Es gibt vielerorts keinen Schnee mehr

2022 ging bei mir vieles zu Ende, auch ein wenig mein Glaube an die Menschen, an die Gesellschaft, an Politik und an das gute Leben für meine Kinder. Ich schreibe jetzt darüber, weil ich die Zeit verstehen möchte, in der ich lebe und auch, weil ich meine, dass ich nicht nur individuell als Person darin verstrickt bin, sondern auch andere genauso oder auf ähnliche Weise verstrickt sind.

Russland und der Krieg
Am 24. Februar begann Russlands Präsident Putin einen Krieg gegen die Ukraine. Das war ein schwarzer Tag für mich. Von früh bis in die Nacht hörte ich Nachrichten und verfolgte die Ereignisse dieses Tages. Ich konnte es nicht fassen. Ein Jahr habe ich in Moskau studiert, fünf Jahre lebten und arbeiteten wir in Irkutsk. Ich spreche die Sprache, unsere Kinder sind beide in Sibirien geboren, wir haben dort Freunde. Mich verband zwar schon immer eine Hassliebe mit diesem Land, aber einen Krieg gegen die Ukraine hatte ich bis zuletzt niemals für möglich gehalten. Diesem sinnlosen Krieg fielen und fallen wahrscheinlich noch für eine elend lange Zeit nicht nur unzählige Menschen zum Opfer, viele russische Freundinnen sehen auch keine Zukunft mehr für ihre Kinder, sind zerrissen und ziehen sich noch mehr zurück. All das, wofür ich Russland liebte (ich fühlte mich dort immer auf eine Art freier als in Deutschland), bekam in 2022 einen bitteren Beigeschmack. Jahrelang kämpfte ich gegen die Osteuropaignoranz des Westens. Viele Jahre verteidigte ich die so oft im Westen verurteilte Willkür (bezeichnete das russische Handeln oft als menschlicher), ich verharmloste die anhaltende Geheimdienstüberwachung (als Relikt aus der Vergangenheit, als eine Art Gewohnheit), ich sah in der Diktatur einer Machtelite die einzige politische Möglichkeit in Russland (denn bei den einfachen Menschen vermisste ich jeglichen Willen Gesellschaft mitzugestalten) und schließlich bot Russland für mich eine Alternative zum von mir schon immer kritisierten Kapitalismus des Westens.
Das Schlimmste war und ist jedoch für mich: mein klarer Pazifismus steht nach 43 Lebensjahren plötzlich auf sehr wackeligen Beinen. Ich war und bin immer gegen den Krieg und gegen Waffenlieferungen gewesen. Die nötige Unterstützung eines Schwächeren zur Selbstverteidigung relativiert nun meine feste Position, von der ich noch immer nicht ganz abweichen möchte. Ich weiß nicht was richtig und was falsch ist in dieser Situation. Meinen Kindern kann ich glaubwürdig nur diese Unsicherheit vermitteln. Ich kann nicht mehr ausschließen, dass wir Krieg erleben werden. Ich kann nicht mehr versprechen, dass wir immer im Frieden leben werden.

Mutterschaft

Früher dachte ich immer, dass bedingungslose Liebe reicht, um Kinder glücklich werden zu lassen. Ich war mir ganz sicher, dass unsere Kinder mit all unserer massenhaften wahnsinnigen Elternliebe wunderbar glückliche Menschen werden. Aber das reicht nicht aus.

Lili ging es nicht gut in diesem Jahr. Wir wussten lange nicht genau was los ist, konnten ihr Unwohlsein nicht verstehen, nicht zuordnen, ihr nicht helfen. Es war schwer Ärzte zu finden, die das können. Es gab Mitte des Jahres viele Wochen, in denen ich vor Sorge nicht schlafen konnte. Auch wenn es ihr ein wenig besser geht, die furchtbaren Sorgen um sie kommen immer mal wieder.

Vor ungefähr zwei Wochen erzählte mir ein Bekannter ganz überschwänglich von einer jungen Erwachsenen mit Down Syndrom, die er neulich im Fernsehen gesehen hätte und die einen Hauptschulabschluss erworben hat. Er sprach von den tollen Eltern und wie gut sie das machen und wie wunderbar sie das Kind stets gefördert hätten.

Bei Anatol änderte sich in diesem Jahr nicht viel. Sein wöchentliches Handballtraining mussten wir aufgeben, weil er nach Monaten auf einer Warteliste endlich einen Platz in einem Spezial-Schwimmkurs bekommen hatte. In „normalen“ Schwimmkurse haben sie ihn nicht aufgenommen. Leider ist der Schwimmkurs am gleichen Tag wie Handball. Dass er Schwimmen lernt, ist uns sehr wichtig.
Zusätzlich ist er in 2022 montags bei einer Sportgruppe gewesen, in der er das einzige Kind mit Behinderung ist. An einem Montag im September sagte ein ca. 9-jähriger Junge aus diesem Kurs zu mir, dass er Anatol überhaupt nicht leiden könne. Tolja hat sich bei diesem Sportkurs schon mehrfach eingenässt, was er sonst nie tut. Die Trainer sind sehr bemüht, aber augenscheinlich überfordert mit seiner Integration in den Kurs. Ich weiß nicht, ob das noch lange gut geht.
Und schließlich haben wir nach neun Jahren wöchentlicher Logopädie in 2022 zusammen mit der Logopädin entschieden eine Therapiepause zu machen. Nicht, weil Tolja jetzt so gut Sprechen kann, sondern, weil seine Aussprache sich seit vielen Monaten nicht verbessert. Vielleicht wird er niemals ganz klar und deutlich Sprechen können.

Viele Kinder in Toljas Klasse auf der Förderschule haben alleinerziehende Mütter. Zwei der Mütter hatten in 2022 unabhängig voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten einen Unfall, so dass sie ihre Kinder nicht mehr betreuen konnten. Beide hatten niemanden, der die Kinder spontan zu sich nehmen konnte und wollte. Wir haben gemeinsam eine Lösung gefunden und jetzt geht es beiden Müttern besser. Mir haben beide Ereignisse sehr bewusst gemacht, wie allein gelassen Mütter oft sind, insbesondere Mütter von Kindern mit Behinderung. Auch sind mir in 2022 mehrere verzweifelte Mütter begegnet, deren erwachsene Kinder mit Behinderung in der Pandemie eine psychische Erkrankung entwickelt haben und keine psychotherapeutische Hilfe erhalten. Schon bei nichtbehinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist die Versorgung hier nicht ausreichend. Bei Menschen mit Behinderung ist es eine einzige Katastrophe und die Not der Betroffenen kolossal.

Nein, Kindern reicht keine bedingungslose Elternliebe. Sie brauchen Frieden. Sie brauchen Ärztinnen und Therapeutinnen, die sie behandeln. Sie brauchen andere Erwachsene und Kinder, die sie wertschätzen und ihnen wohlwollend begegnen. Sie brauchen Mütter, denen andere im Krankheitsfall oder in der Not helfen. Und sie brauchen eine Perspektive für eine gute Zukunft.

Inklusion

Nach acht Jahren politische Kämpfe im Hamburger Bündnis für schulische Inklusion habe ich 2022 aufgehört.

Die Pandemie hatte nach zwei Jahren zu einem Stillstand in quasi allen Bereichen der schulischen Inklusion geführt, meist sogar zu Rückschritten. Ich hatte jahrelang versucht die zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen von Schülerinnen, Eltern, Pädagoginnen, von Schulen und Behörde zu sammeln und gemeinsame Ziele heraus zu filtern. Ich hatte immer den Anspruch auf Positionen im Bündnis, die sich auf basisdemokratische Entscheidungsprozesse stützen. Eine Einigung war oft nicht möglich.

Und was mir mit der Zeit immer immer klarer wurde: um Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit Beeinträchtigungen des Sehens oder Hörens von Anfang an und in alle Prozesse mit einzubeziehen, braucht es Hilfsmittel und Übersetzungsdienste, für die ehrenamtliche Projekte keine Ressourcen haben. Aber es braucht auch unheimlich viel Zeit, Wissen, Vernetzung und Geduld. Die Zeit hatte ich nicht mehr. Ich war erschöpft. Und es fühlte sich an wie ganz großes Scheitern.

Handball

Ich habe lange Handball gespielt. Zum einen, weil ich den Sport liebe und mich gern bewege. Zum anderen aber auch, weil ich in den letzten Jahren nur beim Handball erleben konnte, wie eine Gruppe von Menschen gemeinsam das tut was jemand (die Trainerin) sagte, und zwar ohne Diskussion. Das tat mir immer gut. Ich war und bin so müde von den vielen Auseinandersetzungen, sowohl im Arbeitsleben als auch bei meinem politischen Engagement. Beim Handball traf ich auf meine Sehnsucht nach einem gemeinsamen, einfachen Ziel. Ein Mannschaftssport ließ sich aber schon immer schlecht mit Arbeit und Kindern vereinen. Immer hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht beim Training war, niemals Kampfgericht übernehmen konnte oder bei Punktspielen nicht dabei sein konnte.
In 2020 und 2021 war ich schon seltener beim Training aus Angst vor Ansteckung, denn es gab noch keine Corona-Impfung und Anatol gehört zur Risikogruppe. In 2022 kam die Erkrankung von Lili dazu. Ich wollte deshalb jeden Abend Zuhause sein. Und schließlich folgte das Eingeständnis, dass in meinem Leben ein Mannschaftssport einen zu großen Spagat bedeutet. Es fällt mir sehr schwer nicht mehr Handball zu spielen.

Stillstand beruflicher Projekte

Zwei Projekte hatte ich mir in 2022 vorgenommen und waren mir wichtig: zum einen das Weiterführen meines Projektes „barrierefreies Studium“. Aus sehr unterschiedlichen Gründen, u.a. die Unmöglichkeit für dieses Projekt einen klaren Kostenplan aufzustellen, aber auch personelle Diskontinuitäten und zeitweise unklare Zuständigkeiten ging das Projekt immer schleppender voran. Ab 2023 übernimmt nun eine Kollegin das Projekt, mein Baby. Der ursprüngliche Plan war immer gewesen, dass ich das Projekt irgendwann abgebe. Aber ich wollte ein sehr gut laufendes Projekt weitergeben, kein Chaos. Ich bin darüber enttäuscht.
Auch meine Vorhaben, eine akademische Basisqualifikation für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu initiieren, scheiterte in 2022 an der Komplexität der nötigen Prozesse. Aber vor allem an meinem Zeit- und Kraftmangel. A

Freunde/Beziehungen

Meine langjährige Laufpartnerin ist Mitte des Jahres nach Bremen gezogen und ich habe keinen Ersatz gefunden. Die Laufrunden und Gespräche mit ihr fehlen mir sehr. Außerdem fehlt mir Zeit. Zeit, um in Ruhe nachzudenken, Zeit, um mich mit anderen Frauen auszutauschen, Zeit, um gemeinsam etwas zu Denken und zu tun.

Der Anfang ist nah

Ich sehe gerade nicht wie es besser werden kann. Die größten Verlierer der großen Krisen (Klimaapokalypse, populistische Diktaturen, Krieg und ökonomische Krisen) werden die Schwächsten der Schwachen sein: z.B. Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Erkrankungen, arme Menschen oder allein erziehende Mütter. In den letzten Jahren habe ich versucht mich politisch für genau diese Menschen einzusetzen und bin kläglich gescheitert.

Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass sich das Aggressionsverhältnis zur Welt bei Menschen verschärft hat. Egal ob wirtschaftliche oder soziale Kämpfe, man soll mal für einen Moment inne halten und sich berühren lassen. Ich behaupte, ich tue das regelmäßig. Ich habe meine Resonanzräume, Menschen, Orte, Musik, die mich manchmal berühren, mit denen ich ein wenig entspanne, ab und zu zur Ruhe komme und ein kleines bisschen Kraft tanken kann.

Ich hatte mir in den letzten Jahren kleine Ziele gesetzt, wusste, dass man nur kleinschrittig voran kommt, dass Demokratie viel Zeit braucht und anstrengend ist. Und es ging mir niemals um mein kleines persönliches Leben. Es ging mir immer um ein gutes Leben für die Schwächsten in diesem Land. Und dennoch: ich habe in 2022 eine gute Zukunft für sie aus den Augen verloren, habe derzeit keine Ideen und keine Begriffe dafür, wie es besser werden und was ich dafür tun kann.

Damals, als wir in Sibirien lebten, lag 10 Monate im Jahr Schnee. Und die Sonne schien jeden Tag.

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