Sonderschule oder Regelschule? – Gedanken zum Elternwahlrecht

Wir Eltern haben das Recht zu wählen, ob unser Kind mit Behinderung an eine Sonderschule oder an eine Regelschule gehen darf. Momentan hat man zwar deutschlandweit das theoretische Wahlrecht aber leider keine wirkliche Wahlfreiheit, denn die meisten Regelschulen nehmen nicht alle Kinder auf, schon gar keine Kinder mit speziellen Behinderungen wie Gehörlosigkeit, Blindheit, Autismus oder eben auch Schüler mit Down Syndrom. Die wenigen Regelschulen, die bereits solche Schüler aufnehmen, können noch lange nicht bieten, was die meisten Sonderschulen bieten können: kleine Klassen, super Personalschlüssel, fantastische Ausstattung, Ruhe- und Therapieräume, und und und.

Viele Hamburger Eltern von Kindern mit Down Syndrom sind deshalb ganz klar für die Erhaltung der Sonderschulen bis zu dem Zeitpunkt, an dem „das Bildungssystem in Hamburg tatsächlich und nicht nur auf dem Papier inklusiv ist“. Eine ganze Menge Hamburger Schüler mit DS, die einst in Integrationsklassen an Regelschulen lernten, sind in den letzten Jahren auf Sonderschulen gewechselt. Die Eltern sind enttäuscht, viele nach langem Kampf resigniert.

In der aktuellen Zeitschrift „Leben mit Down Syndrom“ finden wir auf Seite 25 einen stark inklusions-kritischen Artikel von Michael Brüstle, der selbst Vater eines 27-jährigen Jungen mit DS ist. Er schreibt z.B., dass man bei der ganzen „Inklusionseuphorie“ die Würde des Menschen mit Behinderung nicht vergessen sollte. Positive Beispiele nennt er Einzelfälle, die bei Eltern und der Gesellschaft falsche Erwartungen schüren würden. Und schließlich solle man laut Brüstle doch jedem Kind ersparen, immer das Schlusslicht in der Klasse zu sein.

Ich möchte die Argumente vieler Eltern gegen inklusive Beschulung nicht wiederholen. Gibt ja auch genug Zeitungsartikel, die die Inklusion bereits für gescheitert erklären. Stattdessen verweise ich an dieser Stelle nur auf Inklusionsfakten, die gute Gegendarstellungen und Erklärungen dazu bieten.

Da wären wir also beim heißen Thema Elternwahlrecht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte, formulierte 2011: „Das Recht auf Inklusion ist ein Recht der Person mit Behinderung. Die Eltern haben bei der Ausübung der elterlichen Sorge den Leitgedanken der Inklusion zu beachten und ggf. zu erklären, warum sie keine inklusiven Bildungsangebote wahrnehmen. Die Elternberatung, von welcher Seite auch immer, muss einbeziehen, Eltern das Recht auf inklusive Bildung vorzustellen und die Eltern hinsichtlich ihrer Gewährsfunktion aufzuklären“.

Das Elternwahlrecht ist demnach gebunden an das menschenrechtlich verbriefte Inklusionsrecht des Kindes! Die derzeit weit verbreitete Ansicht, dass es Sonderschulen wegen des Elternwahlrechts geben muss, ist unlogisch. Die richtige Reihenfolge wäre: Weil es Sonderschulen gibt, kann oder sollte es auch ein Elternwahlrecht geben. In der weit über einhundertjährigen Geschichte der Sonderschulen gab es kein Elternwahlrecht, sondern eine gesetzliche Sonderschulpflicht. „Sonderschulbedürftige“ Kinder mussten verpflichtend ohne Wenn und Aber eine Sonderschule besuchen. Schüler mit Behinderungen und ihre Eltern wurden per amtlichen Bescheid in die Sonderschulen gezwungen. Es ist schon komisch, dass ausgerechnet diejenigen, die über einhundert Jahre gegen eine Sonderschulpflicht eingetreten sind, sich nun, in Zeiten der Inklusion, für ein Elternwahlrecht auf die Beschulung in einer Sonderschule einsetzen. Erinnern möchte ich auch daran, dass es vor gar nicht allzu langer Zeit noch „besorgte Eltern“ (diese Bezeichnung ist zwar schon besetzt, aber passt einfach auch zu gut) gab, die für ihr Recht kämpften, ihre behinderten Töchter sterilisieren zu lassen. Zum Glück wurde Eltern mittlerweile dieses Recht genommen.

Elternentscheidungen lassen sich ganz gut steuern. Die Kultusministerkonferenz hat die Vorzüge des Elternwahlrechts ja schon lang entdeckt. Zum Zwecke des Elterwahlrechts muss nun zwingend das Förderschulsystem aufrecht erhalten werden, heißt es. Steuern lässt sich der Elternwille auch über die ungleichwertige Ausstattung in den Förderschulen und allgemeinen Schulen. Deshalb gibt es genügend Eltern, die zwar die gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule wollen, aber dann doch die Förderschule wählen müssen, weil die Bedingungen einer umfassenden Versorgung für Kinder mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen dort besser sind. Statt den Konflikt von Eltern wahrzunehmen und Qualitätsverbesserungen in der Ausstattung der allgemeinen Schulen vorzunehmen, wird die geringere Nachfrage nach gemeinsamer Unterrichtung bei Eltern von Kindern mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen als Ausdruck des originären Elternwillens interpretiert. Und schließlich wird der Elternwille stark beeinflusst von beratenden Sonderpädagogen und Therapeuten, die oft ihre guten Arbeitsbedingungen an den Sonderschulen bedroht sehen und häufig einen defizit-orientierten Blick auf ein Kind haben, das in ihren Augen nur durch viele Therapien und Schutzräume weniger behindert wird und weniger selbst behindert.

Da haben wir also den Hund, der sich in den Schwanz beißt: Eltern wählen Sonderschulen, weil Regelschulen nicht ausreichend vorbereitet sind und so existieren Sonderschulen ganz einfach so weiter wie bisher. Weniger Schüler haben die Sonderschulen bisher jedenfalls nicht.

Ganz sicher muss man Regelschulen fit für Inklusion machen. Da besteht kein Zweifel. Die schulische Seite soll hier jetzt aber nicht besprochen werden. Es geht mir um die Eltern. Ich behaupte, es braucht unbedingt viel mehr mutige Eltern, die die inklusive Beschulung wagen! Kein Lehrer und keine Schule kann von heut auf morgen inklusive Lern- und Schulstrukturen bieten. Diese müssen wachsen, und zwar mit Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen. Ich kann verstehen, wenn niemand aus seinem Kind ein Versuchskaninchen machen möchte. Aber wenn eine Schule und ein Klassenteam bereit sind, sich auf diese neuen Bedingungen einzulassen, das Kind willkommen heißen und wohlwollend sind, dann kann man ihnen auch eine Chance geben und Zeit lassen. Was hat man zu verlieren? Meines Erachtens sehr viel weniger als man zu gewinnen hat. Es wird immer Dinge geben, die nicht funktionieren. Es wird immer Zeiten geben, die nicht gut laufen. Neuerdings treffe ich jedoch immer wieder auf Lehrer und Schulen, die Lust auf Inklusion haben.

LUST AUF INKLUSION – das finde ich toll.

Wir Eltern brauchen nicht nur mehr Mut, wir brauchen auch ganz viel Vertrauen. In unsere Kinder und in die Pädagogen. Immer wieder höre ich Mütter klagen, dass die „Rucksack-Ressource“ ihres Kindes mit Down Syndrom nicht bei diesem Kind ankommt, sondern damit andere Schüler unterstützt werden. Gleichzeitig erzählen mir Förderkoordinatoren, dass die Kinder, die die meiste Unterstützung bräuchten (Kinder mit psychischen Schwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten) fast keine „Ressourcen“ bekommen. Diese Kinder haben auch keine Lobby, weil ihre Eltern häufig nicht in der Lage sind, sich für ihren Nachwuchs auf verschiedenen Ebenen einzusetzen. Selbstverständlich werden vorhandene Ressourcen so genutzt, dass der Lernprozess in der Gruppe gelingt und möglichst wenig gestört wird. Solange, bis jedes einzelne Kind (unabhängig von individuellen Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten und Behinderungen) die Förderung und Ressource erhält, die es tatsächlich benötigt, sollten wir bereit sein, zu teilen.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der kein einziges Kind auf der Strecke bleibt, in der kein einziges Kind auf einer Sonderschule beschult werden muss und, in der weder Bildungsinstitutionen noch Eltern oder Verbände aus Eigennutz inklusive Strukturen bremsen. Wir haben nicht nur die Verantwortung für uns selbst und unsere eigenen Kinder. Wir haben eine Verantwortung für die gesamte Gesellschaft, in der wir leben möchten.

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