Ein Witz

„Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: ‚Meinen Schlüssel.‘ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: ‚Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.'“ (aus: Anleitung zum Unglücklichsein, Paul Watzlawick)

Zum Video: Hund kümmert sich um DS-Kind

Ich bin jetzt seit ca. einem Monat in der facebook-Gruppe „Down Syndrom Elternforum“. In dieser (kurzen!) Zeit wurde das Kind-Hund-Video bereits gefühlte zehnmal geteilt. Es scheint sehr beliebt zu sein. In dem Video spielen ein süßer Hund und ein kleiner süßer Junge mit Down Syndrom miteinander. Im Hintergrund spielt melancholischen Musik. Zum Schluss werden die Worte „God doesn’t make mistakes“ eingeblendet.

 

Ich kannte dieses Video schon lange vor meinem Beitritt in die facebook-Gruppe, denn es wurde mir irgendwann einmal von einem Freund zugeschickt.

 

Mal abgesehen von der Kitschigkeit des Formats, was man sich ja auch als nette Unterhaltung anschauen kann, verstehe ich die Intention des Videos nicht. Warum spielt im Hintergrund diese Tränendrüsenmusik? Kaum ein Zuschauer, der da nicht gerührt ist. Kaum einer, dem beim Zuschauen keine Träne läuft, dem nicht das Herz aufgeht und, der kein Mitleid fühlt. Wir erfahren außerdem, dass die Videomacher an Gott glauben. Sie glauben auch, dass dieser Gott, keine „Fehler“ macht. Den kleinen Jungen mit dem dreifachen 21. Chromosom hat also Gott erschaffen und ihn genau so gemacht, wie er sein sollte. Wenn das die Logik ist, warum wird dann Tränendrüsenmusik gespielt? Warum wird dann nicht „Love is all around me“ von Wet Wet Wet? Oder „Happy“ von Pharrel Williams oder Thunder von AC/DC gespielt?

 

Es scheint, so richtig wollen die Videomacher doch nicht daran glauben, dass das gottgegebene Kind wirklich „keine Fehler“ hat. Wollen sie also vielleicht das Gegenteil? Die Akzeptanz von Fehlern??

Hm. Gähn. So oft wie es geliked wird und so oft, wie Eltern von Kindern mit DS es posten oder teilen, scheint die mir unverständliche Botschaft irgendwie allen anderen klar zu sein.

 

Da muss wohl dieser Gott, an den sie glauben, bei mir einen Fehler gemacht haben, wenn ich das nicht verstehe.

 

Die Fressraupe

Anatol kann den ganzen Tag essen. Während seine vierjährige Schwester Liljana zum Frühstück maximal ein halbes Toast (meist nur mit Butter) isst, verputzt er mindestens zwei ganze Toast mit Marmelade und/oder Honig. Nach dem Frühstück beginnt die Jagd. Anatol schiebt sich alle möglichen Gegenstände (Hocker, Stühle, Fußbänke) in die Küche, um irgendwo herum liegende Nahrungsmittel zu ergattern. Kein Keks, keine Banane, nichts ist vor ihm sicher. Sobald ich ihn entdecke, stopft er schnell alles Gefundene in den Mund, aus Angst, ich würde es ihm wegnehmen. Wenn ich ihm einen Keks aus der Hand nehme und auffordere, nicht nur Süßes in sich hinein zu stopfen, brüllt und wütet er und stampft erregt mit dem Fuß. Schmeiße ich ihn aus der Küche raus, findet er garantiert unter dem Esstisch oder in den Sesselritzen noch alte Cornflakes oder ein paar Schinkenwürfel. Es scheint, als hätte er kein Sättigungsgefühl.
Einmal hat er sich überfressen. Das war an seinem zweiten Geburtstag. Ich hatte ihm eine Sahnetorte bestellt, außerdem einen Blechkuchen gebacken und unsere Nachbarin brachte einen selbst gemachten Käsekuchen. Anatol genoss ein Stück seines Geburtstagskuchens (wann sonst bekommt man schon mal Sahnetorte?). Ich wollte ihm die Hände waschen, da zeigte er auf den Käsekuchen, von dem er unbedingt noch ein Stück wollte. Ich dachte, zu seinem Geburtstag werde ich ihm alle seine Wünsche erfüllen. Er aß auch dieses Stück. Aber dann sah er einige Gäste den leckeren Blechkuchen essen und konnte einfach nicht widerstehen. Ich sagte „Schluss jetzt. Das wird zu viel.“, hob ihn aus dem Kindersitz und wollte ihn waschen. Dabei machte er dermaßen Aufstand, dass ich ihn doch sitzen ließ. Er wird schon wissen, wann er nicht mehr kann, nahm ich an. Ha. So ein Quatsch. Er futterte auch noch dieses Stück. Überglücklich sah er dabei aus. Das erste Mal wurde er beim Essen nicht gebremst. Danach durfte ich ihm die Hände waschen. Wie üblich sauste er dann durch die Wohnung. Es dauerte nicht lange, da kletterte er auch schon wieder auf einen Stuhl am Esstisch. Dabei muss er sich wohl den Bauch gequetscht haben, denn plötzlich erbroch er ein Viertel seines Sahnetortenstückes. Die gute Torte. Er war enttäuscht. Und ich war so erschrocken, dass ich ihm erst einmal eine Woche lang alles Süße verbot. Kein Kuchen, keine Kekse, keine Waffeln, kein Eis. Länger konnten wir das leider nicht durchhalten, denn ich und seine Schwester können ja nicht ewig heimlich essen.
Der Futterneid bei Anatol ist leider nicht nur auf die Familie beschränkt. Auch wenn wir Zug fahren, im Zoo sind oder in irgendwelchen öffentlichen Gebäuden: isst jemand eine Wurst, muss Anatol die haben. Isst jemand ein belegtes Brot, muss er das auch haben. Alle Leute müssen denken, der Junge bekommt Zuhause nichts zu Essen. Zumal er mit seinen 2 Jahren und 2 Monaten gerade einmal 10 kg leicht ist und nur 80 cm groß. Wo lässt er das Essen? Ich weiß es einfach nicht.
Einmal waren wir zum dritten Geburtstag einer Nachbarin eingeladen und Anatol stiefelte (wie immer bei Buffets) den gesamten Nachmittag um den Tisch herum und griff sich immer mal wieder ganz nebenbei irgendeine Brezel, eine Weintraube oder anderes. Neben einer Menge Kindern war diesmal jedoch auch ein kleiner Mops eingeladen, der ebenfalls um den Tisch lief. Anatol witterte gleich den Rivalen. Sobald der Hund in seine Nähe kam, umklammerte er sein Häppchen noch fester und schrie los, um das Vieh abzuschrecken. Hatte er seine Ration gesichert, ging die Runde stolz weiter. Diese Szene wiederholte sich noch ein paar Mal, bis es dem Mops zu doof wurde.
Als mich vor zwei Wochen Frau Dr. Traus im Werner Otto Institut fragte, was Anatol gewöhnlich esse, verschwieg ich ihr nicht, dass er sehr viel esse und besonders Süßes mag. Sie verkniff sich die Gesunde-Ernährung-Lektion und dachte vermutlich nur, dass wir es später einmal bereuen werden.
Als Liljana drei Jahre alt war, dachte sie immer, dass ein Mensch platzen könne, wenn er gaaaaanz viel isst. In ihrer kindlichen Phantasie malte sie sich aus, wie das sei, wenn man platze. Sie war noch zu jung für Monty Python, deshalb konnte ich ihr die Realität nicht zeigen. Irgendwann wird sie es mit eigenen Augen sehen. Ich werde derweil versuchen, hauchdünne Pfefferminzblättchen von ihrem Bruder fern zu halten.

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Nähe und Distanz

Sind nicht andere Eltern behinderter Schüler, die ihre Sprösslinge an Sonderschulen schicken, auch daran „Schuld“, dass die Sonderschulen erhalten bleiben und der Prozess der Inklusion nicht voran kommt?

Diese Frage hatte ich beim Fachgespräch „Integration oder Inklusion“ am 19.3. in der Lebenshilfe Hamburg in die Runde gestellt und erntete zu Recht große Empörung. Denn natürlich sind sie nicht Schuld. Nur wenige wollen sich auf Experimente einlassen.Die Langsamkeit der flächendeckenden Umsetzung inklusiver Bildung an Regelschulen in Deutschland hat vielmehr rein ökonomische und rechtliche Ursachen, antwortete

Prof. Dr. Harm Paschen von der Universität Bielefeld. Das, was Eltern mit ihrer distanzlosen und emotional geprägten Haltung wollen, sei in diesem Prozess eher irrelevant.

Diese Antwort fand ich hart. Aber vollkommen korrekt. Bei der Lehrerbildung, den Kosten, den Schulformen und -abschlüsse, dem Einsatz von Schulbegleitern usw. hapert es ja nicht an Unwillen, sondern an den noch meist ungeklärten finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Erwähnt wurde im Gespräch, dass Schleswig-Holstein diesen Weg gegangen ist. Sie haben von heut auf morgen die Förderschulen abgeschafft und alle Kinder mit Behinderung sollen nun Hals über Kopf an Regelschulen gehen. Damit seien alle Beteiligten momentan dort enorm überfordert, sagte Paschen.