Urlaub in Fedderwardersiel

Endlich Urlaub. Wir waren im Juli in Fedderwardersiel in Niedersachsen und hatten eine ganze Woche Nordsee-Traum-Sonnenschein. Fedderwardersiel hat den einzigen Fischerhafen in Butjadingen mit mehreren Fischerbooten und einer Krabbenfischerei. Die benachbarte Deichschäferei hält auf etwa dreizehn Kilometer Deichlinie 500 Schafe, die für die Festigkeit der Grasnarbe sorgen, damit der Deich den schweren Anforderungen der Sturmfluten standhalten kann. Es war wunderschön und Sascha und ich haben uns fast gar nicht gestritten. Mit Lili habe ich die erste Wattwanderung meines Lebens gemacht und Krabben und Garnelen gefischt. Auch Anatol war vom Watt, dem vielen Schlick, den Würmern und Krabben ganz begeistert.

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Radikalisierung in der Mitte, Palastbewohner und das gute Gewissen

Joachim Nikolaus Steinhöfel, Hamburger Rechtsanwalt und beliebter Großkotz, postet am 7. Juli auf facebook:
„Wer rund um die Uhr mit Allah und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen verschleiert, Wein und Musik für sündhaft hält, die europäische Literatur, den europäischen Geist und die europäische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Franzose nie den Louvre betreten, nie ein Konzert, nie eine Oper besucht hat und stattdessen glaubt, die Welt mit beduinischen Verhaltensvorschriften aus dem 7. Jahrhundert missionieren zu müssen, ist kein Europäer, auch wenn seine Eltern in Europa geboren sein sollten. Es sind Fremde, denen man auch in zweiter oder dritter Generation die gepflegte Fremdheit durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit autochthonen Europäern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie in ihr leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse ethnisch-psychisch-soziale Fremdheit. Es gibt längst überall in Westeuropa Gebiete, in denen man als Araber geboren wird.“ Michael Klonovsky

Dieses Zitat (bekam übrigens 586 Likes auf facebook, 149 mal geteilt, auch von Politikern aller Parteien) ist hochinteressant. Es beschreibt den einfachen und leicht verständlichen Aufbau eines Feindbildes, das derzeit große Zustimmung erfährt. Es schafft gleichzeitig ein vermeintliches Wir-Gefühl: WIR sind gebildet, WIR kennen UNSERE Literatur und Kunst, WIR schätzen den europäischen Geist, WIR lieben die Oper. Es transportiert wohl etwas, das viele Menschen vermissen, etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl, etwas wie ein Gefühl von Vertrautheit und Anerkennung, von Übersichtlichkeit.
Wer mit solchen Feindbildern und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld bezahlt als Männern, gleichgeschlechtliche Ehe in Schulbüchern für sündhaft hält, die Weltliteratur, den Weltgeist und pluralistische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Deutscher nie in Syrien war, nie ein Trommelkonzert in Ghana erlebte, nie einen Schneesturm in Sibirien oder vergleichbares überstanden hat und stattdessen glaubt, ein Land mit einem Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert sei innovativ und könne auf aktuelle gesellschaftliche Probleme reagieren, ist dagegen für mich kein ernst zu nehmender Mitbürger. Es sind Angsthasen, denen man auch in zweiter und dritter Generation die Angst vor Vielfalt und Pluralität durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit allochthonen Bürgern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie mit ihnen leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse Sehnsucht nach einer vermeintlich ethnisch-psychisch-sozialen Einheit. Es gibt längst überall in der Welt Gebiete, in denen man als Deutscher geboren wird.

In „Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie“ schreibt Herbert Schnädelbach: Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart. Slavoj Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen. Er ist der Ansicht, dass Ideologien heute nicht mehr aufgrund eines fanatischen Engagements funktionieren, sondern vielmehr umgekehrt aufgrund einer inneren Distanz und Gleichgültigkeit, die das symbolische Mandat des Subjekts nicht ernst nehme.

Wir Palastbewohner glauben die Welt draussen zu kennen – aber in Wahrheit haben wir keine Ahnung. Wir können uns ein Leben in Armut und Misere nicht einmal mehr vorstellen, geschweige denn ein solches Leben aushalten. Darum hat auch die Solidarität mit den «Armen» oftmals etwas so Aufgesetztes, Selbstgefälliges. Im Palast wohnen und mit den anderen mitfühlen – in dieser Position hat man beides: das Geld und das gute Gewissen. Man spendet den Flüchtlingen alte, zu kleine Klamotten und redet sich damit ein, sein solidarisches Soll erfüllt zu haben. Abscheulich!

Wir müssen endlich diesen Steinhöfels und Co. den Wind aus den Segeln nehmen. Sie sind es, die die europäische pluralistische Wertegemeinschaft schwächen mit dem ständigen Schüren von Angst vor dem vermeintlich Fremden. Sie sind mit ihrer dauerhaften Verteidigung einer antidemokratischen „reinen“ Leitkultur diejenigen, die Mauern bauen und einer solidarischen Gemeinschaft schaden.

Lili tut so als wär sie behindert

Das Thema scheint Lili (6) gerade sehr zu beschäftigen. Neulich malte sie Behinderte und gestern spielte sie behindert. Sie stellt wenig Fragen. Sie hat ihre Art, sich damit auseinanderzusetzen. Wir fuhren also gestern ins Schwimmbad und ich wollte noch kurz bei der Post anhalten, um zwei Briefe loszuwerden. Vor der Post gab es dann aber keinen freien Parkplatz. Also tat ich etwas, was ich total verabscheue: ich stellte mich auf den Behindertenparkplatz. Als ich aus dem Auto stieg, stellte mich auch gleich der Mann aus dem Nachbarauto zur Rede und fand es unmöglich, dass ich mich auf diesen Parkplatz stellte. Ich entschuldigte mich verlegen und sagte, dass ich nur eine Minute schnell die Briefe wegbringe und gleich zurück sei. Dann rannte ich schnell in die Post, gab die Briefe hastig ab und rannte wieder zurück zum Auto.

Im Auto sagte Lili: „Mama, mach dir keine Sorgen. Während du weg warst habe ich so getan als wäre ich behindert.“

Ich: „Wie denn? Zeig mal!“

Lili setzte sich unbeweglich auf. Sie erschlaffte ihre gesamten Gesichtsmuskeln und ließ, ihr Kinn nach unten fallend, den Mund offen stehen.

Die Angst überwinden – Fortsetzung

Drei Tage Kita-Reise an die Ostsee. Wieder beim Abschied heimlich geweint. Anatol (4) ist noch so klitzeklein. Die Kita-Leitung nennt ihn liebevoll den „Leisen Übeltäter“, weil er sich immer unbemerkt, still und leise davon schleicht und Blödsinn macht. So hatte sie ihn einmal gerade noch rechtzeitig erwischt als er über den Gartenzaun der Kita kletterte und das Weite suchen wollte.

Drei Tage ohne Mama, Papa und Lili. Für ihn kein Drama. Für die ErzieherInnen wahrscheinlich eine Herausforderung. Und für mich eine Möglichkeit, Loslassen zu üben. Das ist wirklich schwer.

Gestern den ganzen Tag Bücher mit Lili gelesen, im Schwimmbad und mit Papa im Restaurant gewesen. Und dann finde ich ein Brief von ihr an ihren Bruder im Briefkasten. Und wieder ein bisschen Weinen. Es geht uns gut.

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Inklusion in der Schule heißt Verantwortung übernehmen für jedes einzelne Kind

Gestern brach eine Diskussion über einen Twitter-Tweet von Hamburger Schulsenator Ties Rabe los. Er äußerte sich kurz zu einem Artikel im Hamburger Abendblatt, in dem die Situation eines zehnjährigen Jungen mit dem sogenannten Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung beschrieben wird, den keine Schule in HH mehr beschulen möchte: „Zeitung: Kind prügelt dauernd, greift Lehrer an, hat Soft-Pistole dabei. Daran soll also die Schulwelt „Schuld“ sein. Niemals die Eltern?“.

Die Schuldfrage zu stellen sei, wie einige Follower kommentierten, zynisch und lösungsfern. Ich selbst wage sogar zu behaupten, dass wir in diesem Tweet die Kernproblematik der Inklusion in HH und vielleicht in ganz Deutschland treffen. Ich denke ein Großteil der PädagogInnen lässt sich vielleicht noch auf die behinderten SchülerInnen ein, solange sie zahm sind, nicht stören und man den SchulmitarbeiterInnen irgendeinen „Leitfaden“ in die Hand drückt, wie man mit denen umgehen soll und welchen Stoff man denen anbieten kann/soll. ABER die verhaltensauffälligen, anstrengenden SchülerInnen, die sollen bitteschön irgendwo anders hingehen und erstmal „richtig erzogen“ werden. Die Problematik liegt also darin, dass sich Schule und ihre Akteure aus der Verantwortung ziehen und wieder – wie einst im harten Hamburger Schulstreit – die Schmuddelkind-Karte zücken: prügelnde SchülerInnen in der Klasse. Nein Danke. Systemsprengend, viel zu anstrengend.

Selten haben Eltern von Kindern mit den sogenannten Förderschwerpunkten Lernen oder emotional-soziale Entwicklung die Ressourcen, sich für ihr Kind einzusetzen, für das Recht des Kindes auf chancengleiche Schulbildung zu kämpfen. In diesem einen Fall hatten die Eltern Kraft und Mut, und sofort werden die Geschütze hoch gefahren und die Eltern mit einer völlig unnötigen Schuldfrage konfrontiert, um die es niemals gehen darf.

Stattdessen muss es in der inklusiven Schule grundsätzlich immer um Verantwortung gehen. Verantwortung für jedes einzelne Kind, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten, Behinderungen oder Aufmerksamkeitsbesonderheiten. Kein einziges Kind darf auf der Strecke bleiben.

Der Schlüssel hierin liegt m.E. darin, diese Verantwortung zu verinnerlichen und Top-Down, also ausgehend von der obersten Organisationsebene, vorzuleben. Das erwarte ich von einem Schulsenator, der schulische Inklusion wirklich ernst nimmt.

Inklusion stellt die Machtfrage

Seit November 2015 formiert sich eine neue „Krüppelbewegung“ in Deutschland, meinte kürzlich Andreas Vega in dem Artikel Aufstand der Behinderten.
Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein.

Die Kritik an der derzeitigen Politik wird tatsächlich immer schärfer. Matthias Vernaldi, seit Jahrzehnten großer Berliner Behinderten-Aktivist, sieht das lange Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt: „Vielleicht sollten wir weniger freundlich sein. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politikern sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.“

Selbst Raúl Krauthausen vom Berliner Verein „Sozialhelden“ wird deutlicher: „Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen. […] Inklusion stellt die Machtfrage. Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand.“

Auf die Frage, was eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt bewirken kann, antwortete Vernaldi:
„Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch: Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien. […] Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt: die Krüppel bloggen zwar mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; aber die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut. […] Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons.“

Kein Musterkruppelchen

Lili malt Behinderte

Neulich im Auto.
Lili (6): Mama, wenn wir zuhause sind, dann male ich einen Behinderten.
Ich: Mach doch.
Lili: Ich kann gut Behinderte malen!
Ich: Willst du einen Menschen im Rollstuhl malen oder was?
Lili: Nein, einen Behinderten der gehen kann.
Ich: Und woran erkennt man dann, dass es ein Behinderter ist?
Lili: Das erkennt man. Ich kann ja einen Behinderten neben einem Normalen malen. Dann kannst du den Unterschied sehen.

Zuhause malte sie drauf los. Das hier sind ihre zwei Behinderten:

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Und das ist ein Normaler und ein Behinderter (damit man den Unterschied sieht):

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Ich: Aber Anatol ist doch auch behindert und er hat nicht nur ein Auge?
Lili: Ja Mama. Aber das ist doch nur meine Fantasie. So sehen Behinderte in meiner Vorstellung aus.

Die Angst überwinden

Letzte Woche war in Anatols Kita eine Gruppenübernachtung geplant. Da er mittlerweile seit zweieinhalb Jahren in dieser Kita ist, hatte er schon zwei oder drei Übernachtungen problemlos mitgemacht. Ich bin auch keine besonders ängstliche Mutter und freue mich immer eher, wenn die Kinder mal nicht da sind.
Diesmal war es etwas anders.

Denn die Gruppe hatte sich entschieden vor der Übernachtung in die XXL-Spielestadt zu gehen. Das ist ein Spiele-Kletter-Gelände, in dem die Kinder nach zwei Stunden so k.o. getobt sind, dass sie nur noch ins Bett fallen und sofort schlafen. Ich persönlich habe solche riesigen Indoor-Spielplätze mit den Kindern bisher erfolgreich gemieden, weil sie mir einfach zu anstrengend sind.

Jedenfalls versuchte ich Anatol morgens im Auto zu erklären, dass er heute in der Kita übernachtet. Er lächelte und nickte, ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Dann übergab ich ihn mit etwas bebenden Lippen der Erzieherin und sagte, sie solle mich anrufen, wenn er sich zurück zieht, sich anziehen geht und nach Hause will. Sie erwiderte, dass sie ihn in diesem Fall aus der Gruppe nehmen und sich jemand mit ihm hinlegt und ausruht. Dann weinte ich auf dem Weg nach Hause.

Ich schrieb Sascha eine SMS: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Erzieherinnen können die Signale von Anatol noch nicht so gut deuten, wissen nicht, wann es zu viel für ihn ist.“ Er antwortete: „Lass den Erzieherinnen die Möglichkeit diese Signale kennenzulernen, um selbst darauf reagieren zu können.“ Ich weinte noch mehr. Warum hat der Mann nicht diese furchtbare Angst, die ich habe?

Den gesamten Tag ging mir durch den Kopf wie dieser Vierjährige, der die Statur eines Zweijährigen hat und seine Bedürfnisse sprachlich nicht äußern kann, auf einem großen Trambolin sitzt während 5 Kinder wie wild um ihn herum springen, ihn so richtig durchschütteln und er nicht versteht was abgeht. Ich stellte mir vor wie er die Rutschen herunter heizt ohne darauf zu achten, ob jemand vor ihm auf der Rutsche ist, dem er ordentlich in den Nacken stürzt. Ich stellte mir vor, wie er die coolen Kletternetze hoch wurschtelt und dann von ganz oben durch ein Loch nach ganz unten fällt…..

Es war ein schlimmer Tag. Ich verfluchte die Kinder in seiner Gruppe. Konnten sie sich nicht einfach für einen Zoobesuch entscheiden? Ich verfluchte die Erzieher. Sie müssen doch bei einem solchen Ausflugsplan die Schwächsten mit einbeziehen? Ich verfluchte meinen Mann. Warum habe nur ich Sorgen und kann sie mit ihm nicht „teilen“?

Am nächsten Tag holten wir das strahlende Kind aus der Kita ab. Es sei alles bestens verlaufen, Anatol habe riesigen Spaß gehabt.