Inklusion exklusiv

2008 hat die UN-Behindertenrechtskonvention „Inklusion“ als Menschenrecht für Menschen mit Behinderungen erklärt. Inklusion (lat. Enthaltensein) soll bedeuten, dass alle Menschen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Menschen sollen sich nicht integrieren oder an ihre Umwelt anpassen müssen, sondern die Umwelt sollte von Anfang an so geschaffen sein, dass alle Menschen gleichberechtigt in ihr leben können. Der Begriff „Inklusion“ wurde von Mitgliedern der Behindertenbewegung in den USA in den 70er-Jahren geprägt, die eine volle gesellschaftliche Teilhabe einforderten.

In Deutschland ist Inklusion bislang hauptsächlich im Bereich Schulbildung ein Thema. Nach und nach wird das Modell „inklusive Schule“ eingeführt, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen sollen. Bisher nimmt Deutschland jedoch immer noch einen hinteren Rang ein in Europa, was die Umsetzung solcher Schulmodelle betrifft.

Die Vorstellung von Inklusion soll nicht sein, dass Menschen „in etwas hinein inkludiert werden“ (so wie das ja bei dem Integrationsmodell war und wie der Begriff fälschlicherweise verstanden werden könnte). Schwerst behinderte Menschen sollen nicht einfach in eine „normale“ Umwelt gepackt werden und dann sehen müssen, wie sie zurechtkommen. Idealerweise sollten die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen berücksichtigt werden, damit eben auch endlich Menschen mit Behinderungen ganz normal teilhaben können. Inklusion heißt dann, dass sie ausreichend Unterstützung (z.B. Assistenten oder Schulhelfer) bekommen. Einige bezweifeln, dass dieses Gesellschaftsmodell finanzierbar ist. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern eine Gesellschaft etwas verändern will und welche Werte und Ziele ihr wichtig sind.

Trotz dieser wirklich tollen Idee einer inklusiven Umwelt, hat der Begriff „Inklusion“ für mich immer noch einen komischen Beigeschmack. Er erinnert mich an einen Satz von Kübra Yücel in dem Artikel Mesut Özil ist deutsch, ich bin es nicht, der im Oktober 2010 nach dem Sarrazin-Skandal in der TAZ erschien: Selbstverständlich ist Wulff auch ihr Bundespräsident. Sie wollen, dass man es ausspricht. […] Er tut es. Und plötzlich wird eine Selbstverständlichkeit so ad absurdum diskutiert.

Im Inklusionsblog der Aktion Mensch stellt sich Raúl Krauthausen die gleichen Fragen wie ich mir: Ist Inklusion nicht dann erfolgreich, wenn man sie nicht mehr benennt? Und führen manche gut gemeinte Inklusions-Aktionen nicht sogar zur Exklusivität?

Heute war ich in der Städtischen Kinderbibliothek, in der eine Fotoausstellung mit Irkutsker Kindern mit Down Syndrom gezeigt wird. Unter den Bildern stand jeweils der Name des Kindes und, was es gerne macht. z.B. sowas wie „Daniil puzzled gerne und ist ein Bücherwurm. Seine Familie erfreut sich jeden Tag an seinem sonnigen Gemüt.“

Im Englischen nennt man so etwas „inspiration porn“. Ein Inspirationsporno, so Stella Young, ist ein Bild, auf dem ein Mensch, meist ein Kind, mit einer Behinderung etwas vollkommen Normales tut, Laufen, Zeichnen, Tennis spielen z.B. und am Bild steht etwas wie „The only disability in life is a bad attitude.“, „Before you quit, try!“ oder ebend: „Trotz ihrer Behinderung lächelt sie oft und strahlt viel Lebensfreude aus“. Letzteres ist übrigens ein Beispielsatz von Leidmedien, der online-Ratgeber über Sprache und Behinderung, wie man nicht über Menschen mit Behinderungen berichten soll. Stella Young meint, diejenige, die diese Fotos oder auch Reklameplakate lesen, können dann meinen: „Also wenn dieser Mensch mit einer solchen Behinderung lachen und sich freuen kann, dann sollte ich mich wirklich nicht so schlecht fühlen. Und hey, es könnte schlimmer sein! Ich könnte selbst betroffen sein!“ Als Stella Young 15 Jahre alt war, wollte ihr eine Person aus der Stadtverwaltung irgendeinen „community achievement award“ verleihen. Für was denn?, fragten ihre Eltern. Sie tue doch nichts anderes als andere Kinder in ihrem Alter. Der Mensch aus der Verwaltung erwiderte „Yes, but she is such an inspiration!“.

Nun glaube ich, dass die Fotos in der Kinderbibliothek vom lokalen Verein für Eltern von Kindern mit DS „Raduga“ zeigen sollen, dass ihre Kinder ganz normale Kinder sind wie alle anderen auch. Die Normalität als Ideal finde ich allerdings ganz schön langweilig. Ich stelle mir gerade vor, dass alle Menschen auf der Welt die Trisomie 21 hätten und ich eine von wenigen Menschen mit 46 Chromosomen wäre. Dann sähe ich mein Bild in einer Ausstellung hängen, unter dem steht „Jenny hat 46 Chromosomen. Sie ist ein ernster Mensch, der sich und seine Umwelt immer unter Kontrolle haben will. Ihr Wesen ist eine Bereicherung für unsere Familie.“ He he.

Neulich schickte mir ein Kumpel ein Video, in dem begleitet von ergreifender Musik ein Hund versucht, mit einem kleinen DS-Jungen zu spielen, der ihn nicht wirklich ran lassen wollte. Zum Schluss wurde der Satz eingeblendet: „God doesn’t make mistakes.“ Was wollte mir der Kumpel damit sagen? Das ist in etwa genauso wie, wenn ich bei irgendwelchen Leuten in den Kinderwagen gucken würde und sagen würde „God doesn’t make mistakes.“. Hoffentlich findet der Vater oder die Mutter das dann auch witzig. Ich glaube allerdings, mein Kumpel hat es bitterernst gemeint.

Zurück zur inklusiven Gesellschaft. Natürlich wurden jahrhundertelang nicht die Bedürfnisse jedes Menschen berücksichtigt. Viele Menschen mit Behinderungen z.B. hatten in der Vergangenheit häufig weder die Möglichkeiten noch die Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse kund zu tun. Ich finde es super, dass es jetzt so viele tolle Projekte gibt wie wheelmap oder die Sozialhelden. Menschen mit Behinderungen werden langsam präsenter und lauter und wenn es nach mir ginge, könnten sie ruhig mal noch etwas lauterer werden und nicht immer so vorsichtig sein!

Deutschland – „Ein Paradies für Rentner und Menschen mit Behinderungen“?

Ich habe jetzt insgesamt fast sechs Jahre in Russland gelebt und habe noch nie einen Menschen mit Down Syndrom hier gesehen. Wo sind sie? Werden sie versteckt?

Die Reaktionen unserer Mitmenschen nach der Geburt unseres Sohnes mit DS waren dementsprechend haarsträubend. Eine Kindergärtnerin bot mir an, ihren bekannten Heilpraktiker mal aufzusuchen. Der habe magische Hände, sagte sie, und könne alles heilen. Eine gute Mitarbeiterin von mir sagte, dass ihre entfernte Cousine ebenfalls ein Kind mit Down Syndrom habe. Die Familie gehe davon aus, dass sie ein solches Kind bekommen hat, weil sie in ihrer Jugend einmal Drogen genommen hatte. Eine andere Mitarbeiterin wollte es nicht glauben, dass unser Kind das Down Syndrom hat. So etwas passiert doch nicht in normalen Familien! Eine bekannte Mutter eines dreijährigen Jungens mit Down Syndrom sagte mir neulich, dass in ihrer Familie bis heute nur ihr Ehemann und ihre zwei anderen Kinder vom DS beim Jüngsten wissen. Selbst der Großmutter scheut sie sich, es zu sagen. Auf meine Frage, ob diese das nicht bemerke, antwortete sie: „Sie hat einen anderen Umgang damit. Sie geht jetzt häufiger in die Kirche. Sie betet für den Jungen. Sie betet, dass er bald sprechen lernt.“

85 % aller Neugeborenen mit Down Syndrom verlassen russische Geburtskliniken nicht mit ihren Familien. DownSideUp, die größte NGO Russlands, die Familien mit Kindern mit DS berät, diverse Fortbildungen anbietet und sich das vorsichtige Ziel gesetzt hat, das Verhältnis der russischen Gesellschaft zu Menschen mit Behinderungen „positiv“ zu beeinflussen, veröffentlicht auf ihrer Webseite acht Mythen über das Down Syndrom, die in Russland kursieren:

1. Das Down Syndrom ist eine Krankheit, die man heilen muss.

2. Menschen mit Down Syndrom können nichts lernen.

3. Ein Kind mit Down Syndrom ist die Folge asozialen Verhaltens der Eltern.

4. Familien brechen auseinander aufgrund eines Kindes mit Down Syndrom.

5. Menschen mit Down Syndrom sind gefährlich für die Gesellschaft: sexuelle Aggressionen, unzureichendes Benehmen und ständiger Wechsel zwischen Gutmütigkeit und Wutanfällen bestimmen ihr Verhalten.

6. In Russland gibt es weniger Menschen mit Down Syndrom als in Europa.

7. In meiner Familie kann so etwas nicht passieren.

8. Ein Kind mit Down Syndrom sollte lieber in eine spezielle Einrichtung, wo Spezialisten es behandeln können.

Punkt 5. wird übrigens, so unsere Tagesmutti, auch in russischen Talkshows zur Primetime heiß diskutiert.

Als ich neulich bei einem Gespräch mit einer Mutter eines Kindes mit DS weinte, sagte sie: „Ich dachte, Menschen aus Europa weinen nicht nach der Geburt eines behinderten Kindes. Bei uns sieht man nur Bilder von glücklichen Familien aus Europa. Sie werden vom Staat ernst genommen mit ihren Bedürfnissen und nicht ausgegrenzt. Wir Russen denken, Deutschland ist ein Paradies für Rentner und für Behinderte.“

DownSyndromeMyths

Frauen in die russische Politik!

Seit nun fast fünf Jahren erlebe ich in Irkutsk in meinem Kollegen- und Freundeskreis ein interessantes Verhältnis der Frauen zu den Männern. Eine Freundin erzählte mir beispielsweise neulich, dass sie froh ist, dass ihr Ehemann ihr wenigstens „erlaube“, ein eigenes Business zu führen. Gleichzeitig kann sie mit ihm nicht über ihr Geschäft sprechen, da er sie als Ehefrau und nicht als Geschäftsfrau wahrnehmen möchte. Als sie zeitweise mehr Geld als er verdiente, scheute sie sich mit ihm über Geld zu sprechen. Es wäre für ihn ein offensichtlicher Ehrverlust gewesen. Ein anderes Beispiel ist eine Studentin, die vor zwei Jahren in meinem Unterricht zum Thema „Equal Pay Day“ sagte, sie findet es gut und richtig, dass Männer mehr Gehalt bekommen, da sie ja auch verantwortungsvollere Arbeit leisten. Auch berichtete mir eine Kollegin mit sehr guten Deutschkenntnissen, dass sie sich nicht auf ein Deutschland-Stipendium bewerben möchte, weil ihr Mann nicht will, dass sie dorthin geht. Stattdessen wünsche er sich Kinder. Täglich beobachte ich, wie kleine Mädchen auf dem Spielplatz ausgeschimpft werden, weil sie ihre Kleidung nicht beschmutzen sollen, während Jungs wild spielen dürfen. Auch die Kindergärtnerin und unsere Kinderärztin möchten alles nur mit mir als Mutter besprechen und nichts mit dem Vater, der sich von ihnen aus der Erziehung ausgeschlossen fühlt. Immer wieder erzählen mir Bekannte, dass deren Ehemänner das ganze Wochenende auf dem Sofa liegen, nichts tun, bei jeder Bitte stöhnen und eigentlich nur von oben bis unten bedient werden möchte. Eine Sprachlehrerin an der Schule erzählte, dass ihre Arbeit von ihrem Ehemann nur als „Hobby“ bezeichnet wird, da sie ja dafür so wenig Geld bekommt, dass man das „nicht ernst nehmen könne“. Wenn die junge Juristin erzählt, dass junge Frauen am Gericht eine Erklärung unterschreiben müssen, in den nächsten drei Jahren keine Kinder zu bekommen, bevor sie eingestellt werden können, kann ich das kaum glauben. Und auch an der Universität existieren Strukturen, in denen Männer in einer extra für sie eingerichteten Position sitzen, in der sie nichts weiter zu tun haben, als Eröffnungsreden bei Veranstaltungen zu halten. Während alle Mitarbeiterinnen ihnen nach dem Munde reden, werden sie heimlich belächelt. Ich könnte die Liste noch ewig weiter führen, denn fast täglich werden mir solche Geschichten erzählt. Und immer wieder sagen mir diese Frauen, dass sie gleichberechtigt sind und, dass sie mit Frauenbewegungen oder gar Feminismus absolut nichts anfangen können.

Aber es gibt sie. Die Frauen in Russland, die etwas verändern wollen und mit der Situation mehr als unzufrieden sind. Nur sind es noch wenige. Zudem sind sie noch nicht genug organisiert und eindeutig viel zu wenig in politischen Gremien vertreten. Nadeschda Schwedowa, Politologin und Leiterin des Zentrums für Politik- und Sozialforschung am Institut für USA- und Kanada-Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften, bestätigt:

Das unzureichende Bewusstsein der Aktivistinnen in Bezug auf ihre bürgerlichen Rechte, die Unterschätzung der Notwendigkeit politischer Beteiligung, die zu schwach ausgebildete Verbindung von feministischer Theorie und Praxis der Frauenbewegung sind ein Manko. Die soziale Basis der Bewegung muss erweitert werden, es muss an Koalitionen gearbeitet werden, sowohl zwischen Frauen-NGOs untereinander als auch mit anderen Organisationen, einschließlich politischer Parteien und Gewerkschaften.

Auch sie plädiert für mehr Frauen in öffentlichen Ämtern. Zu Sowjetzeiten gab es zwar schon eine 30-Prozent-Frauenquoten im Obersten Sowjet, aber dieser war nur ein dekoratives Gremium, indem keine wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Praktisch regierte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und das Politbüro. Dort gab es jedoch in der gesamten sowjetischen Geschichte nur eine einzige Frau, die Kulturministerin Jekaterina Furzewa.

Warum distanzieren sich aber so viele Frauen in Russland vom Feminismus? Antwort darauf fand ich bei Olga Woronina, Doktorin der Philosophie und Direktorin des Moskauer Zentrums für Genderforschung:

Weil in Russland ein höchst unansehnliches Bild vom Feminismus geschaffen wurde. Besonders intensiv hat es sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre herausgebildet. Mit der Perestroika setzte in den Medien ein kritischer Pathos ein, der nicht gegen die Gesellschaft gerichtet war, die die Frauen diskriminiert, sondern gegen die Frauen selbst, indem ihnen, neben anderen ‚Sünden’, vorgeworfen wurde, ihre „natürliche Bestimmung“ vergessen zu haben. Gleichzeitig entstand ein Bild vom Feminismus als einer militant gegen Männer eingestellten Bewegung, die von Frauen gebildet wird, die im Privatleben nicht erfolgreich, nicht schön und aller Wahrscheinlichkeit nach lesbisch sind…. Das ist das karikaturhafte Bild der krummbeinigen Blaustrümpfe. Und die Frauen wollen nicht mit diesem Bild assoziiert werden.

Einen historischen Überblick über den Aufstieg der Frauenbewegung in Russland beschreibt Jelena Maximowa anhand der Artikel zum Frauentag (8. März) in der noch heute erscheinenden Zeitschrift Rabotniza („Arbeiterin“). In ihrem Text „Vom Marxismus zum Sexismus“ heißt es:

[…] In Russland wurde der Frauentag erstmals 1913 in Moskau und St. Petersburg begangen. 1914 fand er auch in Saratow, Samara, Iwano-Wosnessensk und Kiew statt. Zu dieser Zeit erschien auch die erste Ausgabe der Zeitschrift Rabotniza („Arbeiterin“), deren Gründung auf eine Initiative der Fraktion der Bolschewiki in der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) zurückging. Auf der ersten Seite der Rabotniza war zu lesen: „Die Zeitschrift verfolgt das Ziel, die Interessen der Frauenarbeiterbewegung allseits zu verteidigen.“ [….] In der Rabotniza Nr. 7 des Jahrgangs 1930 ist zu lesen: „Die millionenstarken Massen der Frauen in der UdSSR sind herangewachsen und haben einen derart bedeutenden Platz für den Aufbau des Sozialismus eingenommen, dass ihr weiteres Wachstum nur durch die ganze Partei geleitet werden kann“. [….] In den Nachkriegsjahren ist die Frau „die Reserve der Arbeiterklasse“, und am 8. März bringt sie „in unermüdlicher Arbeit“ die sowjetische Wissenschaft voran, erhöht die Arbeitsproduktivität und erzieht die Kinder. […] Mit Beginn der 1990er Jahre verschwinden praktisch nicht nur die Glückwünsche zum Feiertag von den Seiten der Rabotniza, sondern es wird der 8. März sehr oft überhaupt nicht mehr erwähnt; und wenn, dann im Kontext von „Liebe Männer, schenkt den Frauen Blumen!“ […]

Maximowa resümiert, dass aus dem einstigen Tag des Kampfes für die Gleichberechtigung der Frauen in unserer Zeit ein Tag geworden ist, der die Quintessenz des Sexismus markiert.

Das Bildungsniveau der beschäftigten Russinnen soll heute viel höher sein, als das der Männer. Russische Frauen arbeiten aber nicht nur im Bildungs- und im Gesundheitswesen, sondern auch im produzierenden Gewerbe (Hier sollen 49 % der Beschäftigten Frauen sein). Zudem kümmern sie sich meist ohne Unterstützung der Männer um Hausarbeit und Kindererziehung. Soja Chotkina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für soziale und wirtschaftliche Probleme der Bevölkerung an der Russischen Akademie der Wissenschaften schreibt:

Frauen wird für ihre Arbeit weniger gezahlt, nicht nur deshalb, weil unter ihnen viele geringbezahlte Lehrerinnen und Putzfrauen zu finden sind, und unter den Männern hochbezahlte Vorgesetzte und Minenarbeiter. Nach Angaben von Arbeitsvermittlungsfirmen werden an den selben Arbeitsplätzen männlichen Managern 25-30 % mehr Gehalt geboten als deren weiblichen Mitbewerberinnen.

Seit Anfang der 90er Jahre spricht man in Russland sogar von einer „Renaissance des Patriarchats“. Genderforscherinnen bezeichnen damit die verstärkte Diskriminierung der Frau auf dem Arbeitsmarkt, das Abdrängen der Frauen in den Bereich der Hausarbeit und die Verbreitung einer anhaltenden Frauenarmut.

Der moderne russische Trend, so die Genderforscherin Olga Sdrawomyslowa, besteht darin, dass mit traditionalistischer Ideologie und Politik führende Positionen im öffentlichen Raum eingenommen werden. Hierzu gibt es kein Gegengewicht; es fehlen jetzt praktisch jene kritische Reflexion oder sozialen Bewegungen, die auf diese Genderherausforderung antworten würden. Auf die Frage, was denn am traditionalistischen Ansatz falsch sei, antwortet Sdrawomyslowa:

Wir leben im 21. Jahrhundert, und die historisch erkämpften Werte – Menschenrechte, die Würde der Person und die Gleichberechtigung der Geschlechter – lassen sich nicht mehr abschaffen. Das Fehlen einer so wesentlichen Modernisierungskomponente wie Gleichstellung der Geschlechter wirft die Gesellschaft zweifellos ins Archaische zurück.

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Сагаалган – Frühlingsanfang in Burjatien

Die Burjaten sind eine mongolische Ethnie und zusammen mit anderen kleineren indigenen Völkern sind sie die „Ureinwohner“ Sibirien. Während die Burjaten westlich des Baikalsees weitgehend russifiziert wurden und weder ihre Sprache (Burjatisch) noch ihre Religion (Buddhismus) weiterführten, leben die Burjaten östlich des Baikalsees teilweise noch heute in Jurten, sprechen Burjatisch und sind Buddhisten. Von burjatischen Studenten wurde mir erzählt, dass die „Westburjaten“ die „Ostburjaten“ für rückständisch und hinterweltlerisch halten. Gleichzeitig werden die „Westburjaten“ von den „Ostburjaten“ nicht mehr als ihresgleichen, also als richtige Burjaten, anerkannt. Hier kommt es oft zu ernsten Auseinandersetzungen.

Der wichtigste Feiertag für richtige Burjaten ist „Сагаалган“, der Beginn des Frühlings und der Beginn des Neuen Jahres. Nach dem mongolischen Mond-Sonnen-Kalender fällt er dieses Jahr auf den 11. Februar. Das Wort Sagaan (mong.) bedeutet „weiß“, die Wochen nach Сагаалган werden auch als weißer Monat bezeichnet. Zu dieser Zeit werden Speisen aus Milchprodukten zubereitet und häufig weiße Kleidung getragen. Сагаалган ist ein Symbol für das Erwachen der Natur und des Menschen, aber auch für Offenheit und Erwartung des Neuen.

Im Gut Sukachewa kann man derzeit eine Ausstellung burjatischer Künstler zum Сагаалган-Fest besichtigen.

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Fotos: Stephanie Drömer

Die Kunstsammlung von Wladimir Sukachew

Wladimir Platonowitsch Sukachew wurde am 14. Juli 1849 als Sohn einer wohlhabenden Familie in Irkutsk geboren. Sein Vater war Beamter der Ostsibirischen Generaldirektion, seine Mutter wuchs als Nachkömmling einer alten Sibirischen Kaufmannsfamilie auf. Wladimir Platonowitsch studierte an der Petersburger Universität Rechtswissenschaft und später in Kiew Biologie. 1880 kam er mit seiner Frau und seinen beiden in der Ukraine geborenen Söhnen Boris und Platon nach Irkutsk zurück, wo später noch zwei weitere Kinder, Wladimir und Anna, geboren wurden. Nach Erhalt einer großen Erbschaft von seinen Verwandten, investierte er maßgeblich in die Entwicklung der Stadt. Hier initiierte er z.B. den Bau des Stadttheaters, spendete Geld für ein Armenhaus, ein Obdach für jugendliche Straftäter sowie eine Blindenschule. Von 1886 bis 1898 war er Bürgermeister von Irkutsk. Sukachew hat sehr viel für die Entwicklung Irkutsks getan. Unter seiner Führung wurde in der Stadt eine Freiwillige Feuerwehr gegründet, das öffentliche Telefonnetz wurde ausgebaut, Elektrizität wurde verlegt, die Wasserversorgung samt Kanalisation wurde erheblich verbessert und schließlich ließ er die erste Pontonbrücke über die Angara errichten, die endlich die bis dahin tätige Fähre ersetzte.1920 starb er mit 71 Jahren in den Armen seiner Frau Nadjeschda und seiner Tochter Anna, heißt es.

Sukachew war ein großer Kunstliebhaber und -sammler. 1989 wurde ein Teil der Irkutsker Kunstgalerie nach ihrem Gründer benannt. Im „Gut Sukachew“ (Усадьба Сукачёва) im Zentrum von Irkutsk kann man heute auf einem restaurierten Gelände in wunderschönen Holzhäuschen einen Teil seiner Sammlung sowie Familienfotos und -möbel anschauen. Außerdem gibt es einen großen Wintergarten und wenn man Glück hat, singt der hauseigene Kanarienvogel einem russische Gedichte. Der große Park eignet sich für einen Spaziergang – einer der wenigen Orte in Irkutsk, der nicht vermüllt ist.

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Fotos: Stephanie Drömer

Eine Bäckerei in Sibirien

Diese wunderbare Bäckerei in Maloje Galoustnoje haben wir uns heute angeschaut. Vor über 50 Jahren wurde sie eröffnet. Sowohl der Ofen, die Brotformen, die Riesen-Teigknetmaschine, der Brotständer – also die komplette Gerätschaft, als auch das Personal ist seit dem ersten Tag dabei. Es roch vorzüglich. Das frisch aus dem Ofen (der auf einmal 300 Brote fasst) geholte, warme Kastenbrot aßen wir auf der Stelle. Das Sonnenlicht durchflutete den Raum. Die Bäckerinnen konnten nicht glauben, dass ihre Bäckerei für uns interessant sein soll. Sie wussten nicht, dass das einer der authentischsten Orte war, die wir je gesehen hatten und er für uns mehr Aura besaß, als jedes Gemälde.

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