Spielplatznostalgie

Dort, wo ich her komme, gab es in meiner Kindheit noch keine Abenteuerspielplätze mit Piratenbooten, Kletternetzen, Hängebrücken, Trampolinen oder Holzhütten. Es gab nur Klettergerüste aus Eisenstangen. Trotzdem war ich quasi täglich mit meinem Schwesterherz und meinen Cousinchen dort und wir spielten meist Viereckraten, Verstecken, Fangen oder Gummihoppse. Daran erinnere ich mich noch ganz genau, denn ich liebte den Spielplatz.

Was die Spielplatzdichte in Irkutsk angeht, sind wir verwöhnt. Es gibt in fast jedem Hof bzw. hinter fast jedem Haus einen Platz für Kinder mit mindestens zwei Klettergerüsten. Suchen muss man allerdings nach einem Spielplatz, der nicht an einer stinkenden, weil stark befahrenen Straße liegt, der nicht mit Katzenpisse, Hundekot, Leergut und Zigarettenstummeln voll ist oder, der ein wenig Grünzeug zu bieten hat. Zudem sind viele der Spielplätze kaputt, oft sind z.B. die Schaukeln abgerissen, die Sitzflächen auf den Wippen fehlen oder bohren Nägel in den Po, Stangen der Klettergerüste sind verbogen oder fehlen ganz, Treppenstufen sind heraus gebrochen oder Rutschen zerreißen die Hosen bei Benutzung.

Worauf jedoch häufig geachtet wird, sind gepflegte kleine Blumenbeete in liebevoll aus 5-Liter-Wasserkanistern oder alten Autoreifen gebastelten Blumentöpfen, deren Berührung (egal, ob mit dem Fuß oder dem Ball) sogleich mit lautstarkem Zorn einer immer an irgendeinem Fenster sitzenden Dame, bestraft wird.

Blumentöpfe_1 Blumentöpfe_2 Feuerwehr Klettergerüst_1 Klettergerüst_2 Rakete

Wie man sich noch tiefer in die Bildungskrise schießt – Ein Bericht aus der russischen Provinz

Heute wurde den Mitarbeitern und Studierenden der Irkutsker Staatlichen Linguistischen Universität (ISLU) zum zweiten Mal aufgetragen, bei der freien und geheimen Abstimmung für den Zusammenschluss mit der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität (MSLU) zu stimmen. 89% der Mitarbeiter und ungefähr genauso viele Studenten waren demnach mit einer ungewissen Zukunft ihrer Bildungseinrichtung einverstanden, denn konkrete Vorhaben werden laut Rektorin der MSLU Khaleevea erst noch ausgearbeitet. Wie die Presse berichtet, versprach Khaleeva den Studenten höhere Stipendien (viele russische Studenten studieren kostenlos, wenn sie entsprechend gute Noten bekommen, die Erlassung der Studiengebühren und ein klitzekleines monatliches Taschengeld springen dabei heraus – hier muss erwähnt werden, dass fast alle Studierenden gute Noten bekommen, denn das Lehrergehalt hängt auch von der „Leistung“ der betreuten Studierenden ab). Außerdem versprach sie die Wiedereinführung einer Fakultät für millitärische Ausbildung.

Bereits vor einem Monat war bei vesti.irk.ru zu lesen, dass die Baikaluniversität für Wirtschaft und Recht in Irkutsk ab September 2013 Spezialeinheiten für den russischen Geheimdienst FSB, für das russische Innenministerium, den Föderalen Dienst für den russischen Strafvollzug und anderen Sicherheitsbehörde ausbilden wird. Hier sollen die Studenten nicht nur Gesetze und Sicherheitsmaßnahmen kennenlernen, sondern auch Techniken der Strafverfolgung und den Gebrauch von Waffen. „Nach der fünfjährigen Ausbildung werden die Studenten nicht nur in der Lage sein, alle Aufgaben, die ihnen zugetragen werden, mit Logik und Vernunft zu erfüllen, sondern auch das nötige Handwerkszeug, sprich die Waffen, anwenden können“, schwärmt der Dekan der Fakultät für Staats- und Völkerrecht (der gleichzeitig Polizeioberst ist) Wladimir Moizeew.

Der Zusammenschluss der ISLU mit der MSLU wurde mit einem „Приказ“ (Befehl) des Russischen Bildungsministeriums am 15. März bereits besiegelt. Nun kam jedoch dazwischen, dass sich der Bildungsminister Liwanow momentan in einer denkbar schlechten Lage befindet, denn nicht nur das russische Parlament, sondern auch Bildungseinrichtungen des gesamten Landes, wie z.B. die Irkutsker Akademie der Wissenschaften fordern mittlerweile den Rücktritt des Ministers, der sich in seinem Amt seit Monaten diverser Korruptionsvorwürfe stellen muss.

Auf die Frage einer älteren Professorin für Germanistik der ISLU, ob Khaleeva den Mitarbeitern in dieser Situation nicht Mut machen bzw. irgendeine Garantie bieten kann, dass ihre Arbeitsplätze auch nach dem Zusammenschluss mit der MSLU erhalten bleiben (denn bis 2018 soll die Hochschule „wirtschaftlich effektiv“ arbeiten), antwortete die Moskauer Rektorin: „Wollen Sie mein Ehrenwort im Namen unserer Partei ‚Einheitliches Russland‘ oder welche Art von Garantie erwarten Sie?“

Meine Studenten können ihren Unmut über diese Situation kaum noch zurück halten. Ihnen fehlt jegliche Motivation für das Lehramtstudium, mit dem sie ja doch keine Arbeit finden, von der sie sich ernähren können und demnach leider darauf angewiesen sein werden, einen besserverdienenden Lebenspartner zu finden. Als ich mich neulich vor ihnen darüber lustig machte, dass die tägliche Reklame an der ISLU von Irkutsker Firmen, die Haus- und Diplomarbeiten für die Studenten schreiben, auf Kopierpapier gedruckt ist, das auf der Rückseite Verträge mit Studenten mit allen persönlichen Angaben zeigt, schaute die halbe Gruppe mit roten Köpfen nach unten.

Ich frage mich, warum alle so pessimistisch sind? Die Germanistikprofessorin kann schließlich zur Millitärfakultät wechseln. Und bis 2018 kann sie schon mal lernen, in der gerade frisch eröffneten Schießbudenkette „Patriot“, die sich im Zentrum der Stadt ausbreitet, ihre Fragen etwas nachdrücklicher zu formulieren.

Schießbude Patriot Irkutsk

Queergeneration

Seit 11. April ist in der Irkutsker Gallerie «Revолюция» die Fotoausstellung „Queergeneration“ von Yana Khankhatova zu sehen. Homosexualität ist in Russland noch immer ein großes Tabuthema, dass die Leute wenn, dann nur im privaten Kreis diskutieren möchten. Zu Sowjetzeiten wurde Homosexualität als Geisteskrankheit und Verbrechen eingestuft, für das man mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft wurde. Erst 1993 wurde Homosexualität entkriminalisiert. Der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, allen voran des Patriarchs Kyrill, ist seitdem beim Thema Homosexualität nicht zu unterschätzen: „Wir sind gegen die Gleichstellung homosexueller Beziehungen und für natürliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen“, sagte er 2009 noch recht vorsichtig und wiederholt dies seitdem immer deutlicher wann immer er Gelegenheit dazu bekommt. In mehreren Regionen Russlands hat sich auf kommunaler Ebene nun das „Gesetz gegen Homosexuellenpropaganda“ (das gleichzeitig gegen Bisexualität und Pädophilie ist) durchgesetzt, das angeblich Kinder und Jugendliche schützen soll. Plakate mit der Aufschrift „Schwul sein ist normal“ werden in diesen Regionen beispielsweise mit Geldstrafen geahndet, genau so wie Kinderpornographie. Die russische amtierende Gesundheitsministerin Weronika Skworzowa schoss den Vogel ab, indem sie Homosexualität mit einer Krankheit und „schädlichen vermittelten Gewohnheiten“ wie Drogensucht oder Rauchen verglich. Wir waren demnach ganz gespannt, was sich die Künstlerin aus Ulan Ude in „Queergeneration“ wagt, zu zeigen.

„Queer“, so heißt es in der Ausstellung, bedeute soviel wie „fremd“ oder „seltsam“ und wurde hier verwendet für alle nicht der Tradition entsprechenden Verhaltensmuster. Insofern nimmt die Ausstellung weniger Bezug auf Homosexualität, als vielmehr auf eine neue Form der Weiblichkeit, die in Russland bisher kaum so gezeigt wird. Ein Foto stellt z.B. eine Frau in eindeutig sexualisierter Pose dar, auf ihren Ringen steht „Fuck Love“. Ein anderes Bild zeigt eine junge Burjatin mit traditionellem Kopfschmuck und einem, ihre Brüste zum Teil entblößendem, Netzpullover. Ein anderes Bild zeigt eine burschikose Frau mit kurzen Haaren, Brille und Muskelshirt.

Da die meisten russischen Frauen, die ich kennen gelernt habe, traditionelle Frauen- und Männerrollen nicht ablehnen, ihre Weiblichkeit bewusst und gerne für diverse Zwecke einsetzen und Feminismus allgemein bzw. eine gewisse Rollendistanz komplett verweigern, fand ich die Ausstellung ziemlich gut. Auch, wenn sie nicht unsere Erwartungen von „Queer“ erfüllte.

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Leidmedizin

Bei den Reaktionen Anderer auf das Down Syndrom unseres Sohnes ist bisher eine Menge Mitleid und Trost dabei gewesen. Also muss ich es hier jetzt mal ausdrücklich sagen: wir leiden nicht. Wir müssen nicht getröstet werden. (Im Moment leiden wir schon ein bisschen. Aber das hat andere Ursachen.)

Besonders hervorheben möchte ich die dämliche Reaktion quasi jeder zweiten Ärztin seit Toljas Geburt: „Na machen Sie sich nichts draus. Sie sind ja noch jung und können noch ein oder zwei Kinder bekommen!“ Mein Vorschlag an Leidmedien ist, doch auch für Ärzte Schulungen anzubieten, was sie besser für sich behalten sollten. Oder vielleicht auch für Ärzte eine Liste erstellen wie die Tipps für Journalisten. Was soll das heißen, dass ich „doch noch ein Kind bekommen kann“? Erstens weiß ich das selbst. Und zweitens und vor allem, zählt DIESES Kind etwa nicht?

Nächstes Mal werde ich bei besagtem Kommentar erwidern: „Ich hoffe, Sie haben noch jüngere Geschwister. Mit Ihnen ist es sicherlich nie leicht gewesen.“

Ostern und Albträume

Bei uns ist gerade der Wurm drin. Kaum waren wir gesund und Lili wieder im Kindergarten, hat sie wieder eine Überraschung mitgebracht. Bei dem Sauwetter und dem Schlamm im Kindergarten auch kein Wunder. Starke Bronchitis. Nun haben wir ihr das erste Mal Antibiotika gegeben, denn so lange so krank war sie noch nie. Und natürlich hat Tolja sich auch wieder bei ihr angesteckt. Damit die Kinder mal wieder etwas zum Freuen haben, haben wir uns entschieden, heute Ostern zu feiern. Letzte Woche war Sascha das ganze Wochenende beim Eisfischen auf dem Baikal, Ostern an Ostern musste also ausfallen. Und da in Russland dieses Jahr erst im Mai das russische Osterfest gefeiert wird und es für uns sowieso Improvisation bedeutet (es gibt hier weder, Osternester, noch -hasen oder Schokoeier – die die Kinder in den Geschäften verführen könnten), können wir den Ostersonntag einfach festlegen.

Tolja hat den Feiertag mehr oder weniger auf dem Arm von Papa verbracht, er war sogar zu schwach zum Essen. Lili hat das erste Mal Osterüberraschungen gesucht und ist nun den ganzen Tag dabei, ihre Süßigkeiten immer und immer wieder zu verstecken und zu suchen. Wie schon an Weihnachten hieß es dann wieder, dass sie jeden Tag Ostern feiern will. Irgendwann habe ich ihr dann erzählt, dass es in Deutschland an Ostern in fast jeder Stadt Osterfeuer gibt, die den langen Winter vertreiben sollen. Und es gibt überall in Deutschland Ostermärsche. Bei Ostermärschen, erklärte ich ihr, gehen die Leute auf die Straße, um gegen etwas Schlimmes auf der Welt wie Krieg zu demonstrieren. „Und man kann gegen kaputte Ostereier und nasse Hosen demonstrieren.“, erwiderte sie.

Das erinnerte mich an ihre schlimmsten Albträume. Einmal im Monat hat sie so einen. Dann wacht sie kreischend und total verheult auf, lässt sich minutenlang nicht beruhigen und murmelt dann schließlich irgendwann etwas wie „Mein Bonbon war heruntergefallen.“, oder, „Jemand hatte mir meine Schokolade weggenommen.“

1. Eier 2. Eierbecher Pferd und Schwein 3. Hühner 4. Osterkörbchen Tolja 5. Osterkuchen 6. Lili Lolli 7. Osterstrauch 8. Tolja

Frühlingsschlamm

Gestern bekommen wir ein Brief unserer Kinderklinik mit dem „Jahresbericht“ unser betreuenden Kinderärztin in die Hand gedrückt, in dem uns vorgeworfen wird, wir würden die Gesundheit unseres Kindes gefährden, da wir fast nie die Medikamente geben, die uns verschrieben werden. Angefangen hat der ganze Spaß mit der Neurologin dieser Klinik, die uns gleich nach der Geburt letztes Jahr im März dauerhaft Encephabol zur Steigerung der Gehirnaktivität verschrieben hat. Wir hatten nicht nur die Frechheit, die Empfehlung der Ärztin in Frage zu stellen und die Dauerkur zu verweigern, sondern ich drückte der Kinderärztin auch noch einen ins Russische übersetzen Artikel zur umstrittenen Wirksamkeit dieses Medikamentes in die Hand, um unsere Verweigerung zu erklären. Später erschien mir das ziemlich arrogant ihr gegenüber. Eine russische Bekannte sagte, wir hätten einfach so tun sollen, als ob wir das Zeug regelmäßig geben. Weiter ging es mit diversen Antibiotika, die uns im Laufe des letzten Jahres nicht nur bei Husten, sondern auch prophylaktisch verschrieben wurden, wenn ein anderes Familienmitglied krank war.

Dann lese ich gestern auch noch diesen bescheuerten Artikel in DIE ZEIT über Inklusion an deutschen Schulen und lerne daraus, dass ich ein inklusives Schulmodell nur befürworte, weil ich selbst „betroffen“ bin. Auch weiß ich jetzt, dass Eltern eigentlich ein Problem hätten, wenn sie ihre „verhaltensgestörten“ Kinder auf eine Regelschule schicken und, dass dieses ganze Inklusionsvorhaben nur „die Welt für Behinderte ein bisschen besser machen will“. Interessant auch zu erfahren, dass ich nicht in der Wirklichkeit lebe.

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Nach diesem Frühling muss mal wieder was Schönes kommen.