Der Junge ist nun 2 Jahre 5 Monate alt. Er hat bisher ein paar Wörter ein paar Mal gesagt: Mama, Papa, Oma, hei (für heiß), nein, und Ball. Einmal gesagt heißt nicht, dass er z.B. das Wort Ball nun benutzt. Genauso wie das Wort Steffi (Name meiner Schwester) hat er Ball vor ca. 2 Monaten ein einziges Mal deutlich gesagt und danach nie wieder. Meist zeigt er, was oder wohin er will oder schüttelt den Kopf, wenn er etwas ablehnt. Bei jedem anderen Kind würde man sagen, dass manche Kinder eben erst später mit dem Sprechen beginnen. Bei Anatol sagen alle Ärzte und Therapeuten, dass Kinder mit dem Down Syndrom meist Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben und oft spät oder nie sprechen lernen. Es gibt und gab viele Studien zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS, die die Ursachen für die Sprechschwierigkeiten beschreiben und, die viele Tipps zur Optimierung des Kommunikationsverhaltens zwischen Eltern und DS-Kindern geben.
Seit einem halben Jahr empfehlen uns viele Therapeuten und andere Elternvon Kindern mit DS, dass wir mit dem Kind jetzt die Gebärdenunterstützte Kommunikation (GUK) beginnen sollen. Dabei sollen wichtige Begriffe aus seiner unmittelbaren Lebenswelt neben dem üblichen Sprechen gleichzeitig gebärdet werden. Man geht davon aus, dass DS-Kinder zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr zwar sehr viel verstehen, sich aber noch nicht sprachlich äußern können. Sich selbst verständlich zu machen ist jedoch für die gesamte Entwicklung sehr wichtig, denn laut Forschung merkt man nur so, dass man die Welt „verändern“ kann bzw. sein Umfeld beeinflussen kann und kommt nur damit aus dem eher passiven Baby-Dasein heraus.
Also hatte ich mich mit Anatol bei der deutschlandweiten Studie „KUGEL“ am Hamburger Werner Otto Instituts zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS angemeldet. Therapeutischer Druck, Überfürsorge von mir und „die Forschung“ drängten mich zu dieser Entscheidung. Denn eigentlich kann ich ganz gut mit Anatol „reden“. Es schadet aber nichts, kann ja nur nützen, dachte ich. Die Teilnahme an der Studie beinhaltete 5 Elternabende á zweieinhalb Stunden ohne Kind und ein Treffen mit Kind, bei denen die Eltern eine „Fortbildung“ in der Einführung der GUK bekommen und sie dann auch praktisch mit dem Kind anwenden sollen. Außerdem sollten wir dreimal zur Eingangsdiagnostik kommen. Und viele Fragebögen beantworten.
Gestern habe ich nach den zwei ersten Diagnostik-Terminen die Entscheidung getroffen: wir nehmen nicht mehr teil und beginnen jetzt nicht mit Gebärden!
Heute große Erleichterung über diese Entscheidung!!!
Warum (noch) keine Gebärden?
1. Anatol ist erst zweieinhalb Jahre alt.
2. Das Einführen von Gebärden wäre momentan „prophylaktisch“, denn es KÖNNTE ja sein, dass er erst sehr spät sprechen lernt oder gar nicht. Muss es aber nicht.
3. Anatol ist nicht DAS Down Syndrom – Kind. Das zusätzliche Chromosom ist eine Eigenschaft von ihm und bestimmt nicht unseren Alltag. Allgemein verbreitete Diagnosen, die mit DS verbunden sind, können aber müssen nicht auf ihn zutreffen. Er ist EINE PERSÖNLICHKEIT mit eigener Entwicklung und eigenem Tempo.
4. Er braucht noch ein bisschen Zeit. Bisher zeigt er weder seine Körperteile (z.B. Nase oder Ohren), noch zeigt er auf benannte Gegenstände (z.B. Autos oder Bälle in Bilderbüchern). Wir vermuten, dass er die Verbindung vom Wort zu einer Sache noch nicht herstellen kann. Er befolgt zwar manchmal einige Aufforderungen (z.B. Jacke anziehen, Zähneputzen gehen, Tisch decken, …), so dass man vermuten könnte, dass er die Aufforderung versteht. Wir gehen jedoch davon aus, dass er diese Aufforderung automatisiert hat (da sie ja täglich zum etwa gleichen Zeitpunkt geschehen) bzw. kopiert (seine Schwester geht Zähneputzen, zieht sich an, …, und er tut das Gleiche).
Warum nicht die Teilnahme an der Studie?
1. Ich möchte nicht an einer Studie zur Sprachentwicklung unseres Sohnes teilnehmen, in der wir Eltern in Fragebögen gefragt werden, ob wir seit der Geburt unseres Kindes weniger oder mehr Lust auf Sex haben.
2. Videoaufzeichnungen, in denen ich 10 Minuten mit meinem Kind spielen und kommunizieren soll ‚wie immer‘, können nur konstruiert sein.
3. Ich empfinde diese Beobachtung/Beurteilung unseres Kommunikationsverhaltens fast wie eine Invasion in unsere so intime und persönliche Mutter-Kind-Kommunikation.
4. Fragen zur sozialen Situation und den genauen Familienverhältnissen sind m.E. nicht relevant für das Studieninteresse. (siehe auch Gedanken zum deutschen Berichtswesen in der Frühförderung.)
5. Anatol muss nicht „geheilt“ werden, denn er ist nicht krank. Er muss nicht optimiert werden, denn er ist gut, so wie er ist.
6. Wir finden, unsere Familienkommunikation braucht nicht optimiert werden. Sie muss erst gar nicht optimal sein. Wir sind zufrieden, so wie sie ist.
7. Sascha hatte von Anfang an kein Interesse und keine Lust auf diese Studie. Ich habe mich nicht getraut, mich auf meine Intuition zu verlassen.
Das Kind wird sich jetzt sicherlich nicht mehr nach seinen Möglichkeiten entwickeln können, in den nächsten drei Jahren viele viele Frustrationserlebnisse haben und der Fremdbestimmung seiner Bezugspersonen wehrlos ausgeliefert sein.