Der eine poltert, die andere tobt

Anatol muss momentan entweder etwas zum Essen in den Händen haben, oder ein Telefon, oder Geschirr. Sonst wird gebrüllt. Wir haben einen hohen Verschleiß an Handys und Porzellan. Mit beiden wird am allerliebsten gegen Fensterscheiben, Spiegel, Glastüren oder gegen die Badewanne gehauen. Gerne auch mal um 6 Uhr morgens, damit die Nachbarn wissen, dass es Zeit zum Aufstehen ist.

Liljana liebt die Tragik. Wenn die Diva tobt, hat das jedoch meist einen triftigen Grund, z.B.:

  • Sie hat geträumt, dass wir sie im Zug oder im Geschäft vergessen.
  • Sie hat ihr Taschentuch aus Versehen in einen öffentlichen Mülleimer geworfen, aus dem sie es nicht mehr herausholen kann.
  • Sie will ihre graue Katze wieder haben, die sie vor einem Jahr einem anderen Kind geschenkt hat. (Die Erinnerung kommt seitdem so ca. einmal im Monat wieder hoch.)
  • Mama hat ihr ein Stück Schokolade weg gegessen.
  • Ihr Salbeibonbon oder ihr Gummiwürmchen ist auf der Straße aus dem Mund gefallen und sie kann ihn nicht mehr weiter lutschen.
  • Sie will zwei, bekommt aber nur einen Bonbon.
  • Mama hat einen kaputten Aufkleber oder ein Papierschnipsel von ihr einfach weggeschmissen.
  • Sie will an den Computer und Mama erlaubt es nicht.

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Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wäre Inklusion absurd

Inklusion hat nichts mit Menschen mit Behinderungen zu tun. In erster Linie hat sie mit den Menschen zu tun, die sich anmaßen, sich selbst und ihresgleichen zur Norm zu setzen. Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wären alle Menschen sowieso gleichberechtigt.

Inklusion wird meist mit Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht. Man sagt, dass nun auch ein autistisches Kind eine Regelschule besuchen „darf“. Aber ein Kind darf nicht „dürfen“, sondern geht selbstverständlich in eine Regelschule! Oft heißt es: Inklusion hilft den Schülern mit Behinderungen. Das stimmt nicht. Sie hilft vor allem den Schulen selbst. Das heillos veraltete deutsche Schulsystem ist so marode, dass ihm nichts besseres passieren kann, als auf diesem Weg Modernisierung einzuleiten. Jede Schule, die sich vor dieser grundlegenden Veränderung sträubt, wird wohl früher oder später nicht mehr existieren können. Allen voran wird die handvoll Schulleiter sein, die dies schon längst kapiert haben.

Aber, um dieses, seit Jahrtausenden zur-Norm-Gesetzte zu überwinden, reicht es nicht aus, sich mitten in die Norm hinein zu setzen und ein bisschen mitzumachen. Man braucht auch Mut und Souveränität, um die alten Strukturen zu sprengen. Es geht nicht darum, dass ein Kind sich in der Schule anpasst, alle Regeln befolgt und bloß nicht auffällt. Es muss die Schule sein, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden muss, wenn sie sie auf eine, für die Gesellschaft nützliche, zukünftige Arbeit vorbereiten will. Es muss immer Regeln geben, aber die müssen gemeinsam mit den Kindern im Klassenverband ausgehandelt werden. Und wer auffällt durch Stören muss die Möglichkeit einer Auszeit bekommen. Jeder von uns kann sich für ein anderes Lernen einsetzen. Nicht, weil es in Zeiten der Inklusion unser Recht wäre, sondern, weil die Zeit dafür gut ist, die Norm abzuschaffen.

 

Erniedrigungen

Ich frage mich, wie ich mich entwickelt hätte, wenn ständig Leute gesagt hätten, dass man auch solche Leute wie mich lieben und integrieren sollte? Oder kann? Oder muss? Oder, wenn meine Eltern in meiner Gegenwart regelmäßig von ihrem Schock nach meiner Geburt erzählt hätten? Oder, wenn überhaupt regelmäßig in meiner Gegenwart über mich geredet worden wäre, als ob ich nichts verstehen würde? Wie hätte ich mich entwickelt, wenn mich in meinem Leben viel zu wenig Leute in Gespräche und Aktivitäten mit einbezogen hätten und mir selten etwas zugetraut hätten? Was wäre aus mir geworden, wenn ich ab der vierten Lebenswoche von Therapeut zu Therapeut geschleift worden wäre, um mich noch besser und schneller zu entwickeln? Und wie wäre ich aufgewachsen, wenn die meisten Leute, die mir im Leben begegnet sind, ängstlich oder unsicher gewesen wären? Wenn sie nicht gewusst hätten, was sie mir gegenüber hätten sagen können oder wie sie sich mir gegenüber zu verhalten hätten? Wo wäre ich wohl jetzt, wenn andauernd meine Eigenständigkeit durch permanente Vorsicht oder Misstrauen blockiert worden wäre? Was, wenn ich nicht wie alle anderen in einen Regelkindergarten oder auf eine Regelschule hätte gehen dürfen? Was, wenn man gewollt hätte, dass ich mich sterilisieren lasse, um keine Kinder (solche wie mich!) zu bekommen?
Was, wenn man immer angenommen hätte, ich wäre nicht verletzt, da ich immer so ein Sonnenschein bin?

Inklusion ist keine gute Sache, sie ist selbstverständlich

Das Erste, was mir nach der Geburt unseres Sohnes geraten wurde, war: „Nehme Kontakt auf zu anderen Eltern mit behinderten Kindern!“ Relativ häufig kann man auch Aussagen lesen wie „Ein Kind mit Behinderung erweitert den Horizont.“. Das sehe ich anders.

Obwohl es für mich nach Anatols Geburt in erster Linie wichtig war, ALLE (;-) Informationen zur Trisomie 21 zu bekommen, befolgte ich den gut gemeinten Rat. Da er in Irkutsk geboren wurde, nahm ich also Kontakt zu Irkutsker Müttern auf, von denen die meisten noch immer im „Schock über das behinderte Kind“ waren/sind. Obwohl diese Mütter schon ältere Kinder hatten, fand ich mich also nach der Geburt in der Rolle wieder, diese Mütter von der Normalität ihrer Situation zu überzeugen und stachelte sie auf, die Irkutsker Stadtverwaltung von der natürlichen Teilhabe ihrer Kinder am Bildungssystem zu überzeugen und damit für ihr Recht auf Arbeit zu kämpfen. Denn alle diese Mütter konnten nicht arbeiten gehen, weil es einfach keine „normale“ Kinderbetreuung für ihre Sprößlinge gab. Alle Mütter gingen davon aus, dass Deutschland das Paradies für Behinderte ist und, dass in Deutschland niemand, nach der Geburt eines behinderten Kindes, Grund dafür hat, traurig zu sein. Auch ich begann, die rechtliche Situation, die Gesundheitsversorgung und den Umgang mit Behinderten in Deutschland zu verherrlichen. Als ob es DIE einheitliche Gruppe von Behinderten gäbe. Und als ob es DEN einheitlichen Umgang mit ihnen gäbe. Doch so paradiesisch ist es hier gar nicht.

Dann las ich hunderte von Blogs von Eltern mit Kindern mit DS, in denen diese wie kleine Heilige beschrieben werden, die alle Mitmenschen glücklich machten, als ob sich Eltern nicht sowieso über jeden Schritt, den ein kleines Wesen macht, freuen würden. Und als ob, wie Birte Müller mal beschrieb, DS-Kindern die Sonne aus dem Arsch scheine.

Dann schickte mir ein befreundeter Sonderschullehrer, den ich im übrigen sehr schätze, viele links zu Dokus oder Artikeln, warum Kinder mit Behinderungen ihren geschützten Raum bräuchten und, warum man die Sonderschulen erhalten sollte. Das sehe ich anders. Menschenrechte und Inklusion sind unteilbar. Und hier noch weitere Argumente, warum ein gemeinsamer Unterricht selbstverständlich ist.

Wieso sollte es eigentlich so etwas wie eine Gruppenidentität von Eltern mit behinderten Kindern, von Sonderpädagogen oder von Behinderten geben? Ich identifiziere mich nicht mit Menschen, die eine Sonderschule befürworten, egal, ob sie Erfahrung mit Behinderten haben oder selbst behindert sind. Ich identifiziere mich auch nicht mit Eltern, die sich oder ihr Kind bemitleiden. Und schon gar nicht identifiziere ich mich mit Eltern, die aus Angst vor einem weiteren behinderten Kind, keine Kinder mehr bekommen wollen. Diese Eltern sprechen auch davon, dass ein Kind mit Behinderung den Horizont erweitere, als ob es Kinder gäbe, die den Horizont nicht erweitern würden. Soll diese Glorifizierung eines behinderten Kindes ein Schutz gegen die gesellschaftliche Ablehnung sein? Versteh ich nicht.

Ich bedaure sehr, dass in meiner Schule keine Schüler oder Lehrer mit auffälligen Behinderungen waren. Ich bedaure, dass es dort kaum Schüler oder Lehrer mit Migrationshintergrund gab. Dass niemand offen homosexuell sein konnte. Dass der Direktor und sein Stellvertreter männlich waren und, dass die Schule sich noch heute als Elitegymnasium brüstet. Eine solche Schule wünsche ich niemandem. Eine Elite-Schule kann für mich nur noch eine Schule für Alle sein.Und nun möchte ich, dass unsere Tochter in eine bunte Hamburger Schule kommt. Any suggestions?

Aber zurück zur Gruppenidentität. Ich finde es sehr schade, dass es noch so viele Menschen gibt, für die Inklusion nichts weiter als ein schönes Konstrukt ist. Es ist für mich ein ziemlich billiges Argument, zu behaupten, dass Inklusion theoretisch ja super toll ist, aber praktisch nicht funktioniert. Meist wird dann noch mit irgendwelchen Rahmenbedingungen, die nicht gegeben sind, argumentiert. Das ist genauso, wie, wenn sich mein Nachbar über DAS System beschwert. Jeder von uns hat in seinem Leben Spielräume, in denen er bewusst Entscheidungen treffen kann. Inklusion ist keine gute Sache, die eingeführt werden muss. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft, in der kein einziger Mensch fremdbestimmt werden darf und, der auch ich mich zugehörig fühlen möchte.

Würde man nur mit halb so viel Energie wie man die Selektion in Deutschland perfektioniert, Diversität perfektionieren wollen, dann wäre die Umsetzung von Inklusion auf politischer Ebene ein Kinderspiel.

 

Wer macht mit?

Da bin ich also mit meinem Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein Nr. 039A284975-1 beim „Persönlichen Coaching“, eine Maßnahme, die mir von Frau Langer bei der Arbeitsagentur empfohlen wurde. Der persönliche Plan lautet: 2 Einheiten individualisierte Potenzialanalyse, 4 Einheiten Selbstmarketing, 1 Einheit Erstellung/Optimierung von Bewerbungsunterlagen und 3 Einheiten Erarbeitung alternativer Bewerbungsstrategien.

Würde aber auch gerne auf den Spaß verzichten. Denn eigentlich will ich seit Jahren selbst ein Projekt auf die Beine stellen. Und jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt.

Hey, Hamburgerinnen! Ich brauche euch. Lasst uns Ideen sammeln, Kräfte austauschen und loslegen! Bin voller Visionen, Zuversicht und Tatendrang. Und noch eine Angestellten-Arbeitsverhältnis-Kompromisslösung würde mich wieder bremsen.

Wem geht es genauso? Wer macht mit?