser aufgehoben wäre, fällt nicht leicht und beschäftigt mich seit Jahren. Massive Barrieren und Unrecht scheint es in beiden Schulformen zu geben, genau wie positive Erfahrungen.

Zwei mögliche Szenarien

So stelle ich mir den Verlauf bei unserem Sohn vor: zunächst würde er in der Schule (egal welcher Schulform) höchstwahrscheinlich auf Pädagogen treffen, die mit seinem ungewöhnlichen, oft grenzüberschreitenden Verhalten und seiner anderen Art zu Lernen überfordert sein würden. Schließlich würde er nur das mitmachen, worauf er Lust hätte. Es würde wahrscheinlich völlig unmöglich sein ihn zum Rechnenlernen zu motivieren, wenn er gerade Fußball spielen möchte. Er würde dann im Matheunterricht auf seine Art reagieren mit Blödsinn machen (alle mit Quatsch ablenken und zum Lachen bringen), mit Versteckspielen unterm Lehrertisch oder Rock der Banknachbarin oder er würde sich andere lustige Strategien ausdenken, um für gute Stimmung und Harmonie in der Gruppe zu sorgen. Das pädagogische Personal würde dann recht schnell merken, dass jede Art von Schimpfen oder „Strafen“ entweder von unserem Sohn völlig ignoriert werden würde oder er mit noch heftigeren Vermeidungsstrategien reagieren würde. Unter Mitschülern wäre unser Sohn wahrscheinlich trotzdem beliebt, weil seine Ablenkungsmanöver und Grenzüberschreitungen kreativ und witzig, aber niemals beleidigend und bösartig wären.

An der Regelschule…

Spätestens nach einem halben Jahr würde die Regelschule sagen, dass sie überfordert sei und ihnen das „sonderpädagogische Wissen“ fehle, unseren Sohn adäquat in den Unterricht mit einzubeziehen, geschweige denn ihn gut fördern zu können. Außerdem würde er mit seiner Art Mitschüler im Unterricht zu stark beeinflussen und ablenken. Wir Eltern würden dann wahrscheinlich auf unser Recht auf Regelbeschulung und Teilhabe pochen, woraufhin sich die Schule den Arsch aufreißen würde so viele (Sonder-) Ressourcen wie geht für seine Schulbegleitung zu bekommen, damit unser Sohn von einem immer an ihm klebenden Schulbegleiter gesondert oder in der Klasse einzeln und ganztags beschäftigt, ruhig und auf Abstand zu den Mitschülern gehalten werden können würde. An einigen wenigen Tagen und in einigen wenigen Fächern würde er von sehr engagierten Lehrern ziemlich gut mit einbezogen werden können, das Gros des gesamten Schulalltags würde aber die Kommunikation und Beziehung zum Schulbegleiter ausmachen, der jedes Jahr wechseln und an 5 Schultagen im Monat krank sein würde. Dann würden wir Eltern bei einem Termin mit der Förderkoordinatorin der Schule nach dem Förderplan fragen und welche Lernziele die Klasse und Schule hätten? Die Förderkoordinatorin würde uns dann erzählen, was wir für einen tollen Sohn hätten, wie sehr er die Klasse bereichern und welche herausragenden Fortschritte er machen würde. Wir würden dann ganz besonders stolz auf ihn sein. Auf Fragen zum Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten würde die Förderkoordinatorin antworten, dass sie neben dem Gewährleisten von Teilhabe und der Versorgung der Grundbedürfnisse unseres Sohnes leider keine Kapazitäten haben würden, um ihm auch die nötige fachinhaltliche Förderung zukommen lassen zu können. „Unter uns“ würde sie dann hinzufügen, dass schon eher in den Kleingruppen an speziellen Sonderschule genug Zeit und Ruhe wäre, um SchülerInnen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Ansätzen Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen zu können. Aber, würde sie ergänzen, sie sei vor einem Jahr ja selbst an die Regelschule gekommen, weil sie ein Sonderschulsystem ungerecht und unzeitgemäß findet.

Nach 10 Schuljahren, in denen Jahr um Jahr das gleiche Elterngespräch geführt werden würde, würden wir drei Kreuze machen und unser Sohn ganz genau der gleiche tolle Mann sein, zu dem er auch an der speziellen Sonderschule herangewachsen wäre.

An der speziellen Sonderschule…

An der speziellen Sonderschule würde wahrscheinlich die Schülerzahl innerhalb kürzester Zeit massiv sinken, weil alle Kinder, die halbwegs zielgleich unterrichtet werden können, auf die umliegenden Regelschulen umgeschult werden würden (da dort Barrieren nach und nach immer weiter abgebaut werden würden) und einzig Kinder mit sehr starken kognitiven Einschränkungen, Mehrfachbehinderungen und/oder sehr starken Verhaltensauffälligkeiten an der speziellen Sonderschule verbleiben würden. Im fünften Schuljahr (im Schuljahr 2024/25) würde die BSB auf diese Entwicklung damit reagieren, dass alle Hamburger Schulen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und körperlich-motorische Entwicklung zusammengelegt werden würden. Hierin würden dann die SchülerInnen gesammelt werden, für die die Abschaffung der massiven Barrieren an den Regelschulen zu aufwendig und zu teuer ist. Wir Eltern würden daraufhin fassungslose Briefe an die Schule, die Schulbehörde und den Senator schreiben, dass gerade Deutschland mit seiner spezifischen Geschichte es unbedingt vermeiden muss, solche „Sammelbecken“ zu errichten, dass das Anregungspotenzial in solchen Gruppen nicht nur sehr gering, sondern oft sogar negativ ist und, dass diese Art der Konzentration der Schwächsten extrem schädlich für die Betroffenen und die Gesellschaft ist.

Nach 10 Schuljahren, in denen Jahr für Jahr die gleichen Briefe des Zorns ausgetauscht werden würden, würden wir drei Kreuze machen und unser Sohn ganz genau der gleiche tolle Mann sein, zu dem er auch an der Regelschule herangewachsen wäre.

So what?

Vielleicht überschätze ich die negativen Konsequenzen einer Entscheidung für die „falsche“ Schulform für unser eigenes Kind. Er hat schließlich uns und egal wie, er wird seinen Weg gehen.

Auch werden zum Glück zukünftig immer mehr spezielle Sonderschulen geschlossen werden und immer mehr Schüler in Regelschulen integriert. Aber der Erhalt bzw. die Schaffung von Bildungseinrichtungen, in denen ein „Rest“ verbleibt und zusammen konzentriert wird, halte ich für falsch und in einem demokratischen Land wie Deutschland ist dies ethisch auch absolut nicht vertretbar.  Von daher wünsche ich mir, dass man von Anfang an und immer die Schwächsten mitdenkt und Bedingungen gerade für deren qualitativ umfangreiche Teilhabe schafft.

Lili sägt Tolja den Kopf ab.
Tolja rächt sich und überwältigt sie.

La tristesse durera

Im Februar hatte mich mal eine Studentin interviewt, die ihre Bachelor-Arbeit über bloggende Eltern von behinderten Kindern schrieb. Zu diesem Zeitpunkt überlegte ich das erste Mal, warum ich hier schreibe und warum gerade das?

Ganz klar schreibe ich nur, wenn ich über etwas wütend bin, wenn mich etwas ängstigt oder, wenn ich verzweifelt bin oder mich hilflos fühle. Oft sind es Situationen, die unser behindertes Kind betreffen, manchmal auch andere. Immer sind es sehr emotionale Situationen. Wenn ich das ausspreche was ich schreibe, muss ich meist weinen. Auch beim Schreiben weine ich oft. Das Schreiben hat dann so eine Art therapeutische Wirkung. Manchmal schreiben mir auch andere Mütter, dass sie manchmal ähnliche Gedanken haben oder ähnliche Situationen erleben. Das tut dann ein bisschen gut, ich bin nicht so allein mit dem Schmerz.

Immer mal wieder poste ich auch Urlaubsberichte. Ich glaube damit wollte ich mir selbst immer beweisen, dass nicht alles immer anders ist bei uns und wir eine ganz normale Familie sind. Ein bisschen Welt, ein bisschen Familienidyll, ein bisschen Sonnenschein. Bei guten Bildern wirkt immer alles so harmonisch und leicht. Gestern kamen wir aus unserem diesjährigen Sommerurlaub zurück: aus der wunderbaren Normandie mit ein paar Tagen Zwischenstopp in Zeeland (Niederlande). Es war wirklich ein sehr schöner Urlaub. Kein Streit, viel guter Käse, Cidre, Schlösser, Fußball und Monopoly.

Das Foto ist so schön. Man sieht kaum wie traurig ich bin. Denn leider haben wir uns als Paar sehr stark voneinander entfernt, sind zwar respekt- aber kaum liebevoll zueinander und stehen wieder einmal kurz vor der Trennung. La tristesse m’accompagne.

Das sogenannte Elternwahlrecht

Anatol ist im März sechs Jahre alt geworden und wird im Sommer schulpflichtig. Im November 2017 hatten wir einen Rückstellungsantrag gestellt, weil wir meinen, dass folgende Punkte Anatol und allen Beteiligten den ein Jahr späteren Schulanfang und -besuch wahrscheinlich erheblich erleichtern würden:
– Anzeichen eines selbständigen Toilettengangs
– bessere (Aus-) Sprache
– besseres Regelverständnis und Verständnis der Bedürfnisse von Anderen

Zur Sauberkeit
Anatol ist nach wie vor auf Windeln angewiesen und macht kaum Anzeichen eines eigenständigen Toilettengangs. Wir Eltern wissen nicht genau, ob er den Toilettendrang zuvor noch nicht ausreichend spürt, ob er ihn zu spät spürt, ob er oft zu beschäftigt ist, um auf die Toilette zu gehen oder, ob es ihm unangenehm auf der Toilette ist. Wir gehen davon, dass er in den kommenden 15 Monaten hier Fortschritte machen wird.

Zur Sprachentwicklung
Anatols Wortschatz und Sprechfähigkeit hat sich in den letzten 12 Monaten verbessert. Das bedeutet, dass er in diesem Zeitraum nicht nur einige wenige Zwei- und Dreiwortsätze (z.B. „Geht nicht mehr.“ „Ich bin dran.“ „Weiß ich nicht.“) sowie das Zählen bis drei gelernt hat, sondern auch, dass seine Aussprache etwas klarer und deutlicher geworden ist. Wenn Anatol nicht müde oder unkonzentriert ist, dann versteht er Vieles. Das Sprechen ist aber die größte Baustelle, die unseres Erachtens einen Schuleintritt in diesem Jahr und die Kommunikation mit Mitschülern und Lehrern sehr behindern würde. Wir gehen jedoch auch hier davon aus, dass er in den kommenden 15 Monaten Fortschritte machen wird.

Zum Regelverständnis
Anatol hält sich oft nicht an Regeln (er läuft z.B. immer auf dem Fahrradweg, bewirft oft Autos mit Steinen oder Stöcken, haut oft Passanten beim Vorbeigehen, behauptet vor dem Essen immer er hätte sich die Hände gewaschen, beschuldigt seine Schwester oder andere wenn er etwas kaputt gemacht hat, rupft Blumen ab, tötet Ameisen oder kleine Käfer, schnallt sich im Auto während der Fahrt ab, usw.) Manchmal verstößt er bewusst gegen Regeln oder deutet es nur an, um daraus einen Spaß zu machen, denn er ist auch ein großer Komiker. Lautes und/oder wiederholtes Schimpfen führt meist nicht dazu, dass Anatol ein unerwünschtes oder gefährliches Verhalten unterlässt. Er testet alles und Jeden aus und ist dabei unglaublich kreativ.
Oft hält er sich aber auch nicht an Regeln, weil er sie nicht kennt oder, weil er sie schlicht wieder vergessen hat. Er ist aber immer auf ein harmonisches Miteinander bedacht, will von allen gemocht werden und tröstet jeden der traurig ist. Auch „schimpft“ er mit Anderen, die sich nicht an Regeln halten. Wir gehen davon aus, dass Anatol im kommenden Jahr mehr Regeln verinnerlicht hat und Grenzen besser einhält.

Zum Verständnis der Bedürfnisse von Anderen
Anatol stellt noch seine eigenen und momentanen Bedürfnisse in den Vordergrund. Er muss noch lernen, dass andere Menschen andere Bedürfnisse und Vorlieben haben als er. Vielleicht lernt er in den kommenden Monaten, andere Bedürfnisse besser wahrzunehmen und zu respektieren. Dazu gehört unter anderem auch, dass er seinen eigenen Körper und seine Kräfte wahrnimmt und einschätzen kann.

Bisher (wir haben jetzt Ende Mai) haben wir keine Antwort der Schulbehörde auf unseren Rückstellungsantrag bekommen. Im August würde die erste Klasse schon losgehen, ein Fakt, den wir derzeit noch verdrängen, weil wir uns einen Schulbesuch einfach noch nicht so richtig vorstellen können.

Im Zuge der Rückstellung bzw. der anstehenden Schulpflicht durften wir wieder viele Berichte über unseren Sohn lesen: von der Kita, vom Logopäden, vom Jugendpsychiatrischen Dienst und das sonderpädagogische Gutachten, das ein Sonderpädagoge der nahe gelegenen Schule für Kinder mit dem sogenannten Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erstellt hatte. Berichte über Anatol zu lesen ist immer sehr komisch. Wie all diese Leute unser Kind beschreiben…

Keine einzige Ermutigung, das Kind würde seinen Weg auch in der Inklusion gehen

All diese Leute sagten uns, dass eine Rückstellung für Anatol sehr unwahrscheinlich ist, weil „eine Rückstellung nur dann genehmigt wird, wenn absehbar ist, dass das Kind sich in einem Jahr auf dem Entwicklungsstand eines durchschnittlichen Erstklässlers befindet.“ Selbstverständlich wird er, insbesondere bei den oben genannten Punkten, in einem Jahr nicht dem Entwicklungsstand der anderen Erstklässler entsprechen. Trotzdem wird er sich in einem Jahr weiter entwickeln und nach seinem Tempo Fortschritte machen. Dies scheint keine Rolle zu spielen. All diese Professionellen (die Kita-Erzieherin, der Leiter des Jugendpsychiatrischen Dienstes, der Sonderpädagoge, der die Diagnostik durchgeführt hat,…) haben uns die Sonderschule empfohlen und von der Regelschule abgeraten. Dr. Wistuba vom JPD sagte z.B., dass unser Sohn dann irgendwann weinend auf dem Schulhof stehen würde und wir ihm das doch nicht antun wollen, oder? Die Kita-Erzieherin sagte, dass sie sich eine Regelbeschulung bei Anatol nur vorstellen könne, wenn ihn immer jemand im Auge hätte, denn er sei ständig auf Erkundungstour und macht viel Blödsinn (die Kitaleitung nennt ihn sogar liebevoll den leisen Übeltäter). Der Sonderpädagoge sagte, dass er in der Regelschule nur dabei wäre aber niemand dort die Zeit hätte ihm in Ruhe Lesen und Schreiben beizubringen, dies wäre eher möglich an der speziellen Sonderschule.

Des weiteren sagte der Sonderpädagoge, dass man eine Rückstellung bei diesen Kindern auch deshalb nicht genehmigt, weil man davon überzeugt ist, dass sie in kleinen Schulklassen mit auf deren Bedürfnisse ausgerichtete Sonderpädagogen die Kinder besser fördern könne als in der Kita. Da diese Argumentation nur zutrifft, wenn man in die Sonderschule geht, scheint die Behörde hier eine inklusive Beschulung eines Kindes mit diesem Förderschwerpunkt nicht vorzusehen.

Neben den Professionellen im Schulsystem sind es die Eltern der nichtbehinderten Kinder, die uns verunsichern, indem sie erzählen, sie wollen lieber in die Privatschule, „weil da nicht so viele verhaltensauffällige Kinder sind, die ihr Kind ablenken und negativ beeinflussen“. Oder die Eltern, die wollen, dass ihr Nachwuchs sich am Nachmittag zum Spielen ruhig ab und zu mit unserem behinderten Kind verabredet für die „soziale Kompetenz“, aber gemeinsamer Unterricht muss doch nicht sein.

Dann sind da noch befreundete Eltern von Kindern mit Down Syndrom, die inklusiv beschult werden. Immer wieder erzählen sie, dass die Schulbegleitung ständig krank ist, die Lehrer sich kaum auf das Kind einlassen können, es häufig einfach unbeaufsichtigt den Schulhof verlässt, nicht zur Klassenfahrt mit darf, beim Musikprojekt nicht dabei sein kann, usw…

Sich trotz all dem für das gemeinsame Lernen in der Regelschule zu „entscheiden“, fällt unglaublich schwer. Wenn man nur ganz leise und verunsichert äußert, dass Ausgrenzung nicht sein darf und, dass sie unsere Demokratie gefährdet, wird man oft gleich als Ideologin beschimpft, die ihr Kind opfern will für eine verklärt-romantische Idee von Gemeinschaft Aller in Vielfalt.

Momentan bin ich oft sehr traurig.

Lange ärgerte mich, dass Anatol nun schon in die Schule gezwungen wird. Mittlerweile gehen wir aber davon aus, dass er nicht zurück gestellt wird und wägen schon den Aufwand eines Widerspruchs mit den Nachteilen der früheren Einschulung ab.

Unendlich traurig macht mich aber, dass wir diesen, für ihn von so vielen Anderen vorgesehenen, Sonderstrukturen so dermaßen ausgeliefert sind und, dass wirkliche Alternativen nicht existieren und auch, dass meine Wut und Traurigkeit darüber viel zu oft als Überforderung interpretiert werden. Sie werden zu meinem persönlichen Problem gemacht.

Die stabilen Parallelwelten für Behinderte sind aber das Problem dieser Gesellschaft und die schlecht ausgestattete schulische Inklusion. Sie bewirken, dass wir heute, im Mai 2018, noch immer keine Wahl haben: die nächste Schwerpunktschule (die wir in HH besuchen müssen wenn wir uns für Inklusion „entscheiden“) ist schrecklich, die Spezielle Sonderschule ist schrecklicher.

Schrecklich. Entsetzlich, beängstigend, furchtbar, grässlich, grausam, schaurig.

Was tun?

 

*update 21.06.2018

Wir haben endlich die Rückmeldung von der Behörde, dass Anatol ein Jahr zurück gestellt wird. Er wird nun ein weiteres Jahr die Kita besuchen, worüber wir uns sehr freuen. Die Entscheidung, welche Schule es dann in einem Jahr wird, schieben wir weiter hinaus.

Der Frühförderwahn als logische Konsequenz des allgegenwärtigen Optimierungszwangs

„Heutzutage kann man mit Frühförderung ganz viel machen und selbst Kinder mit Down Syndrom könnten sich den Umständen entsprechend ganz gut entwickeln. Man muss da nur dran bleiben.“ Diese oder ähnliche Sätze hören Eltern von Kindern mit Trisomie 21 meist schon kurz nach der Geburt und dann regelmäßig bis etwa zur Pubertät. Danach ist sowieso dann alles verloren, denn „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.“, meinen die traditionellen Pädagogen.

Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen
Kindheit verläuft in hochproduktiven Ländern wie Deutschland immer stärker nach einem globalisierten Universalmodell, ausgerichtet auf eine möglichst intensive und frühe kognitive Förderung. In den Kitas steht statt Basteln die Erweiterung des Zahlenraums auf dem Programm, statt Freispielen gilt musikalische Frühförderung. Die Gesellschaft ist von ökonomischen Imperativen bestimmt: Leistung, Anstrengung, Selbstdisziplin, Kontinuität. Wir leben in einer Zeit der Effizienzbestrebungen und des Controlling. Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen macht selbstverständlich auch nicht Halt vor Kindern mit Trisomie 21. Eltern fühlen sich oft gezwungen, das Beste aus ihren Nachwuchs raus zu holen.

Der drängende Wunsch, bloß keine Möglichkeiten und Fähigkeiten brachliegen zu lassen, hat manchmal wahnhafte Züge. Manche Eltern haben ein schlechtes Gewissen, wenn ihr Kind nicht mindestens ein Förderangebot pro Tag wahrnimmt. Andere Eltern fühlen sich schlecht, weil ihr Kind mit Trisomie 21 mit zwei Jahren immer noch nicht läuft. Haben sie nicht genügend Bewegungsanreize gegeben? Sollten nicht weitere Physiotherapie-Stunden privat finanziert werden, bevor das späte Laufen die gesamte Entwicklung des Kindes um Jahre zurück wirft? Wieder andere Eltern sind verunsichert, weil ihr Kind mit sechs Jahren immer noch kein Wort spricht. Was machen sie falsch? Zu wenig Bücher gelesen? Zu wenig gemeinsame Lieder gesungen? Nicht genug Sprachförderspielzeug besorgt? Ist der Logopäde inkompetent? Oder reden die Erzieher in der Kita nicht genug mit dem Kind? Denn irgendjemand muss ja Schuld sein, wenn das Kind nicht so funktioniert wie andere.

Hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines Kindes mit Trisomie 21 (zwar spielerisch, aber konsequent) zu therapieren und das Kind permanent fördern zu wollen, steht Hilflosigkeit und Distanzsuche. Das noch nicht Erreichen von bestimmten Entwicklungsstadien wird als krankhaft und falsch wahrgenommen. Und das darf nicht sein und muss mit ausreichend Förderung verhindert bzw. verringert werden.

Es ist die Nicht-Anerkennung des Anders-Seins
Ein Kind wird nach seinen Funktionen be- und verurteilt und permanent mit statistischen Standardnormen oder „normal“-entwickelten Gleichaltrigen verglichen, zuerst von den Eltern, dann vom Kinderarzt, dann von den Erziehern in der Kita, dann von den Lehrern in der Schule, usw..

Verunsichern lassen sich viele Eltern von den absurden „Vielfalt ist großartig“-Institutionen: „Ihr Kind darf nur mitmachen, wenn es keinen oder geringen Unterstützungsbedarf hat. Es darf mitmachen, wenn ein Kollege freiwillig den Mehraufwand betreibt.“ Es kann doch schließlich nicht das ganze System geändert werden wegen eines Kindes. Das ist unmöglich. Also muss das Kind verändert werden. Es muss möglichst viel selbständig können – egal ob Trisomie 21 oder nicht. Egal welche Einschränkung, es muss möglichst wenig Aufwand machen, möglichst ein pflegeleichtes, angepasstes Kind sein. Dann ist es für alle Seiten so viel entspannter.

Ergebnisse einer sechsjährigen Studie zu Frühförderung von Kindern mit Trisomie 21
Cora Halder, die selbst eine erwachsene Tochter mit Trisomie 21 hat, fragt in ihrem Artikel „Wann sind wir wieder frei?“ in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Leben mit Down Syndrom „Was wollen die jungen Menschen mit Trisomie 21 selbst? […] Vielleicht möchten sie lieber gemütlich daheim auf dem Sofa sitzen, fernsehen, Chips essen und Cola trinken, lieber passiv sein als sich aktiv zu betätigen.“ Sie schlussfolgert für sich in ihrem Artikel, dass es eine lebenslange Aufgabe der Eltern ist, ihre Kinder davor zu bewahren, denn ein solches Leben wäre sowohl für die Gesundheit als auch für die Psyche auf die Dauer schädlich, schreibt sie.

Herr P., Experte für Trisomie 21, kam jedoch nach einer sechsjährigen Begleitforschung zu Therapie und Förderung bei Kleinkindern mit Down Syndrom zu einem gegenteiligen Ergebnis: „Arschloch. Eiermann. Popokacka. Alle blöd.“

„Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert – Deine hat bis jetzt nicht interessiert!“

Anatol (5) geht mittlerweile schon in die Vorschulgruppe der Kita. Heute früh habe ich die Mutter einer seiner langjährigen Kita-Freundinnen getroffen, die zusammen mit ihrem Lebenspartner für ihre gemeinsame Tochter die Vorschulgruppe in einer nahe gelegenen privaten Schule gewählt hat. Diese Schule nimmt übrigens – genau wie auch die Montessori-Schule Hamburg, die Waldorfschulen und fast alle anderen Privatschulen in Hamburg keine Kinder mit Behinderung auf.  Auf meine Frage, warum sie diese Schule gewählt haben, sagte sie, dass ihre Tochter schnell abgelenkt ist, mit so vielen Rabauken gar nicht klar kommt und ein geschützteres, ruhiges Lernklima mit genügend Aufmerksamkeit benötigt. Ich antwortete etwas forsch, dass sie damit ja dann erfolgreich der Inklusion entgangen sind. Sie ging etwas beleidigt fort.

Eine Stunde später entschuldigte ich mich per SMS bei ihr dafür, dass ich sie so angegangen bin, dass das nicht meine Absicht war und ich mich freue, dass sie mit der Schule so zufrieden sind. Sie antwortete:

Hallo J., danke für deine SMS. Ich kann deinen Unmut durchaus nachvollziehen. Gleichzeitig bin ich es inzwischen aber auch leid, mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, dass wir [Name der Tochter] auf diese freie, demokratische Schule gegeben haben. Das geschah schließlich nicht aus einer Laune heraus, sondern nach gründlichem Abwägen ihrer Bedürfnisse und dem Angebot der umliegenden Schulen. Das Thema ist sehr vielschichtig, und bei der Diskussion um Schulformen, Inklusion etc. wird leider oft außer acht gelassen, dass auch scheinbar „fitte“ Kinder z. B. emotional nicht so robust sind und die Schulform auch für diese Kinder passen muss. Auf einer vierzügigen Regelschule mit großen Klassen und weniger Lehrern wäre [Name der Tochter] vermutlich unter gegangen. Das wollten wir nicht – auch wenn wir ihr damit nicht unbedingt Vielfalt vorleben. Das müssen wir dann an anderer Stelle tun. Dir einen schönen Abend. Liebe Grüße, [Name der Mutter]

Ich hatte hier in diesem Blog schon einmal was zur Vielfalt als Last und dem asozialen Bildungsbürgertum geschrieben. Wie sich eine privilegierte Elite – vergleichbar mit dem Auftreten der Neuen Rechten – auch noch als Opfer gebärdet, als zu schützende Minderheit, die sich ihren Status schließlich lang und hart erarbeitet und deshalb ein Recht auf Privilegien habe,  während sie anderen die Teilhabe abspricht, finde ich einfach nur zutiefst egoistisch und a s o z i a l.

Freiheit hat mit Deutschland selbstverständlich was zu tun –
Sofern man wirtschaftlich dazu was beiträgt!
Manche müssen unfrei bleiben. Keiner ist immun
Wenn er den Zug versäumt, der ihn dann freiträgt
Wenn er den Zug nicht sieht und alles komplizieren muss –
Tja, dann wird es Regeln geben, die er respektieren muss!
Dann wird ihm sein Arbeitgeber vielleicht sagen:

Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein!
Meine Freiheit: Ja! Deine Freiheit: Nein!
Meine Freiheit wird von der Verfassung garantiert
Deine hat bis jetzt nicht interessiert!

Meine Freiheit heißt, dass ich Geschäfte machen kann
Und deine Freiheit heißt, du kriegst bei mir einen Posten
Und da du meine Waren kaufen musst, stell‘ ich dich bei mir an
Dadurch verursacht deine Freiheit keine Kosten!

Und es bleibt dabei
Dass deine Freiheit immer wieder meine Freiheit ist!
Deine Freiheit bleibt
Meiner einverleibt
Und wenn ich meine Freiheit nicht hab‘
Hast du deine Freiheit nicht
Und meine Freiheit wird dadurch zu deiner Pflicht!
Und darum sag‘ ich dir:

Verteidig meine Freiheit mit der Waffe in der Hand
Und mit der Waffe in den Händen deiner Kinder!
Damit von deinen Kindern keines bei der Arbeit je vergisst
Was Freiheit ist!

Meine Freiheit sei dir immer oberstes Gebot!
Meiner Freiheit bleib treu bis in den Tod!
Wenn dir das vielleicht nicht logisch vorkommt, denk an eines bloß:
Ohne meine Freiheit bist du arbeitslos!

Ja, Freiheit ist was anderes als Zügellosigkeit
Freiheit heißt auch Fleiß
Männlichkeit und Schweiß!
Ich werd‘ dir sagen, was ich heutzutag‘ als freiheitlich empfind:
Die Dinge so zu lassen wie sie sind!

Drum ist in jedem Falle meine Freiheit wichtiger als deine Freiheit je
Meine Freiheit: Yes! Deine Freiheit: Nee!
Meine Freiheit ist schon ein paar hundert Jahre alt –
Deine Freiheit kommt vielleicht schon bald!

Aber vorläufig ist nichts aus deiner Freiheitsambition
Du hast noch keine Macht und keine Organisation!
Ich wär‘ ja dumm, wenn ich auf meine Freiheit dir zulieb‘ verzicht
Darum behalt ich meine Freiheit. Du kriegst deine Freiheit nicht –
Noch nicht!

Georg Kreisler

 

Das Dilemma der Inklusion unter den Fittichen der Sonderpädagogik

Die Inklusion in der allgemeinen Schule wird derzeit wie selbstverständlich an sonderpädagogische Förderung geknüpft, für die spezielle sonderpädagogische Kompetenzen als unverzichtbar gelten, die wiederum an die sonderpädagogische Ausbildung gebunden werden. Über 80 % der derzeit in der allgemeinen Schule beschulten Kinder mit so behaupteten sonderpädagogischem Förderbedarf sind übrigens nicht die klassischen Rollstuhlfahrer oder Kinder mit Trisomie 21, sondern Schülerinnen und Schüler, die auf Grundlage sonderpädagogischer Diagnostik als Behinderte in den Bereichen Lernen, Verhalten und/oder Sprache gelten. Die Zahl der Kinder, die als „behindert“ im Bereich Verhalten eingestuft werden, hat sich seit 1999 sogar mehr als verdoppelt, womit auch die Sonderschullehrerausbildung unter dem Anspruch der Inklusion massiv ausgebaut wurde und weiter wird.
Nach Auffassung der Sonderpädagogik kann Inklusion von Behinderten im deutschen Schulsystem erst dann verwirklicht werden, wenn Sonderschullehrkräfte in allen Schulformen und -stufen der allgemeinen Schule flächendeckend verankert und für die direkte und indirekte sonderpädagogische Förderung aller Kinder zuständig geworden sind.

Ein kurzer Rückblick in die Zeit, in der sich die Heil- bzw. Sonderpädagogik als eigene Disziplin in Abgrenzung zur allgemeinen Pädagogik behauptete, macht deutlich welche Gefahr heute in der „Sonderpädagogisierung“ der Inklusion steckt:

Die Vorstellung der allgemeinen Pädagogik von der Bildsamkeit ALLER Menschen wurde mit der Gründung des Hilfsschulverbandes am 12. April 1898 auf institutioneller Ebene in Frage gestellt. Zu dieser Zeit setzte sich die Auffassung durch, es gäbe Bildungsfähige, Noch-Bildungsfähige und Bildungsunfähige, die institutionell geteilt und unterschiedlich unterrichtet bzw. behandelt werden sollten. Das international einzigartige spezielle Hilfs- bzw. Sonderschulwesen mit seinen „professionellen Zuständigkeiten“ bildete sich in Deutschland heraus. Den Normalen, die als Bildungsfähig galten, wurden die Anormalen gegenüber gestellt, die nur durch Sondererziehung in einer auf ihre spezielle Anomalie zugeschnittenen Schule optimal gefördert werden konnten. Inzwischen ist in der Sonderpädagogik, so Dagmar Hänsel in ihrem Buch „Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus“ statt von Anormalen und Normalen von Behinderten und Nichtbehinderten die Rede. Weiter heißt es bei Hänsel: „Den unter den Bedingungen ihrer Sondererziehung in der Sonderschule als noch bildungsfähig bestimmten Schwachsinnigen…wurden die Blödsinnigen gegenübergestellt, die als Bildungsunfähig behauptet wurden. Die Blödsinnigen gehörten nach dieser bestimmung nicht in eine Sonderschule, sondern in die Idiotenanstalt, in der sie der Pflege und der Dressur, nicht des Unterrichts und der Erziehung bedurften. Während die Schwachsinnigen, allerdings nur unter der Bedingung ihrer Sondererziehung in der Sonderschule, für die Gesellschaft ökonomisch und sozial noch brauchbar gemacht werden konnten, galt das für die Blödsinnigen in den Idiotenanstalten nicht.“

Mit diesem Konzept entwickelte sich ein (Sonder-) Schulsystem im Schulsystem, das seine Schülerschaft aus der allgemeinen Schule negativ rekrutiert(e) und das seitdem eine strikte Trennung von allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik sowie allgemeiner Lehrerausbildung und sonderpädagagogischer Lehrerausbildung zur Folge hatte. Schließlich war besagter Hilfsschulverband (heute der Verband Sonderpädagogik), der gegen Proteste von Volksschullehrern und Eltern forderte, dass der Eintritt in die Hilfsschule nicht dem Elternwillen überlassen werden dürfe, sondern gesetzlich geregelt werden müsse. Der Sonderschulzwang folgte, der erst vor wenigen Jahren aufgehoben wurde. In ihrem Buch zeigt Hänsel auch die aktive Rolle des Hilfschulverbandes im Nationalsozialismus. Der Verband gab seine ungeteilte Zustimmung zu der rassenhygienischen Politik der Nationalsozialisten und kommunizierte seine Positionen verbandsöffentlich. In Denkschriften der „Reichsfachschaft Sonderschulen“ wurde die besondere Aufgabe und Unentbehrlichkeit der Hilfsschule als „bestes Sammelbecken“ für die wirkungsvolle Umsetzung der Rassenpolitik herausgestellt.

Ab 1922 etablierte der Münchener Hilfschullehrer Rupert Egenberger mit der Gründung der „Gesellschaft für Heilpädagogik“ zusätzlich die Heilpädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Egenberger vertrat die Auffassung, dass ein Fünftel aller Kinder Psychopathen seien, um daraus mit rassenhygienischen Argumenten die Notwendigkeit heilpädagogischer Forschung und Ausbildung abzuleiten. Zur Gruppe der „Degenerierten“ rechnete Egenberger die körperlich, geistig und sittlich Unfähigen, die Schwachsinnigen und geistig Trägen, die Asozialen, Rechtsbrecher, Kriminellen und Hochverräter sowie die Neurotiker und Geisteskranken. Dies sei eine „Lebensfrage für das deutsche Volk“, deshalb seien „Erkennen und Behandeln“ und damit die Einrichtung heilpädagogischer Forschungs- und Ausbildungsstätten erforderlich. Das Erkennen von menschlichen Mängeln und Fehlern, von Abwegigkeiten und Anomalien, sollte ein wesentlicher Grundbaustein der Diagnostik sein.

Zurecht fragt Dr. Brigitte Schuhmann in ihrem Artikel „Neubewertung der sonderpädagogischen Geschichte?“: „Was zeichnet die Sonderpädagogik heute als eigenständige Wissenschaftsdisziplin [eigentlich] aus? Worin besteht ihre sonderpädagogische Kompetenz, die heute für unverzichtbar gehalten wird und die die Politik dazu veranlasst, die Sonderschullehrerbildung massiv auszubauen? Gibt nicht die Sonderpädagogik heute wie die Hilfsschulpädagogik damals vor, die „besonderen“ Kinder mit ihrer Diagnostik trennscharf von den „anderen“ identifizieren zu können, um sich mit ihrer Zuständigkeit für diese Kinder den allgemeinen Pädagogen als Entlastung anzubieten?“

Statt sich zunächst umfassend mit der eigenen Geschichte sowie dem eigenen Verständnis von Pädagogik auseinanderzusetzen, nimmt die Behindertenpädagogik-Branche heute erschreckende, zum Teil profitorientierte, Dimensionen an. Mittlerweile gibt es zahlreiche Heil- und Sonderpädagogen oder auch Therapeuten, die private oder vermeintlich wissenschaftliche Lern- und Förderinstitute gründen, in denen sie mit allen möglichen angeblich kindzentrierten, kreativen, alle Sinne umfassenden und die Neurodiversitätsforschung berücksichtigenden Lerntherapien behaupten, nur so würde das „andersartige“ Kind besser, stressfreier oder richtig lernen (können). Sie alle wollen dem Kind helfen sich besser anpassen zu können, besser teilhaben zu können bzw. eine höhere Zone der Entwicklung erreichen zu können. Sie alle haben spezielle „Programme“ entwickelt mit denen sie genau das erreichen und damit vielen unsicheren Eltern eine oft trügerische Hoffnung auf ein schlaueres, „normaleres“ Kind geben wollen.

Dass die Anerkennung von Neurodiversität und Anderssein die Grundlage dieser pädagogischen „Programme“ sein soll, ist schlicht absurd. Neuere Forschungsergebnisse werden lediglich dazu missbraucht, um (z.B. „für den jeweiligen Neurotyp“) eine noch passendere, effektivere Lernmethode zu entwickeln, um die Kinder einer bestimmten Norm anzupassen oder ihr näher zu bringen. Die gesamte Behindertenpädagogik und was sich daraus bis heute entwickelt hat, bleibt defizit- und damit normorientiert. Und da derzeit die Inklusion fast ausschließlich in den Händen der Sonderpädagogik ist, gibt es kaum Grund zur Hoffnung auf Veränderung. Der einzige, mir derzeit bekannte, pädagogische Ansatz für gemeinsames Lernen aller Kinder, der offen ist und kein fest gelegtes (Entwicklungs-) Ziel für einzelne Kinder vor Augen hat, stammt – und das ist nicht überraschend – von einem Allgemeinpädagogen und nicht von einem (dafür ausgebildeten) Heil- oder Sonderpädagogen.

In dem Song „Lass mich mal machen“ von Sookee und Form heisst es treffend:

„Yeah schön, dass du so gut bescheid weißt, was für mich das Beste ist!
Und mich das auch gleich wissen lässt, doch wenn ich ehrlich bin, stresst es mich.
Und ehrlich bin ich gern, denn eure dummen Sarkasmusspielchen
sind voll die Energieverschwendung, keine Umschweife,
weil ich auch gern real bin.
Du hast auch keinen Vorsprung, du druckst nur Mitgliedsausweise
und meinst Noten verteilen zu müssen, obwohl ich drauf scheiße.
Ich bin hier nicht für dich, doch muss das immer wieder klarstellen.
Dein Edukationismus kann mich am Arsch lecken.
Ich toleriere Fehler nicht nur, sondern feier sie.
Solang man das nicht mit Absicht macht oder löscht, damit es danach keiner sieht.
Ich mach das nicht für den Kanon, um von dir einen Stempel zu bekommen.
Ich hab auch schon alles falsch gemacht, doch am Ende viel Gelände gewonnen.
Denn nur so kann ich mich verbessern, mauer mich nicht ein und lern dazu.
Du siehst, es unterschätzt mich, ich bin Gutmensch somit verletzlich.
Macht aber nix, wähn dich ruhig über mir,
wenn du mich auscheckst.
Ich geb dir Uppercutstyle bis du dumm schaust, Depp“.

 

Quellen:
Hänsel, D. (2014): Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, Verlag: Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

Schuhmann, B. (2014): Neubewertung der sonderpädagogischen Geschichte, URL: https://bildungsklick.de/schule/meldung/neubewertung-der-sonderpaedagogischen-geschichte/ [Zugriff: 11.08.2017]

Reich, K. (2014): Inklusive Didaktik, Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Urlaub mit einem liebevollen Diktator

Ende Juli waren wir eine Woche auf einem Bauernhof in Teschendorf, im Osten Schleswig Holsteins, nahe Heiligenhafen. Und ohne die Aufmerksamkeitsbesonderheiten Anatols (5) wäre es ein traumhafter und entspannter Urlaub gewesen. So war es wie alle Familienurlaube von uns schön aber auch ziemlich anstrengend. Oft kommt sein Schwesterherz Liljana (8) mit ihren Wünschen und Bedürfnissen zu kurz. Hier ein paar Beispiele:
Bei Autofahrten die länger als 30 Minuten dauern, schnallt sich Anatol permanent ab und turnt dann die ganze restliche Zeit im Auto herum. Anfangs brüllen wir ihn meist total laut und ängstlich an, „wie gefährlich das sei“ und, dass „er sich sofort hin setzen und anschnallen soll“. Dann weint er kurz, setzt sich hin, schnallt sich an und … schnallt sich kurze Zeit später wieder ab und turnt.
Im Bus möchte Anatol meist auf einem von ihm ausgewählten Sitz Platz nehmen. Ist der besetzt, dann wird der Sitzplatzinhaber mit Fingerzeig, bösen Blicken und lautem Nölen von ihm genötigt, den Platz zu räumen. Wird der Platz nicht für Anatol frei gemacht, beginnt er fies zu weinen. Wird der Platz geräumt, dann setzt er sich grinsend über seinen Erfolg hin und nötigt auf die gleiche Weise einige Minuten später einen anderen seiner Sitznachbarn, auf dessen Sitz er es dann abgesehen hat…
Am Strand lässt sich Anatol meist kurz davon begeistern eine Sandburg zu bauen oder Steine und Muscheln zu sammeln. Schnell hat er darauf keine Lust mehr und dann beginnt seine Erkundungstour. Mit nassen sandigen Füßen rennt er über die Decken oder Handtücher der Strandgäste. Nebenbei klaut er von ihnen z.B. Sonnenmilch oder ein Gummitier und haut damit grinsend ab. Nehme ich ihm die Sonnenmilch oder das ergatterte Gut wieder weg um es zurück zu geben, dann beginnt er mich, die Nachbarn und/oder Passanten wütend trotzig zu hauen. Dann kommt der nächste Sonnenanbeter dran…
Im Meereszentrum kann man Fische und andere Meerestiere sehen. Anatol stellt sich z.B. auf die erhöhte Kinderstufe vor dem ersten Aquarium, schaut kurz die Fische an und ist anschließend ausschließlich damit beschäftigt, die Stufe als SEINE Stufe zu verteidigen. Fortan darf kein weiteres Kind diese Stufe betreten. Wer es versucht, der wird forsch mit Fingerzeig auf das nächste Aquarium verwiesen oder mit Schubsen daran gehindert in die Nähe SEINER Stufe zu gelangen. Dann weinen die anderen Kinder, ihre Eltern regen sich über Anatol auf und ich versuche erfolglos ihm zu erklären, dass alle Kinder auf die Stufe dürfen bis ich ihn letztendlich doch zum nächsten Aquarium zerre, wo das gleiche Spiel beginnt… Nach ein oder zwei Aquarien hat er genug davon, beginnt dann durch das gesamte Meereszentrum zu flitzen und haut dabei grinsend allen Leuten beim Vorbeirennen gegen die Beine oder gegen den Po. Zwischendurch klettert er auf die Fels-Attrappen (auf denen „Klettern verboten“ steht) oder hangelt die Fische- und Kraken-Aufsteller aus Pappe herauf. Manchmal huscht er auch durch die Notausgänge oder geht in Türen hinein, die nur für das Personal zugänglich sind. Das riesige Hai-Aquarium und auch die anderen Tiere interessieren ihn eigentlich nicht mehr. Vom tobenden und flüchtigen Entdecken ist er nur noch mit dem Versprechen auf ein Eis im Museums-Kiosk abzubringen.
Anatols Wege sind grundsätzlich seine eigenen Wege. Wenn wir skaten und Laufrad fahren, sich der Weg vor uns teilt und wir alle nach links fahren, dann fährt Anatol nach rechts. Fahren wir nach rechts, dann fährt er nach links. Wenn Sascha und ich uns vorher einigen, uns aufzuteilen, ihn SEINEN Weg wählen lassen und dann einer von uns einfach diesen Weg mit fährt, kann es passieren, dass er sein Laufrad auf den Weg schmeißt und einen dritten Weg nimmt: z.B. freudig geradeaus ins Feld hinein stürmt…
– Anatol liebt Spielplätze. Dort wird meist von ihm SEIN Klettergerät okkupiert. Er stürmt z.B. auf die Rutsche. Oben auf der Rutsche darf kein anderes Kind mehr hoch kommen. Mit dem Finger wird das andere Kind von oben von dem kleinen Zwerg Anatol bedroht. Kommt es doch hoch, wird es noch auf der Leiter stehend mit den Füßen getreten. Auch zur Rutschseite hin wird eisern verteidigt. Kein Kind darf oben sitzen bleiben. Sofort bekommt es von Anatol einen Tritt in den Rücken. Auch diejenigen, die die Rutschseite hoch laufen werden nicht oben auf das Podest gelassen. Denn Anatol ist schließlich der Herr der Rutsche.
– Er liebt auch Tiere. Auf dem Bauernhof gibt es viele Tiere. Mit ihnen wird alles geteilt. Auch Anatol mag das Katzenfutter. Er kann z.B. auch den Katzen oder den Hühnern den halben Tag hinterher laufen in der Hoffnung sie zum Streicheln zu Fassen. Aber sie sind zum Glück meist schneller. Wenn nicht werden sie schon mal mit ordentlichem Bauerngriff von Anatol am Hals gepackt. Er läuft ihnen überall hin hinterher: durch das dichteste Gestrüpp, unter den Ställen hindurch, hinter Schränke in der Scheune, über Tische usw. Dabei klatscht er in die Hände und ruft miau miau miau. Ganz niedlich. Nur die Weinbergschnecken sind in Anatols Nähe in Lebensgefahr.
Im Weizenfeld rennt er gern. Er rennt so schnell, dass keiner ihm folgen kann. Er kann 10 Minuten lachend in eine Richtung rennen, dann 10 Minuten lachend zurück. Dann nochmal. Danach seine Schuhe und Socken ausziehen und nochmal rennen. Dann sein T-Shirt ausziehen und nochmal rennen. Bis auf die Windel alles nach und nach ausziehen und nochmal rennen. Irgendwann ist er sooo k.o., dass er sich auf den Weg setzt, weint und nach Hause getragen werden möchte.
Im Sandkasten spielt Anatol viel und intensiv, z.B. macht er dort Kaffee und Kuchen für alle. Dann geht er rum und verteilt seinen Kaffee. Lehnt ein Erwachsener den frischen Kaffee ab, dann wird Anatol böse. Er fuchtelt dann so lange mit der Tasse (Sand-) Kaffee vor der Nase des Erwachsenen herum bis dieser sie endlich nimmt, so tut als ob er trinkt und den guten Kaffee lobt.
– Anatol ist immer in Bewegung und blitzschnell. Einmal war er schon angezogen und fertig zum Laufrad fahren während ich mir noch eine Minute die Schuhe zu band. Als ich auf sah, war er verschwunden. Ich suchte ihn eine ganze Weile auf dem ganzen Bauernhof. 10 Minuten später fand ich ihn mit seinem Laufrad bei den Getreidesilos. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ich nach ihm suchte.
Das waren nur ein paar Beispiele, wie der kleine Diktator uns vom morgendlichen Aufwachen bis zum abendlichen Einschlafen auf Trab hält. Zwischendurch grinst er, gibt uns viele viele Küsschen, umarmt uns zärtlich, kuschelt ausdauernd und hat uns unglaublich lieb. Genau wie wir ihn.

Nur Lili hasst ihn. Sie möchte eigentlich, dass wir schauen, welche neuen Kunststücke sie kann.

Das Relativieren von Grund- und Menschenrechten und die Angst vor dem Verlust von Privilegien

Jedes Jahr am 8. Mai gehe ich zum Alsterdorfer Gedenken an die Opfer der Euthanasie im deutschen Nationalsozialismus. Dort stellen jedes Jahr SchülerInnen der Fachschule für Heilerziehung Lebensgeschichten von Menschen vor, die aufgrund einer psychischen, geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung in den Alsterdorfer Anstalten leben mussten und dann wie weitere 700000 Menschen mit Behinderung in Deutschland Opfer einer systematischen Ermordung „lebensunwerten Lebens“ wurden. Vorauseilender Gehorsam hatte die Ärzte und Schwestern der evangelischen Behindertenanstalt sogar noch vor dem offiziellen Start der Aktion T4 dazu veranlasst, die jüdischen Bewohner für Probevergasungen „zur Verfügung zu stellen“. Bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung trat auch die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano mit ihrer Hip-Hop-Combo Microphone Mafia auf.

Jedes Jahr am 8. Mai heule ich den ganzen Tag, weil er mir nicht nur die Schrecken des Nationalsozialismus vor Augen führt, sondern auch, dass uns unser Sohn mit Trisomie 21 vor 75 Jahren weggenommen worden und umgebracht worden wäre. Jedes Jahr denke ich, dass ich an diesem Tag nicht weinen werde, weil ich mich ja bereits genug damit auseinandergesetzt und genug darüber ausgeheult habe. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Dieser Tag ist immer aufs Neue sehr anstrengend aber auch sehr wichtig für mich.

In diesem Jahr begann der 8. Mai damit, dass ich auf Twitter einen link empfohlen bekam, ein Interview mit Renate Lasker-Harpprecht. Auch sie überlebte wie Esther Bejerano den Holocaust nur, weil sie im Orchester in Auschwitz spielte und so der gefürchteten Selektion im Lager entkam. In diesem sehr lesenswerten Interview sagt sie, dass sie nach dem Krieg wenig über das gesprochen hat, was sie in Auschwitz erlebt hat. Auf die Frage warum sie wenig mit Deutschen darüber reden konnte, antwortet sie:

„Die Deutschen tun etwas, was mir auf die Nerven geht: Sie fangen sofort an, von ihrem eigenen schrecklichen Schicksal im Krieg zu erzählen. Wie sie ausgebombt wurden.“

Das Berauben der Menschenwürde, das Ausgrenzen, das Experimentieren am lebendigen Leibe, das Foltern und Quälen, das gezielte Töten von Menschen wurde (und wird) immer wieder relativiert mit dem Hinweis darauf, dass man selbst ja auch sein Hab und Gut verloren hatte oder, dass ja auch das deutsche Volk leiden musste.

Und immer wieder dieses Relativieren

Momentan sind Gauland, Putin, Erdogan und Trump Spezialisten dieser Ja-wir-verstoßen-gegen-die Menschenrechte-aber-was-ihr-tut-ist-viel-schlimmer – Rhetorik. Immer wieder werden Verstöße gegen Menschenrechte mit dem Hinweis auf die selbst erlebte Ungerechtigkeit und Gewalt gerechtfertigt und/oder relativiert. Immer wieder macht es mich sprachlos und traurig.

Auch die Debatte um Inklusion ist zum Großteil davon geprägt. Sobald ein Mensch mit Behinderung das Recht auf Teilhabe und die dafür notwendige Ausstattung fordert, kontern neun andere Menschen, dass ja auch ihre eigenen Lebensbedingungen nicht so gut sind und verbessert werden müssten.

Menschen mit Behinderungen müssen um das Recht auf Teilhabe kämpfen, das andere jeden Tag selbstverständlich genießen dürfen.

Grund- und Menschenrechte sind elementar während die Verbesserung von Bedingungen ein Privileg ist.

Am 8. Mai heule ich jedes Jahr meine Verzweiflung darüber heraus. Die restlichen 364 Tage versuche ich drüber zu stehen, weiter zu leben und zu kämpfen. Für unseren Sohn und all die anderen.

Sonnige Maifeiertage in Mecklenburg

Es sieht ja fast so aus als würden wir ständig Urlaub machen. So oft wie dieses Jahr waren wir tatsächlich lange nicht mehr unterwegs. Dieses Mal mit meiner Freundin Jule und ihrem Sohn Johann. In der wunderbaren Gutsscheune Thorstorf. Mit viel strahlend blauem Himmel. Aber noch zu kalt zum Baden in der Ostsee.

Es waren ruhige und sehr schöne Frühlingstage. Nur am letzten Tag gab es nochmal Aufregung. Zumindest für mich, als Anatol plötzlich abgehauen ist und ich ihn im ganzen Dorf gesucht hatte. Nach ca. 20 Minuten ist er dann aus irgendeiner Hofgarage stolziert und brachte eine alte Luftpumpe mit. Er war ganz entspannt.