Urlaub mit einem liebevollen Diktator

Ende Juli waren wir eine Woche auf einem Bauernhof in Teschendorf, im Osten Schleswig Holsteins, nahe Heiligenhafen. Und ohne die Aufmerksamkeitsbesonderheiten Anatols (5) wäre es ein traumhafter und entspannter Urlaub gewesen. So war es wie alle Familienurlaube von uns schön aber auch ziemlich anstrengend. Oft kommt sein Schwesterherz Liljana (8) mit ihren Wünschen und Bedürfnissen zu kurz. Hier ein paar Beispiele:
Bei Autofahrten die länger als 30 Minuten dauern, schnallt sich Anatol permanent ab und turnt dann die ganze restliche Zeit im Auto herum. Anfangs brüllen wir ihn meist total laut und ängstlich an, „wie gefährlich das sei“ und, dass „er sich sofort hin setzen und anschnallen soll“. Dann weint er kurz, setzt sich hin, schnallt sich an und … schnallt sich kurze Zeit später wieder ab und turnt.
Im Bus möchte Anatol meist auf einem von ihm ausgewählten Sitz Platz nehmen. Ist der besetzt, dann wird der Sitzplatzinhaber mit Fingerzeig, bösen Blicken und lautem Nölen von ihm genötigt, den Platz zu räumen. Wird der Platz nicht für Anatol frei gemacht, beginnt er fies zu weinen. Wird der Platz geräumt, dann setzt er sich grinsend über seinen Erfolg hin und nötigt auf die gleiche Weise einige Minuten später einen anderen seiner Sitznachbarn, auf dessen Sitz er es dann abgesehen hat…
Am Strand lässt sich Anatol meist kurz davon begeistern eine Sandburg zu bauen oder Steine und Muscheln zu sammeln. Schnell hat er darauf keine Lust mehr und dann beginnt seine Erkundungstour. Mit nassen sandigen Füßen rennt er über die Decken oder Handtücher der Strandgäste. Nebenbei klaut er von ihnen z.B. Sonnenmilch oder ein Gummitier und haut damit grinsend ab. Nehme ich ihm die Sonnenmilch oder das ergatterte Gut wieder weg um es zurück zu geben, dann beginnt er mich, die Nachbarn und/oder Passanten wütend trotzig zu hauen. Dann kommt der nächste Sonnenanbeter dran…
Im Meereszentrum kann man Fische und andere Meerestiere sehen. Anatol stellt sich z.B. auf die erhöhte Kinderstufe vor dem ersten Aquarium, schaut kurz die Fische an und ist anschließend ausschließlich damit beschäftigt, die Stufe als SEINE Stufe zu verteidigen. Fortan darf kein weiteres Kind diese Stufe betreten. Wer es versucht, der wird forsch mit Fingerzeig auf das nächste Aquarium verwiesen oder mit Schubsen daran gehindert in die Nähe SEINER Stufe zu gelangen. Dann weinen die anderen Kinder, ihre Eltern regen sich über Anatol auf und ich versuche erfolglos ihm zu erklären, dass alle Kinder auf die Stufe dürfen bis ich ihn letztendlich doch zum nächsten Aquarium zerre, wo das gleiche Spiel beginnt… Nach ein oder zwei Aquarien hat er genug davon, beginnt dann durch das gesamte Meereszentrum zu flitzen und haut dabei grinsend allen Leuten beim Vorbeirennen gegen die Beine oder gegen den Po. Zwischendurch klettert er auf die Fels-Attrappen (auf denen „Klettern verboten“ steht) oder hangelt die Fische- und Kraken-Aufsteller aus Pappe herauf. Manchmal huscht er auch durch die Notausgänge oder geht in Türen hinein, die nur für das Personal zugänglich sind. Das riesige Hai-Aquarium und auch die anderen Tiere interessieren ihn eigentlich nicht mehr. Vom tobenden und flüchtigen Entdecken ist er nur noch mit dem Versprechen auf ein Eis im Museums-Kiosk abzubringen.
Anatols Wege sind grundsätzlich seine eigenen Wege. Wenn wir skaten und Laufrad fahren, sich der Weg vor uns teilt und wir alle nach links fahren, dann fährt Anatol nach rechts. Fahren wir nach rechts, dann fährt er nach links. Wenn Sascha und ich uns vorher einigen, uns aufzuteilen, ihn SEINEN Weg wählen lassen und dann einer von uns einfach diesen Weg mit fährt, kann es passieren, dass er sein Laufrad auf den Weg schmeißt und einen dritten Weg nimmt: z.B. freudig geradeaus ins Feld hinein stürmt…
– Anatol liebt Spielplätze. Dort wird meist von ihm SEIN Klettergerät okkupiert. Er stürmt z.B. auf die Rutsche. Oben auf der Rutsche darf kein anderes Kind mehr hoch kommen. Mit dem Finger wird das andere Kind von oben von dem kleinen Zwerg Anatol bedroht. Kommt es doch hoch, wird es noch auf der Leiter stehend mit den Füßen getreten. Auch zur Rutschseite hin wird eisern verteidigt. Kein Kind darf oben sitzen bleiben. Sofort bekommt es von Anatol einen Tritt in den Rücken. Auch diejenigen, die die Rutschseite hoch laufen werden nicht oben auf das Podest gelassen. Denn Anatol ist schließlich der Herr der Rutsche.
– Er liebt auch Tiere. Auf dem Bauernhof gibt es viele Tiere. Mit ihnen wird alles geteilt. Auch Anatol mag das Katzenfutter. Er kann z.B. auch den Katzen oder den Hühnern den halben Tag hinterher laufen in der Hoffnung sie zum Streicheln zu Fassen. Aber sie sind zum Glück meist schneller. Wenn nicht werden sie schon mal mit ordentlichem Bauerngriff von Anatol am Hals gepackt. Er läuft ihnen überall hin hinterher: durch das dichteste Gestrüpp, unter den Ställen hindurch, hinter Schränke in der Scheune, über Tische usw. Dabei klatscht er in die Hände und ruft miau miau miau. Ganz niedlich. Nur die Weinbergschnecken sind in Anatols Nähe in Lebensgefahr.
Im Weizenfeld rennt er gern. Er rennt so schnell, dass keiner ihm folgen kann. Er kann 10 Minuten lachend in eine Richtung rennen, dann 10 Minuten lachend zurück. Dann nochmal. Danach seine Schuhe und Socken ausziehen und nochmal rennen. Dann sein T-Shirt ausziehen und nochmal rennen. Bis auf die Windel alles nach und nach ausziehen und nochmal rennen. Irgendwann ist er sooo k.o., dass er sich auf den Weg setzt, weint und nach Hause getragen werden möchte.
Im Sandkasten spielt Anatol viel und intensiv, z.B. macht er dort Kaffee und Kuchen für alle. Dann geht er rum und verteilt seinen Kaffee. Lehnt ein Erwachsener den frischen Kaffee ab, dann wird Anatol böse. Er fuchtelt dann so lange mit der Tasse (Sand-) Kaffee vor der Nase des Erwachsenen herum bis dieser sie endlich nimmt, so tut als ob er trinkt und den guten Kaffee lobt.
– Anatol ist immer in Bewegung und blitzschnell. Einmal war er schon angezogen und fertig zum Laufrad fahren während ich mir noch eine Minute die Schuhe zu band. Als ich auf sah, war er verschwunden. Ich suchte ihn eine ganze Weile auf dem ganzen Bauernhof. 10 Minuten später fand ich ihn mit seinem Laufrad bei den Getreidesilos. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ich nach ihm suchte.
Das waren nur ein paar Beispiele, wie der kleine Diktator uns vom morgendlichen Aufwachen bis zum abendlichen Einschlafen auf Trab hält. Zwischendurch grinst er, gibt uns viele viele Küsschen, umarmt uns zärtlich, kuschelt ausdauernd und hat uns unglaublich lieb. Genau wie wir ihn.

Nur Lili hasst ihn. Sie möchte eigentlich, dass wir schauen, welche neuen Kunststücke sie kann.

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