Zwangsbeglückung

Am 21. März wird Anatol 4 Jahre alt. Bei seiner älteren Schwester fing es so ca. mit dem dritten Geburtstag an, dass sie sich etwas zum Geburtstag gewünscht hatte, etwas, was wir ihr nicht so einfach zwischendurch kaufen wie Klamotten, etwas Besonderes. Mittlerweile teilt sie das Jahr in Weihnachten und Geburtstag auf. Sechs Monate lang höre ich von ihr „Das wünsche ich mir zum Geburtstag.“ (sie hat im Sommer Geburtstag), danach weitere 6 Monate „Das wünsche ich mir zu Weihnachten.“ Als sie vier Jahre alt war, hatten wir mal eine Diskussion über Neid. Ich sagte ihr damals, dass Neid nichts Schönes ist, dass es bedeutet, jemand will alles haben, was die Anderen haben. Sie beendete dieses Gespräch mit den Worten: „Ich finde Neid gut.“

Anatol wünscht sich nichts. Ich wage zu behaupten, dass er selbst wenn er schon sprechen könnte, keinen speziellen Wunsch zum Geburtstag oder zu Weihnachten haben würde. Er ist sehr zufrieden und glücklich. Und er lebt nur im Moment und damit noch völlig ohne Sehnsüchte. Wenn mich die Muttis der eingeladenen Kinder fragen, was er sich zum Geburtstag wünscht, dann sage ich immer: Etwas, womit euer eigenes Kind am liebsten spielt. Es fiel mir immer sehr schwer zu sagen, womit Anatol gerne spielt? Denn, er spielt mit allem, was man ihm anbietet. Er begeistert sich ein wenig mehr für Bälle und Autos als seine Schwester, die lieber malt, liest und Musik hört. Aber im Großen und Ganzen ist er total offen.

Anatol wäre überhaupt nicht traurig, wenn er nichts zum Geburtstag geschenkt bekommen würde. Er würde es nicht bemerken, nichts vermissen. Stattdessen würde ein Kuchen, ein Luftballon und ein gemeinsames Spiel ihn ausreichend entzücken. Vielleicht sollten wir an seinem Ehrentag auch tanzen? Er liebt Musik und tanzt unwahrscheinlich gern. „Er kann doch aber nicht Nichts zum Geburtstag bekommen!“, sind Sascha und ich uns einig. „Seine Schwester würde es ungerecht finden, wenn er nichts zum Geburtstag bekommen würde.“ Und wahrscheinlich hätten wir ein schlechtes Gewissen, wenn er an seinem 4. Geburtstag ohne Geschenk da stehen würde. Sicherlich gibt es genügend pädagogisch wertvolles Spielzeug, mit dem er besser sprechen lernen könnte, seine Motorik verfeinern könnte, das seine Sinne anregt. „Aber das wäre dann ein Spielzeug, das Spiel- und Förderung kombiniert und damit einseitig pädagogisch. Damit fühle ich mich nicht gut. Das wäre kein Wunsch von ihm. Er soll nichts bekommen, womit ihm indirekt signalisiert wird, sich schneller oder besser zu entwickeln, das sagt „Du bist nicht o.k. so wie du bist.“, sage ich.

Was wünscht ER sich? Kuchen, Eis, Schokolade. Vermutlich. Deshalb durfte er bisher an Feiertagen immer grenzenlos zuschlagen. Deshalb hatte er sich an seinem dritten Geburtstag, letztes Ostern und an Weihnachten auch übergeben. Also keine gute Idee.

Warum ist es eigentlich so schwer zu akzeptieren, dass ein Mensch wunschlos glücklich ist? Das kann nicht sein. Auf irgendeinen RICHTIGEN Wunsch von ihm werden wir uns bis nächste Woche schon einigen.

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Der Tag des Verteidigers des Vaterlandes

Der День защи́тника Оте́чества ist ein gesetzlicher Feiertag in Russland und einigen anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Er wird in Russland jährlich am 23. Februar gefeiert und ist seit 2002 arbeitsfrei. Er soll die Angehörigen der russischen Streitkräfte feiern, inoffiziell ist er jedoch auch der „Tag des Mannes“.

Ich kann mich an die Paraden erinnern, die jährlich am 23. Februar in Irkutsk stattfanden. An diesem Tag gab es keine Hello-Kity-Luftballons, sondern aufblasbare Panzer und Maschinengewehre für die Kinder, Männer trugen Sakkos mit unzähligen Orden zur Schau, die Tochter einer Freundin bastelte einen kleinen Panzer für den Papa im Kindergarten und der große echte Panzer an der nahe gelegenen Kreuzung, der als Denkmal gilt, wurde mit Blumen geschmückt. Zweifellos ein Tag an dem die meisten Irkutsker ausgelassenen feierten, die Helden des Landes, den Mann als solchen und Kriegsrhetorik in erster Linie als etwas Heldenhaftes, Starkes, Unbesiegbares und Positives gesehen wird. Kein Wunder, dass mich dieser Tag in Russland immer befremdete. Er war ein Teil der russischen Kultur, den ich niemals verstand.

Und heute sehe ich auf der Webseite des Down-Syndrom-Vereins in Irkutsk, in dem ich während unserer Russland-Zeit recht aktiv war und noch heute guten Kontakt zu einigen Muttis habe, dieses Foto einer Glückwunschkarte:

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Ein kleiner Junge mit Down Syndrom trägt eine Soldatenmütze und gratuliert heute allen „Verteidigern des Vaterlandes“. Ein behindertes Kind als Soldat mit Armee-Hintergrund. Da kommen bei mir ganz schreckliche Assoziationen hoch. Gleich fragte ich Sascha: „Sag mal, wurden in der Sowjetunion eigentlich die Behinderten nicht getötet oder deportiert?“. Er antwortete: „Stalin und seine Terror/Gulag-Zeit und auch die Staatsgründung der CCCP unter Lenin, sind ein komplett unaufgearbeitetes Kapitel. Sie genießen höchstes Ansehen und Aufklärung wird aktiv verhindert.“

Ich schaute im Netz, was ich finden konnte. Der kleine Junge auf der Glückwunschkarte ging mir nicht aus dem Kopf. Dort stieß ich auf den Namen Walerij Fefelow. Er veröffentlichte 1986 das Buch „In der UdSSR gibt es keine Invaliden!…“ und galt als Kämpfer für die Rechte von Menschen mit Behinderung in der UDSSR. 2008 starb er in Frankfurt am Main.
Man erzählt, dass Stalin sich einmal während der Fahrt durch das Nachkriegs-Moskau empört über so viele Invaliden auf den Straßen geäußert habe. Fefelow schreibt: „Außerstande einen Behinderten in einen Rollstuhl zu setzen, schämte sich der Staat seiner Erscheinung und versuchte ihn aus den Augen zu schaffen! Und das ist nur konsequent: eine Gesellschaft, die sich selbst als ideal ansieht, muss alles ordentlich sein: die Kleidung, die Auslagen, die Fassaden. Das ist als ob entlang der makellosen Reihe der Militärmusiker und Tribünen plötzlich irgendeine verkrüppelte Kreatur entlang kriecht oder auf einem selbstgebauten Brettchen mit Rollen entlang rollt. Wer hat das zugelassen? Weg damit! Weg damit! Weg damit!“

In der UdSSR gab es 1.500 Häuser für Behinderte, in denen sie, so Fefelow, “eingemauert” waren. Es war ihnen offiziell untersagt, Kinder zu haben. Auf den Straßen waren sie nicht zu sehen. Ein Funktionär erklärt: „Die gesunden Menschen sind an die Behinderten nicht gewöhnt.“ Als ein echtes Konzentrationslager, als sowjetisches Buchenwald, bezeichnete man das Behindertenlager im Dorf Makorty im Sophia-Bezirk des Gebiets Dnipropetrowsk – „[…] Da ist eine Hölle: keine Behandlung, kein Essen. Diese Tiere versuchen Dich ins Jenseits zu schicken, aber ohne Laute, damit alles schön verdeckt bleibt […]“. Fefelow schreibt, dass während der UdSSR die Behinderten nicht einmal für Menschen gehalten wurden.

Ich erinnere mich, wie ich 2002 so viele junge Männer ohne Gliedmaßen in den U-Bahntunneln in Moskau betteln sah. Sie waren kaum älter als ich, manche sogar jünger. Tschetschenien hatte ihr Leben zerstört. Niemand feiert sie, niemand kümmert sich um diese „Vaterlandsverteidiger“. Bei den jährlichen russischen Militärparaden stolzieren die wenigen Kriegshelden mit ihren Orden und Medaillien an der Brust durch die Straßen, die keine sichtbaren Einschränkungen durch diverse Kriegseinsätze davon getragen haben. Denn in Russland gibt es auch heute noch keine Behinderten.

Wer braucht hier eigentlich Förderung?

Ob ein Kind mit Down Syndrom „engagierte“ Frühförderung durch Therapeuten und Eltern erfahren hat oder nicht und welchen Unterschied es jeweils in der Entwicklung des Kindes gemacht hat oder nicht, weiß keiner. Natürlich kann man das auch nicht erforschen. Wenn ein Kind sich gut entwickelt hat, dann lag es ja immer an dem Einsatz der Eltern, der Therapeuten und der Pädagogen. Wenn ein Kind sich nicht so super entwickelt, dann lag es an den zu starken körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen des Kindes. Da kann dann keiner was dafür.

Immer wieder erzählen Eltern älterer Kinder mit DS, die von Reittherapie über tägliches GUK-Lernen bis hin zu spezieller Ernährung oder anderer heilsversprechender Spezialkuren alles Mögliche mit ihrem Kind getan haben, dass sie im Rückblick weniger Zeit mit Therapien hätten verschwenden wollen und lieber mehr Zeit für Spaß gehabt hätten. Immer wieder berichten Eltern älterer Kinder, dass trotz jahrelanger Therapie ihr Kind nicht laufen oder nicht (deutlich) sprechen könne. Welche Therapien helfen wem und in welchem Umfang eigentlich wirklich?

In Wider die Therapiesucht habe ich schon einmal Michael Wunder und Udo Sierck zitiert: „Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.“ Wunder und Sierck forderten schon 1981 ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte. 35 Jahre später hat diese Forderung nicht an Aktualität verloren.

Frühförderung bei Kindern mit Down Syndrom ist derzeit weder individuell noch knapp verordnet. Sofort nach der Geburt bekommt man nur aufgrund der Diagnose Down Syndrom die Komplexleistung Frühförderung als dauerhaftes Rezept. Zu diesem Zeitpunkt kann wohl noch niemand einschätzen, wie das Kind sich entwickeln wird. Erreichen Kinder mit DS in den ersten Lebensjahren entscheidende Entwicklungsschritte nicht, sind die Eltern „Schuld“, da sie dem Kind keine genügend anregende Umgebung schaffen oder nicht genug üben. Noch mehr Druck machen sich die Eltern durch die medial bekannten „Super-DSler“ wie Pablo Pineda oder Carina Kühne. Bei guter Förderung, so wird ihnen allseits suggeriert, kann ihr Kind sich auch so toll entwickeln. Eine Defizit-Orientierung MUSS zwangsläufig einhergehen mit Heilsversprechen und Schuldzuweisungen. Genau die sind aber die furchtbare Konsequenz der heil- und sonderpädagogischen Förderung in Deutschland und es beginnt kurz nach der Geburt und wird im Laufe der Jahre im Kindergarten und in der Schulen immer schlimmer. Später sind es nicht nur die Eltern, sondern auch die Pädagogen, die daran Schuld sind, wenn das Kind verhaltensauffällig wird. Und so schieben sich im Laufe der Zeit alle Beteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Aber was ist eigentlich mit dem Kind?

Kinder mit DS sind nicht krank. Sie entwickeln sich in ihrem Tempo. Egal, ob sie Therapien machen oder nicht, ich behaupte, sie werden sich nicht großartig anders entwickeln. Es ist absurd, sich von Defizit-orientierten Therapeuten mit angeblichen Lern-Zeitfenstern wahnsinnig machen zu lassen: „Zwischen 3 und 5 Jahren muss das Kind sprechen lernen. Sonst haben Sie das entscheidende Zeitfenster der Sprachentwicklung verpasst.“ usw. Die Berichte der Sozialpädiatrischen Zentren, der Psychologischen und Medizinischen Dienste, in denen man lesen kann, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und auf welchem Entwicklungsstand verglichen mit normal-entwickelten Kindern es sich befindet (einschließlich Skalen mit aufgeführter Abweichung des Kindes vom Standard) haben nur zwei Funktionen:
1. Die Eltern zu verunsichern.
2. Das Therapie- und Fördersystem aufrecht zu erhalten.

Lange hatte ich es nicht verstanden: ich bin es, die mein Kind behindert. Die Gesellschaft ist es, die mein Kind behindert. Ich und sie brauchen Förderung! Warum hat mir das nie jemand angeboten? Die „Förderung“, die ich mir von Anfang an gewünscht hätte, wäre eine dauerhafte und regelmäßige Hardcore-Kuschel und -Tobe-Verordnung, d.h. eine Beratung beim Beziehungsaufbau mit unserem Sohn, von Anfang an. Kuscheln ist z.B. viel wichtiger als jede Entwicklungstabelle und jeder Meilenstein. Die „Fördereinheiten“, die ich mir gewünscht hätte, hätten darin bestanden, das Kind einfach zu beobachten, zu versuchen, seine Signale aufzunehmen, zu verstehen und auf sie zu reagieren bzw. einzugehen. Das ist sehr schwer. Sich einlassen. Loslassen. Ihn so lassen, wie er ist. Das hätte ich gerne früher gelernt. Das hätte ich gerne schon damals bei unserer Tochter gelernt.

Der andere Aspekt, der für viele Eltern bedeutsam ist, ist eine neutrale und umfangreiche Information zu den behindernden Strukturen in der heutigen Gesellschaft, z.B. bei den Behörden. Therapeuten, Pädagogen, Psychologen, Behörden usw. sind es, die Förderung benötigen und nicht das Kind.

Lasst die Kinder in Ruhe! Sie sind perfekt.

Müde, inkonsequent und verunsichert

das bin ich oft. Selbstsicher, ganz wach und strahlend bin ich nur selten.

Oft gelingt es mir nicht, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren und ich vergesse Dinge oder bin unachtsam. Sehr oft kann ich mich auf andere Menschen nicht einlassen, weil ich so stark mit mir selbst beschäftigt bin. Häufig reagiere ich heftig auf Texte, Nachrichten, Kommentare, ich werde wütend, angeekelt und arrogant wenn sie nicht meinen eigenen Wert-, Gesellschafts- und Weltvorstellungen entsprechen. Selbst eine freundliche Begrüßung fällt mir öfter schwer. Häufig bin ich angespannt, alles geht mir zu langsam. Alles geht mir zu schnell. Dann werde ich unsicher. Immer wieder muss ich dann heulen.

Was macht das mit den Kindern? Was macht unsere Trennung mit den Kindern? Erkläre ich unserer Tochter die Situation genug und verständlich? Wird sie mich und ihren Vater einmal verstehen? Sie hatte schon eine längere Phase der Traurigkeit und Anspannung von mir erlebt: nach der Geburt ihres Bruders mit Down Syndrom. Habe ich sie in diesen Situationen immer genug aufgefangen? Kann ein kleines Kind so viel überhaupt verkraften? Bin ich aufmerksam genug für ihre Bedürfnisse und Signale? Kuschel ich genug mit ihr? Zeige ich ihr zu selten meine unendliche Liebe? Anatol bezeichnet seit einem Monat alles mit Papa: ein Auto ist Papa, die Nase ist Papa, ich bin Papa. Das ist wohl seine Art auf die Trennung zu reagieren. Was macht das? Und wie soll ich ihn auffangen? Reden geht ja nicht. Was geht? Ich weiß es nicht.
Und ich? Werde ich jemals wieder so fröhlich, entspannt und voller Leichtigkeit sein wie vor den Geburten der Kinder und vor der Trennung? Neulich sprachen wir mit den Kindern darüber, was wir alle gut können. Und Lili sagte, dass Papa gut Gitarre spielen und Quatschgeschichten erzählen kann. Und Mama kann gut schimpfen, ergänzte sie.

Mutter sein ist so leicht, man braucht die Kinder nur unendlich zu lieben. Das denke ich manchmal. Ich habe keinen Erfolgsdruck, keine Erwartungen an mich und die Kinder. Davon bin ich auch manchmal überzeugt. Und dann stelle ich plötzlich doch wieder fest, wie mich irgendeine tief sitzende Erwartung an mich selbst oder eine Bemerkung meiner Mutter oder einer Freundin unglaublich unter Druck setzt.

Es ist eine riesige und schwere Verantwortung, für die seelische Stabilität von drei Personen, davon zwei Kinder, zu sorgen. Diese Verantwortung erschöpft und überfordert mich so oft.

Es ist so schwer, loszulassen. Sich treiben zu lassen. Seinen eigenen Weg zu gehen und die anderen ihren gehen zu lassen.
Es ist schwer, Schwäche zuzulassen, zu akzeptieren und zu zeigen.

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Die beste Schule für das Kind?

„Ja, schulische Inklusion ist ein Menschenrecht, sie ist wichtig und notwendig, alle sollen gemeinsam lernen können. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Aber ist das wirklich das Beste für Ihr Kind mit Down Syndrom der oder die einzige Schülerin mit einer geistigen Behinderung unter ausschließlich „normal entwickelten“ in der Klasse zu sein?“ Das ist eine Frage, die ich als Mutter eines Kindes mit Down Syndrom von anderen Eltern häufig gestellt bekomme.

Abgesehen davon, dass die Frage anmaßend ist (Ich frage ja auch niemanden, ob sie bei ihrer Schulwahl tatsächlich das Wohl ihres Kindes im Auge haben.), entsteht diese Frage entweder aus einem tiefen Leistungs- und Vergleichsdenken heraus oder aus Mitleid für das arme „benachteiligte“ Kind. Viele Menschen haben ein solches Denken leider verinnerlicht, auch wenn sie es oft nicht bös meinen. Ich habe aber das große Glück, dass ich mich neben all den anfänglichen Sorgen und Ängsten um unseren Sohn, frei machen konnte von diesem schrecklichen Leistungsdenken, von Vergleichen mit anderen Müttern und deren Kindern und von unnötigem Mitleid. Trotzdem trifft mich die Frage natürlich direkt ins Herz. Denn diese Frage stellen sich ja alle Eltern tagtäglich: Was ist das Beste für mein Kind? Und wer weiß das?

Das Leben mit unserem Sohn mit Down Syndrom ist überraschend. Wir wissen nicht, wie er sich weiter entwickeln wird und, was auf uns noch zukommt. Dadurch beobachte ich ihn noch genauer, wie er am besten lernen könnte, wie und was er versteht, wie er sich Abläufe merkt, wie er mit anderen Kindern und Erwachsenen umgeht, wie und wann er lautiert oder sogar einzelne Wörter spricht, was er sagen will, wofür er sich besonders interessiert, was ihn ermüdet usw. Ich weiß noch, wie ich mich bei unserer Tochter gefreut habe als sie mir endlich sagen konnte, was ihr weh tut oder was sie möchte wenn sie weint. Wie sehr genieße ich mittlerweile die Gespräche mit ihr. Wie sehr überraschen mich immer wieder ihre klugen Bemerkungen. Die Beziehung zu unserem Sohn mit Down Syndrom entwickelte sich genauso schön, aber auf einer völlig anderen Ebene. Mit ihm kommuniziere ich viel mehr über Mimik und Gestik. Seine Körperhaltung und seine Augen signalisieren mir, wie es ihm geht. Zudem vergisst er schnell und freut sich über (fast) jedes Angebot. Bricht er gerade noch zutiefst traurig zusammen, weil er kein Eis bekommt, so kann er zwei Minuten später völlig selbstverständlich und glückselig sein Wurstbrot essen als ob gerade nichts gewesen ist. Haute er gerade noch zehn Minuten stinksauer an die Kinderzimmertür, weil die großen Mädchen ihn nicht mitspielen lassen wollen, so puzzlet er kurz darauf angeregt und fröhlich mit mir als ob ihm die Ablehnung der Mädchen völlig unwichtig ist. Wenn er spürt, dass man sich für ihn interessiert, wenn man ihm freundlich begegnet und ihm Angebote macht, dann ist er immer dabei und wirkt auf mich extrem ausgeglichen und zufrieden.

Wenn mich also jemand fragen würde, welche die beste Schulform für unseren Sohn wäre, würde ich demnach antworten: eine mit klaren Strukturen (Rhythmus), mit vielen visuellen Anreizen, in der die Lehrer freundlich auf ihn zugehen, nicht ihr „Programm“ durchziehen, sondern ihm viele Angebote machen und ihn dann selbst entdecken lassen bzw. auf seine Signale reagieren. Wenn man sich auf ihn einlässt, versteht man sehr gut, wofür er sich interessiert und was er weiter lernen möchte. Auch würde ich sagen, dass er enorm von anderen Kindern profitiert, Kinder, die er immitiert, die ihn auf ihre Art motivieren, etwas auch zu können. Eigentlich die basalen Lernvoraussetzungen für jedes Kind. Bei einem Kind mit DS sind diese Voraussetzungen nur ganz besonders deutlich, weil es sich eben nicht „kontrollieren“ kann, sondern diese kindliche Neugierde und Affektsteuerung wahrscheinlich immer behalten wird. Für ein „Funktionieren“ in der Gesellschaft mag das von großem Nachteil sein. Als menschliches Charakteristikum ist es bewunderswert. Vor genervten, gestressten, ignoranten oder sogar böswilligen Mitschülern und Lehrern kann ich unseren Sohn nicht bewahren, weder an der Förderschule noch an der Regelschule. Es geht mir auch nicht um einen Schulabschluss oder darum, ihn mir nicht in einer Werkstatt für Behinderte vorstellen zu können. Keineswegs. Es geht mir einzig und allein darum, dass er glücklich ist und bleibt, egal in welchen Institutionen er sich rumtreibt und wie gut oder, ob er überhaupt irgendwann einmal lesen und schreiben kann. Das Wunderbare bei einem Kind mit einer geistigen Behinderung ist nämlich, dass ich mich als Mutter entspannen kann! Ich habe nicht den Druck, mich dafür verantwortlich zu fühlen, dass das Kind das Abitur schafft und einmal studiert. Ich habe ja nicht einmal den Druck, dass das Kind im Zahlenraum bis 100 dividieren können muss. Das Kind MUSS gar nichts, im Gegenteil. Ich freue mich stattdessen über seine Neugierde, Offenheit und jedes einzelne Wort, das er spricht. Und eine Kindheit ohne Können-müssen ist doch die schönste Kindheit, die man haben kann! Durch ihn habe ich auch im Umgang mit unserer Tochter viel gelernt.

Eine Entscheidung für oder gegen eine Schule bzw. für oder gegen Inklusion ist für mich als Mutter keine theoretische Entscheidung und wenig an pädagogischen Konzepten oder Bedingungen geknüpft. Das Recht des Kindes auf inklusive Beschulung steht für mich zwar an erster Stelle. Derzeit sind aber die praktischen Erfahrungen von vielen Hamburger Eltern von Schülern mit DS sowohl an den Förderschulen als auch in der Inklusion ziemlich unbefriedigend. Ich bin so froh, dass ich jetzt keine Entscheidung treffen muss. Würde unser Sohn dieses Jahr eingeschult, dann wäre mein Schulwahlkriterium wahrscheinlich zuerst ein klares „Wir interessieren uns für Ihr Kind! Lassen Sie es uns gemeinsam angehen!“ In erster Linie wäre mir also wichtig, dass man freundlich ist und sich auf ihn einlassen will. So wenig.

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Lebkuchenhäuschen

Das erste Mal in meinem Leben ist es mir gelungen, ein Lebkuchenhaus zu backen. Kaum zu glauben ist, dass es auch noch schön aussieht und es ist nicht steinhart nur zur Deko gedacht, sondern man kann es tatsächlich essen und es schmeckt. Ich bin ganz begeistert. Bei meinen letzten Häuschenversuchen schien mir das alles zusammen immer unmöglich. Gelungen ist es uns nach diesem Rezept vom lecker.de. Und dann konnten wir aus einem Lebkuchenblech auch noch zwei Häuschen ausschneiden, ein Kleines und ein Großes.

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Lass Mich Mal Machen

„Schön, dass du voll Bescheid weißt, was für mich das Beste ist! […] Wenn ich ehrlich bin, stresst es mich. […] Du meinst, Noten verteilen zu müssen obwohl ich drauf scheiße. […] Dein Edukationismus kann mich am Arsch lecken. Ich toleriere Fehler nicht nur, sondern feier sie. […]“ *Sookee

Lass Mich Mal Machen

 

Das leichteste der Welt

Für die nächste KIDS aktuell werden persönliche Berichte von Eltern gesucht: man soll über die „Hindernisse auf dem Weg zur Annahme des behinderten Kindes“ berichten. Etwas wollte ich dazu schreiben.

Nie hatte ich besonders große Schwierigkeiten gehabt, unseren Sohn mit Down Syndrom anzunehmen. Eher hatte ich Schwierigkeiten meinen Egoismus und meine Selbstbezogenheit zu überwinden. Die habe ich heute noch. Mutterschaft an sich stellte ich mir schon immer aufwendig vor, das Leben mit einem behinderten Kind, so dachte ich, ist mir einfach viel zu anstrengend. Ich wollte Arbeiten gehen, Ausgehen, Reisen und Sport machen, mich gesellschafts-politisch engagieren, meine Kinder sollten nebenbei groß werden. Bloß keine Übermutter sein, die ständig um die Kinder schlawenzelt und nur noch von ihnen redet. Musikalische Frühförderung, stundenlange gemeinsame Gesellschaftsspiele oder selbst genähte Kleider kamen für mich nicht in Frage. Eigentlich wollte ich immer mein Ding machen und die Kinder einfach überall mit hinschleppen.

Dann kam zuerst unsere Tochter zu früh zur Welt. So ein Mist. „So nebenbei“ war nicht mehr drin nachdem mir meine Cousine einen wissenschaftlichen Artikel über mögliche psychische Beeinträchtigungen bei Frühgeburten schickte. „Nur so zur Info, falls es dich interessiert“, schrieb sie. Vor diesem Artikel hatte ich an sowas überhaupt niemals gedacht. Nun veränderte er mein ungezwungenes Muttersein. Ich versuchte also fortan das schlechte Gewissen über die Frühgeburt mit gaaanz viiieeel Nähe, Aufmerksamkeit und Verwöhnen auszugleichen. Dann war das Mädchen zwei Jahre alt, aus dem Gröbsten raus, entwickelte sich prächtig, erwies erst einmal keinerlei Anzeichen von Störungen und ich war wieder schwanger, so dass der ursprüngliche Plan „Die Kinder nebenbei.“ erneut von mir aufgenommen wurde.

Aber dann kam der Junge. Mit Überraschung. Mit Down Syndrom. Wieder Mist. Wieder alles anders als geplant. Diesmal zwar kein schlechtes Gewissen, aber das Kind müsse umfangreich gefördert werden, sagten sie alle. Ich glaubte es nicht. Was war mit meinem Ding? Eine gute Mutter ist doch eine zufriedene Mutter, oder?. Ich bin keine zufriedene Mutter wenn ich jeden Tag mich und das Kind mit einer Therapiestunde quäle. Erst traute ich mich nicht das durchzuziehen. Es ist hart entgegen aller Empfehlungen ohne Förderung leben zu wollen. Aber es musste sein und Sascha ermutigte mich dabei. Ich hatte schlicht keine Lust darauf, unsere schöne Mutter-Kind-Beziehung mit „Übungen“ zu verunsichern. Und mit der Behinderung bzw. Entwicklungsverzögerung an sich hatte ich ja kein Problem. Nur manchmal im Vergleich mit Gleichaltrigen bin ich ein bisschen neidisch. Aber ich selbst bin nie unter Leistungsdruck aufgewachsen, wurde immer bedingungslos geliebt. Das ist für mich auch selbstverständlich für unsere Kinder. Natürlich machte mir das Down Syndrom anfangs etwas Angst wie alles vollkommen Fremde. Aber wie mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur bei Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer war es auch damit so, dass die Angst immer kleiner wurde je näher das Down Syndrom kam und je mehr ich mich damit beschäftigt hatte. Viel viel mehr und länger ängstigten mich Gedanken an meine Freiheit bzw. mögliche Unfreiheit durch dieses Kind, so dass ich lange zwischen Über- und Rabenmutter hin- und hergerissen war bis auch der Junge endlich für mich aus dem Gröbsten raus war.

Geschafft!

Und als ich dann die Freiheit kommen spürte, zog der Mann aus. Und wieder alles anders. Er sagte plötzlich, dass ich IHN nicht so akzeptieren würde wie er ist. Er könne in meiner Nähe nicht mehr atmen, sagt er. Wie? Was? Wieso? Warum? Weshalb? Kapierte ich nicht. Bedingungslose Liebe galt doch erst recht immer für ihn. Meinem Traummann, dem Vater dieser wundervollen Kinder.

Mit den Kindern habe ich schließlich dann auch verstanden, wie schön es sein kann, von anderen Menschen abhängig zu sein, was eine neue Form des Vertrauens und Liebens ermöglicht, eine Freiheit in Bezogenheit wie Antje Schrupp so schön formuliert.

Unser Sohn hat auf mich eine therapeutische Wirkung: bei all den täglichen Zweifeln und dem Ringen ums gute und ums ÜberLeben ist der kleine Mensch mit dem zusätzlichen 21. Chromosom ein richtiges Zauberwesen, das mich extrem erdet und mir unglaublich gut tut…

…während unsere Tochter die Kluge ist, die mit dem starken Willen, die mir andauernd mit der Heugabel in die Seite piekt oder mit der Schippe voller Wucht auf den Kopf haut, wenn ich sie verbiegen will. Wie der Mann. Ihr seid alle drei wundervoll.

Ich muss…

euch einfach lieben <3 <3 <3

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Wenn Aufgeben keine Alternative mehr ist

Wir liefen an einer Bushaltestelle an einem Plakat vorbei. Ich hielt inne, mir liefen kurz die Tränen herunter.
Lili (6): Was ist los Mama?
Ich: Der Mann auf dem Plakat hat Blutkrebs. Wahrscheinlich muss er bald sterben. Daneben steht der Satz „Kennst du das, wenn Aufgeben keine Alternative mehr ist?“. Das hat mich gerade sehr traurig gemacht.
Lili: Was heißt das denn?
Ich: Wenn du es nicht schaffst, die gesamte Strecke mit Fahrrad zu fahren, dann kannst aufgeben, weil du entweder schieben kannst, wir eine Pause machen oder ich dir helfe. Wenn man aber Krebs hat wie der Mann, dann kann man nicht einfach aufgeben und anders weiter machen. Auch helfen kann dann manchmal nicht mal ein Arzt. Man kann nur weiter versuchen gegen den Krebs zu kämpfen.
Lili: Ja, das ist traurig Mama.
Ich: Wenn man ein schlechtes oder trauriges Gefühl hat, dann muss man unbedingt weinen, damit dieses Gefühl raus kommt. Sonst bleibt es im Körper. Ich will nicht, dass meine Traurigkeit im Körper bleibt, deshalb habe ich geweint.
Lili: Aber weißt du Mama, ich verstehe das noch nicht so gut. Ich weiß noch nicht genau, was Blutkrebs bedeutet. Deshalb muss ich nicht weinen. Du bist erwachsen und weißt schon, was das bedeutet. Deshalb weinst du.
Ich: Menschen mit Down Syndrom bekommen öfter Blutkrebs als Menschen ohne Down Syndrom. Deshalb habe ich auch ein bisschen an deinen Bruder gedacht.
Lili: Ich hoffe, dass Anatol kein Blutkrebs bekommt, weil dann muss ich auch weinen. Dann weint ja unsere ganze Familie. Immer, wenn jemand stirbt, weint die ganze Familie.