Arsch hoch! Inklusion gestalten!

„Inklusion ist doch nur eine leere Worthülse.“, höre ich immer und immer und immer wieder. Von enttäuschten Eltern behinderter Kinder, von enttäuschten Menschen mit Behinderung, von enttäuschten Pädagoginnen und Pädagogen. Ich kann es nicht mehr hören!

Was erwarten diese Menschen eigentlich? Jahrhunderte lang wurden Menschen mit Behinderung als Strafe Gottes gesehen und hauptsächlich als defizitär betrachtet. Lange wurden sie nur nach ihrem medizinischen und/oder gesellschaftlich relevanten Nutzen beurteilt. Es gab eine Zeit, in der sie systematisch in diesem Land, in den Einrichtungen, in denen wir noch immer tagtäglich ein- und ausgehen, diskriminert und getötet wurden. Zudem werden Menschen mit Behinderung in den Medien noch immer gern auf ihre Behinderung reduziert bzw. nur im medizinischen Kontext dargestellt. Das wirkt (nach). Fast alle heutigen Mediziner, Pädagogen, Medien und Behörden haben sich nicht mit der Geschichte ihrer Institution auseinander gesetzt.
Hinzu kommt außerdem, dass die Mehrheit der Mitarbeiter in den oberen Managementebenen der großen Behinderteneinrichtungen kurz vor der Rente sind. Sie haben Einrichtungen aufgebaut, die zu dieser Zeit gewollt und fortschrittlich waren. Sie haben Fördermöglichkeiten und Wohlfühlräume geschaffen. Leider hatten Nichtbehinderte dort oft nichts zu suchen und nun sind die Einrichtungen mühselig damit beschäftigt die homogenen Schonräume zu öffnen und zu mischen. Alle Seiten hätten es so viel bequemer, wenn alles so bleiben würde, wie es ist.

Was erwarten die Menschen? Dass alle ganz bereitwillig ihre eigenen Strukturen auflösen? Dass ihnen von heut auf morgen die Inklusion hübsch verpackt serviert wird und sie nur noch mitmachen brauchen? Erwarten sie, dass jeder Mitmensch weiß, was sie wirklich brauchen und wollen?

Ab gehts! Sag laut, was du willst! Gestalte mit, wo du kannst! Damit das Ganze eben nicht mehr so lange dauert!

Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Selbstbestimmung, Pränataldiagnostik und Abtreibung

Das Recht auf Abtreibung war für mich immer ein selbstverständliches Freiheitsrecht und es ist für mich kaum vorstellbar, dass Frauen in der Bundesrepublik dieses Recht noch gar nicht so lange haben. Bis ich 30 Jahre alt wurde hatte ich für mich entschieden, dass ich abgetrieben hätte wenn ich schwanger geworden wäre. Ich hatte noch Pläne, war nicht bereit für Kinder. Da ich mich entschieden hatte, wäre es mir völlig egal gewesen, ob in meinem Bauch ein Kind mit oder ohne Behinderung oder sonstwas herangewachsen wäre. Ich stellte mein eigenes Leben an erster Stelle, ich wollte frei und unabhängig sein.

Dann bekam ich mit 30 und mit 33 Jahren zwei absolute Wunschkinder. Seit der Geburt unseres zweiten Kindes wird mir nun häufig ein Gespräch über Pränataldiagnostik aufgedrängt. Damit hatte ich mich vorher nie beschäftigt. In den Schwangerschaften kümmerte ich mich nicht darum. Ich machte immer nur die nötisten Untersuchungen, ich brauchte keine Fotos, 3D und tamtam. Ich habe die Kinder nicht in Deutschland bekommen und weiß von daher nicht, inwiefern mir hier pränatale Diagnostik mehr aufgedrängt worden wäre als dort wo ich war; dazu kann ich nichts sagen. Das interessierte mich jedenfalls wenig. Aber ich hatte damals keine bewusste Haltung der Bejahung eines jeden Lebewesens. An die Möglichkeit der Behinderung bei unseren Babies dachte ich zwar, aber diese Gedanken waren eher abstrakt. Meine Ablehnung aller zusätzlichen Tests resultierte aus einem unbeugsamem Optimismus heraus und aus einem starken Glauben an meine eigene Kraft und Intuition. Auch, dass Sascha betonte, er wolle jede „Möhre“ lieb haben, gab mir den Mut, alles einfach auf uns zukommen zu lassen und dann gemeinsam anzupacken.

Da unser zweites Kind Down Syndrom hat, verstärkte sich nach seiner Geburt in meinem Umfeld die Diskussion über Pränataldiagnostik. Bekannte oder Freunde fragten mich plötzlich, ob ich „es“ in der Schwangerschaft schon gewusst oder getestet hatte. Gleichzeitig hatte ich plötzlich mit Leuten aus der Behinderten-Szene zu tun, die Frauen verurteilen, wenn sie ein Kind mit DS abtrieben. Das sei Mord, das sei Selektion, das sei menschenverachtend. „Die Frauen bräuchten dringend mehr Beratung und Aufklärung über das Down Syndrom, dann würden sie nicht alle abtreiben“, hieß es von einigen. Ich fühlte mich immer unwohl bei diesen Diskussionen. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung und auf Abtreibung, dachte ich. Warum also kein Kind mit Behinderung abtreiben? Ich sah diverse Gemeinsamkeiten aber auch Konflikte zwischen der Frauen- und der Behindertenbewegung, konnte sie jedoch nie wirklich fassen.

Und jetzt hat Kirsten Achtelik ein lesenswertes Buch veröffentlicht, in dem sie sich genau mit diesem Problem auseinandersetzt. Das Buch heißt „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ und es machte mir die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Themas erst richtig bewusst. Ich greife hier nur ein paar spannende Gedanken aus dem Buch auf:

Ein entscheidendes Zitat war für mich z.B. das Folgende von Theresia Degener: „Nicht die Frauenbewegung ist für die Zunahme von Humangenetik und pränataler Diagnostik verantwortlich […] . Eine Veränderung der Zustände sei aber nicht durch mehr Fremdbestimmung, also Verbote, zu erreichen, sondern dadurch, dass Betroffene ihre Lage kollektiv zu ändern versuchen.“ (in: Degener/Köbsell (1992): Hauptsache, es ist gesund? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle.)

Interessant fand ich auch, dass Achtelik die immer wieder vorgebrachte Forderung einer Verbesserung und Ausweitung von Beratung als problematisch betrachtet: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Stattdessen sollte vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen. Es folgt der m.E. schönste Satz des Buches: „Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden!“

Im letzten Teil des Buches macht Achtelik einige Vorschläge, was getan werden könne, um der Tendenz zu einer immer weiteren Normalisierung von selektiver Diagnostik und anschließenden Abtreibungen entgegen zu wirken, u.a.: „Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes! Es ist wichtig […] Teilhabe für alle an allem zu ermöglichen und Normen, Vorurteile und Diskurse zu verändern. […] Wir alle sind auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Sowohl Feministinnen als auch Behindertenrechtsaktivistinnen haben ein Interesse daran, diese scheinbar privaten Bedürfnisse zu politisieren und zu einem zentralen Bestandteil gemeinsamer politischer Auseinandersetzungen zu machen.“

Selbstbestimmung ohne Selektion. Tolles Buch! Unbedingt lesen!

Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Verbrecher Verlag Berlin

my own song

Ich will nicht sein,
so wie ihr mich wollt
ich will nicht ihr sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr seid
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr sein wollt

nicht wie ihr mich wollt
wie ich sein will will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich bin will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt will ich sein
ich will sein

[Ernst Jandl]