Wenn ein Angehöriger mit Trisomie 21 psychisch erkrankt

Mein Kollege Jens Wittpennig ist Psychologe und Psychotherapeut für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Im Interview erzählte er mir über seine Erfahrungen in der Therapie mit jungen Menschen mit Trisomie 21.

Seit wann arbeitest Du als Psychotherapeut?

Seit 2010 arbeite ich in der psychotherapeutischen Ambulanz in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf.

Hast Du von Anfang an immer Menschen mit Lernschwierigkeiten therapiert?

Wir haben in Alsterdorf auch Menschen ohne Beeinträchtigungen therapeutisch behandelt. Das war von Beginn an unser Dilemma: Auf der einen Seite möchten wir in Alsterdorf Inklusion leben und vor diesem Hintergrund natürlich eine psychotherapeutische Ambulanz für alle sein. Auf der anderen Seite ist es für Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung enorm schwer, auf dem freien Markt einen Therapeuten zu finden, weshalb wir natürlich gerade diese Patienten versorgen müssen und wollen. Wir haben einen Spezialauftrag für diese Personengruppe. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen, die eine Therapieanfrage bei einem niedergelassenen Therapeuten stellen, bekommen häufig die Antwort: „Gehen Sie lieber nach Alsterdorf, mit behinderten Patienten kenne ich mich nicht aus!“ Menschen mit Beeinträchtigungen sind die am schlechtesten versorgte Patientengruppe der Psychiatrie. Es ist also wichtig, eine Spezialambulanz zu sein.

Leider sind wir hier als Spezialambulanz gedeckelt, d.h. wir dürfen nur eine bestimmte Anzahl an Patienten pro Quartal psychiatrisch, psychotherapeutisch behandeln. Menschen ohne Behinderung würden also die notwendigen Therapieplätze für Menschen mit Behinderung blockieren. Momentan haben wir hier folgende Situation: Menschen ohne Behinderung, die sich bei uns vorstellen, verweisen wir bspw. an das zuständige Sektorkrankenhaus. Bei Menschen mit Behinderung schauen wir zunächst, ob die Person nicht doch woanders psychotherapeutisch behandelt werden kann, da wir eine Wartezeit von ca. einem Jahr haben.

Ich war früher Sozialarbeiter bei Leben mit Behinderung Hamburg. In dieser Funktion hatte ich häufig Menschen ambulant begleitet. Schon damals bin ich häufig zu Psychotherapeuten oder Fachärzten und habe gebeten: Bitte schauen Sie sich den Menschen erst einmal an und reden Sie einmal mit ihm, bevor Sie ein Urteil fällen und ihn gleich ablehnen. In den Köpfen vieler Psychotherapeuten ist immer noch dieses Bild von einem Menschen mit Behinderung, der nicht reflektieren kann, nicht sprechen kann usw., die haben ganz wilde Phantasien über Menschen mit Behinderung. Selbst dann noch, wenn man ihnen sagt, das ist ein Mensch mit einer leichten Lernbeeinträchtigung, der gut reflektieren kann, der gut im Kontakt und schwingungsfähig ist und der auch gut ein eigenes Ziel für die Psychotherapie formulieren kann. Als Sozialarbeiter oder Assistent war es schon damals wie Klinkenputzen gehen. Mittlerweile ist es etwas besser geworden für Menschen mit einer leichten Lernbeeinträchtigung. Aber sobald ein Mensch etwas schwerer beeinträchtigt ist, ist es unglaublich schwierig, einen Psychotherapeuten zu finden. Viele Therapeuten haben den Eindruck, dass sie dafür nicht ausgebildet sind. Und das ist ja auch nicht ganz falsch, denn Menschen mit Behinderung kommen in der Ausbildung von Psychotherapeuten nicht vor.

Unterscheidet sich die Psychotherapie bei Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung?

Ja, auf jeden Fall. Die klassische Richtlinientherapie ist bei Menschen mit einer geistigen Behinderung meist nicht so möglich. Die Diagnostik ist aufwendiger und schwieriger. Therapeutische Prozesse dauern meist viel länger als üblich vorgesehen. Eigentlich finanzieren Krankenkassen ja nur die klassische Richtlinientherapie mit einem bestimmten Anzahl von Therapiestunden. Auch methodisch gibt es Unterschiede. Ich nutze zum Beispiel viele Methoden aus der Kinder- und Jugendpsychotherapie. Ich arbeite auch viel mit Visualisierungen oder Bildern, weil es den Klienten dann leichter fällt, etwas zu beschreiben.

Wenn man zum Beispiel einen Patienten mit einer geistigen Beeinträchtigung mit mangelnder Impulskontrolle hat, dann fällt es diesem sehr oft schwer, theoretisch über solche Situationen zu sprechen. Es ist dann leichter, mit ihm solche Situationen direkt bspw. in Rollenspielen durchzuspielen oder mit ihm zusammen zum Bäcker zu gehen und dann dort gemeinsam zu überlegen, was da mit ihm passiert, wenn er sauer wird, weil er z.b. warten muss, und was er ändern könnte. Bei mir im Büro sind diese Personen natürlich nicht angespannt, sie fühlen sich wohl und es fällt ihnen hier schwer, sich in Situationen hinein zu versetzen, in denen sie Anspannung oder Druck erleben. Das Abstraktionsniveau reicht dafür oft nicht aus. Viel leichter ist es, wenn wir zusammen solche Situationen im konkreten Tun erleben und dann direkt darüber sprechen können.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass ich bei „normaler“ Psychotherapie nicht unbedingt das Umfeld in die Therapie mit einbeziehen würde, also zum Beispiel Partner oder Angehörige oder Mitbewohner. In der Therapie mit Menschen mit Behinderung ist das häufig notwendig. Auch hier fällt es den Patienten oft schwer, Beziehungs- oder Handlungsziele, die wir hier in der Therapie besprechen, dann an anderen Orten mit anderen Menschen bspw. in der Wohngruppe umzusetzen oder anzuwenden. Das ist ja häufig auch für psychisch erkrankte Menschen ohne Behinderung schon sehr schwer.

Bei traumatisierten Menschen mit Behinderung ist wichtig, wenn wir in der Psychotherapie Techniken zur Entspannung und Regulation einüben, dass die Angehörigen oder die Betreuer in den Wohngruppen diese Techniken kennen und dem Menschen ggf. helfen können, sie dann bei Bedarf anzuwenden, sie also anleiten können.

Es kann auch schon mal passieren, dass ich bei Patienten mit in die Werkstatt oder zum Arbeitsplatz gehe und den Leuten dort sowohl die Behinderungsform als auch das psychische Störungsbild erkläre. Ich hatte mal einen Klienten, der mir erzählte, seine Arbeitskollegen beschweren sich permanent darüber, dass er so langsam sei. Da bin ich dort hin gefahren und habe denen erklärt, was Trisomie 21 ist, dass die Langsamkeit häufig syndromspezifisch ist und es absolut keinen Sinn machen würde, ihn anzutreiben oder unter Druck zu setzen. Das würde nur das Gegenteil bewirken. Dann hat man jemanden, der am Ende nur auf dem Boden sitzt, an die Wand starrt und total blockiert. Syndromspezifische Besonderheiten und psychische Erkrankungen bedingen sich natürlich häufig.

Die meisten Psychotherapeuten meinen ja, sie seien dafür nicht ausgebildet. Woher weißt Du wie man das macht?

Das Besondere hier an unserer psychotherapeutischen Ambulanz ist eigentlich, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen, die hier arbeiten oder gearbeitet haben, schon vorher in der Eingliederungshilfe tätig waren (z.B. als Krankenschwester, als Sozialarbeiter in Wohngruppen, als Psychologen beim psychosozialen Dienst, oder als Physiotherapeutin usw.) und sich später als Psychotherapeuten mehr oder weniger autodidaktisch speziell für diese Zielgruppe weitergebildet haben. Die Versorgungslücke war uns allen schon damals in anderen Funktionen in der Eingliederungshilfe aufgefallen. Dagegen wollten wir etwas unternehmen. Aber die Versorgungssituation hat sich ja leider immer noch nicht wesentlich verbessert.

Was meinst Du, warum so viele Psychotherapeuten sich die Therapie mit Menschen mit Behinderung nicht zutrauen?

Im Grunde reden wir über Integration und Inklusion erst seit den 1980er Jahren. Davor lebten Menschen mit Behinderung noch in zum Teil geschlossenen Anstalten wie hier in Alsterdorf. Eigentlich ist es noch gar nicht so lange, dass Menschen mit Behinderung in ambulant betreuten Wohngruppen leben oder auch auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten, also, dass sie im Stadtbild zu sehen sind. Noch heute ist es oft so, dass die meisten Menschen wenig oder gar keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben. Und wenn Du so ein Psychotherapeut bist, der noch niemals in Berührung mit einem Menschen mit Behinderung gekommen ist, dann hast Du das einfach gar nicht auf dem Radar. In der Ausbildung von Psychotherapeuten und Psychiatern ist die Arbeit mit Menschen unter der Bedingung einer Beeinträchtigung kein Ausbildungsbestandteil. Ab und zu halten wir einen Vortrag bei der Psychotherapeutenkammer und hören dann oft, dass die Kollegen zum Beispiel gar nicht wissen, dass die Versorgungslage in dieser Zielgruppe so schlecht und Psychotherapie überhaupt möglich ist.

Gibt es etwas, das man aus der Therapie mit Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung für die „normale“ Therapie lernen kann?

Auf jeden Fall. Ich mache ja auch Führungskräftecoaching und bin als Supervisor tätig. In der Psychotherapie mit Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung lernt man, einfach zu kommunizieren und Dinge auf den Punkt zu bringen. Das hat mir als Coach sehr geholfen. Ganz oft haben mir früher Patienten gesagt, dass ich so komplizierte Fragen stelle. Oder auch, dass mein Satz zu lang war und ich das nochmal kurz sagen soll.

Ist es schon einmal vorgekommen, dass Du nach ein, zwei Sitzungen festgestellt hast, dass eine Psychotherapie nicht das Richtige ist für eine Person?

Ja, das passiert. Nichtbehinderte Patienten kommen ja in der Regel zum Psychotherapeuten und haben ein konkretes Anliegen. Ich habe zum Beispiel eine Patientin, die in ihrer Wohngruppe oft übergriffig angefasst wird. Das will sie nicht. Sie kann dies auch formulieren: „Ich möchte lernen, meine Grenzen deutlich zu machen.“ Unsere Klienten kommen aber meist, weil sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, können aber oft kein eigenes Anliegen formulieren. Wenn Patienten aber ausschließlich die anderen thematisieren und Schuldzuweisungen aussprechen, es jedoch nicht schaffen, sich selbst oder das eigene Handeln zu thematisieren, dann müssen wir überlegen, ob etwas anderes als Psychotherapie hilfreicher wäre, eventuell Beratungsgespräche in der Wohngruppe oder eine Fallberatung.

Das haben wir auch bei Klienten, die ihre Impulse nicht unter Kontrolle haben, zum Beispiel aggressiv werden, aber eine Psychotherapie nicht möglich erscheint. Menschen mit einem FASD, also Menschen, die durch übermäßigen Alkoholkonsum der Mutter im Mutterleib geschädigt wurden, haben z.B. oft eine schwere neurologische Störung, bei der der Frontallappen des Gehirns betroffen ist. Dies führt dann dazu, dass sie ihre Impulse kontrollieren möchten, aber es häufig einfach nicht können. Die betroffenen Personen leiden im Nachgang dann unglaublich, fühlen sich sehr schlecht, wenn sie jemanden geschlagen oder gebissen haben. Aber in dem Moment schaffen sie es nicht, die Aggression zu kontrollieren. Auch dann versuchen wir dem Umfeld Beratungsgespräche anzubieten. In welcher Situation wird der Bewohner aggressiv? Kann das Umfeld versuchen, besser damit umzugehen? In solch einem Fall kann man dem Umfeld klar machen, dass die Person die Impulskontrolle aus neurologischen Gründen nicht schafft und die Regulierung von außen benötigt, oder dass man derartige Stresssituationen, in denen es zu solchen Impulsausbrüchen kommt, möglichst von vornherein vermeidet. Als Psychotherapeuten suchen wir immer nach dem Stressor, der ein bestimmtes abweichendes Verhalten verursacht hat. Und damit einher gehen dann natürlich auch häufig Fragen wie: „Ist die Person dort in der Wohngruppe wirklich gut aufgehoben?“ oder „Ist er/sie in der Arbeitsstelle völlig über- oder unterfordert?“ Bei Menschen mit Behinderung ist ganz häufig das System, in denen sie leben oder arbeiten, das eigentliche Problem oder zumindest stark daran beteiligt. Personenzentriertes Arbeiten ist immer noch die Ausnahme.

Werden die Menschen dann von den Wohngruppen oder Werkstätten zu Dir geschickt, damit Du sie therapierst, obwohl sie selbst das Problem sind?

Ja, häufig. Ich hatte kürzlich einen Patienten, da hat die Werkstatt gesagt, dass er erst wieder dort arbeiten darf, wenn er eine Psychotherapie gemacht hat. Es ging hier konkret darum, dass er sexuell übergriffig gegenüber einer Werkstattkollegin wurde. Die Situation war die, dass er in diese Kollegin verliebt war und sie wohl auch in ihn. Allerdings hatte sie eine Missbrauchserfahrung, von der er nichts wusste. Er war aber auch äußerst unwissend und ungeschickt, was behutsame Annäherung angeht. Es ging dem Patienten definitiv nicht darum, die Kollegin sexuell zu nötigen. Nach unseren Gesprächen habe ich gemerkt, dass er eher einen Flirtcoach braucht und jemanden, der ihn sexuell aufklärt und wie man sich dem anderen Geschlecht langsam nähert und wie man sich verhält, wenn man verliebt ist. Das Interessante an der Geschichte ist, dass die Gruppenleitung in der Werkstatt das alles schon super mit den beiden gemanagt hatte und es kein wirkliches Problem mehr gab. Er hat verstanden, dass er zu weit gegangen ist und sie konnte sich trauen, nein zu sagen. Man hätte es dabei belassen können. Aber dann wurde der Mann pathologisiert und als Sexualstraftäter dargestellt. Er saß dann bei mir in der Therapie und war fix und fertig, weil er gar nicht wusste worum es geht. Er dürfe erst wieder in die Werkstatt arbeiten kommen, wenn er seinen Sexualtrieb in den Griff bekäme.

Ein anderer Klient wurde von der Werkstatt zu mir zur Therapie geschickt, weil er angeblich faul, antriebslos und depressiv sei. Er komme nicht mehr zur Arbeit. Dann saß er hier bei mir im Büro und erzählte mir, dass er den ganzen Tag Schrauben verpacken muss und wenn es nichts zu tun gibt, dann werden Mandalas ausgemalt. „Dies ist doch keine Arbeit Herr Wittpennig!“ Als ich ihn fragte, warum er da noch hin geht, antwortete er, dass er ja eben nicht mehr hin ginge und deshalb hier sitze. Er wünsche sich auf dem ersten Arbeitsmarkt mit Autos zu arbeiten. In der Werkstatt wurde ihm gesagt, dass er erst auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten könne, wenn er in der Werkstatt zeige, dass er jeden Tag pünktlich sei und fleißig mitarbeite.

Lass uns mal noch konkret über psychische Erkrankungen bei Menschen mit Trisomie 21 sprechen. Welche psychischen Erkrankungen treten bei ihnen am häufigsten auf?

Viel häufiger als bei anderen haben wir es bei Menschen mit Trisomie 21 mit Selbstwert-Themen zu tun. In Gruppen mit Gleichaltrigen merken sie häufig, dass sie langsamer verstehen und handeln oder insgesamt langsamer sind. Ihnen fehlen häufig die Erfolgserlebnisse. Oft kommt es dann zu Misserfolgsvermeidungsstrategien, also dazu, dass sich Menschen mit Trisomie 21 gar nicht mehr trauen, etwas Neues zu machen, weil sie Angst haben zu scheitern. Das würde uns ja auch so gehen. Wenn wir 15 Mal etwas versuchen und es misslingt, dann machen wir es meist kein 16. Mal. Viele junge Erwachsene mit Trisomie 21 merken dann, dass sie anders als andere sind. Manche meinen, sie wären nur noch dumm und behindert. Da gibt es dann meist drei Abwehrmöglichkeiten: Die einen werden aggressiv, wenn neue Anforderungen an sie gestellt werden. Andere flüchten, z.B. in Süchte wie Esssucht, Spielsucht oder Alkoholsucht. Und dritte stellen sich tot, d.h. sie setzen sich dann einfach hin und verweigern alles, sprechen manchmal nicht mal mehr. Selbstwert-Themen gehen meist einher mit Depressionen. Menschen mit mittelgradiger geistiger Behinderung flüchten dann auch oft in ihre Phantasie. Ich hatte zum Beispiel einen Klienten mit Trisomie 21, bei dem wurde vermutet, dass er wahnhaft sei, weil er immer in Anspannungssituationen mit einer ganz tiefen Stimme sagte, dass er der schwarze Magier sei und dann sprach er auch als dieser zu seinen Mitmenschen. Und dann habe ich bei ihm einen Hausbesuch gemacht und festgestellt, dass er totaler Manga-Fan ist. Da habe ich schnell verstanden, dass er nicht wahnhaft ist, sondern Rollenspiele spielt. In den Comics ist der schwarze Magier sehr mächtig und er wollte eben auch groß, stark und mächtig sein.

Bei einer anderen Patientin mit Trisomie 21 war das ähnlich. Sie machte sich immer gelbe Kontaktlinsen rein, schminkte ihr Gesicht weiß und trug Star-Trek-Uniformen bei der Arbeit. Auch bei ihr vermutete man zunächst, dass sie wahnhaft sei. Dann stellte sich heraus, dass sie Raumschiff Enterprise mag und sich als Data ausgab. Bei Raumschiff Enterprise ist Data der Roboter Humanoide, der menschlich sein möchte. Mit dieser Rolle fühlte sie sich verbunden, weil Data auch anders als die anderen war. Und jetzt geht die junge Frau mit Trisomie 21 sogar auf Star-Trek-Conventions und hat schon Preise gewonnen für ihre gute Data-Performance. Und bei diesen Conventions fühlt sie sich total zugehörig, das stärkt sie. Vor allem aber, weil dort niemand nach ihrer Behinderung fragt. Hier ist sie wie allen anderen auch.

Bei einigen Menschen mit Trisomie 21 kommen zur Selbstwert-Thematik auch Traumata hinzu. Ausgelöst bspw. durch körperliche Einschränkungen, durch erlebte Operationen oder längere Krankenhausaufenthalte. Manchmal gleich nach der Geburt, so dass der Bindungsaufbau mit den Eltern erschwert war.

Bei manchen Erwachsenen mit Trisomie 21 ist auch nicht ganz klar, ob es sich bei der Persönlichkeitsveränderung um eine psychische Erkrankung handelt, oder ob es sich eventuell auch um eine frühe Form der Demenz handeln könnte. Daran muss man bei diesen Patienten leider auch immer denken.

Meinst Du, dass Menschen mit Trisomie 21 psychisch gesünder bleiben in Sonderschulen und Werkstätten, weil sie dort ja weniger abgehängt werden bzw. mehr Erfolgserlebnisse in der Gruppe haben können?

Nein, das würde ich so nicht sagen. Man kann Menschen mit Trisomie 21 nicht als eine homogene Gruppe über einen Kamm scheren. Wenn man einen Menschen mit Trisomie 21 kennt, dann kennt man einen Menschen mit Trisomie 21. Kennst Du einen Borderliner, dann kennst Du einen Borderliner. Ich habe Patienten, die hätten vielleicht in einer Förderklasse besser gelernt als in einer Inklusionsklasse. Aber auch nur, weil sie in der Inklusion häufiger mit dem Schulbegleiter allein 2 + 2 rechnen mussten, während der Rest der Klasse binomische Formeln durchgegangen ist. Natürlich fühlte er sich nicht gut, immer nur mit dem Schulbegleiter zu sitzen. An dieser Stelle war Inklusion dann einfach schlecht gemacht. Umgekehrt hatte ich aber auch einen Patienten, den die Eltern auf eine Förderklasse geschickt hatten aus Angst vor Überforderung. Dieser meint aber im Nachhinein zu mir, er hätte mehr gekonnt. Das Dilemma aller Eltern ist ja genau das. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sind häufig unterfordert und häufig überfordert. Die passende Schule und die passende Arbeitsstelle zu finden, ist nicht leicht.

Gibt es bestimmte Lebensphasen, in denen Menschen mit Trisomie 21 besonders gefährdet sind, psychische Erkrankungen zu erleiden?

Ja, insbesondere in Übergangssituationen: also der Übergang von der Kita in die Schule, von der Schule in die Arbeitswelt. Aber auch die Pubertät ist eine extrem schwierige Phase der Identitätsentwicklung, wenn einem z.b. die eigene Geschlechtsidentität bewusst wird. Im Kitabereich sind die meisten Kinder mit Trisomie 21 ja inklusiv mittendrin. In der Schule sind es dann schon viel weniger, die inklusiv beschult werden. Und auf dem ersten Arbeitsmarkt ist kaum noch ein Mensch mit Trisomie 21 zu finden. Das heißt, dass sie im Laufe ihres Lebens immer mehr raus gedrängt werden, immer mehr erleben, dass sie nicht dazu gehören und anders sind. Ich erinnere mich an eine Patientin mit Trisomie 21, die super tolle Eltern hatte. Sie war immer inklusiv unterwegs, hatte zwar erst nur den Förderschulabschluss, hat dann aber durch ihre Ausbildung doch noch einen Hauptschulabschluss geschafft und nun arbeitet sie auf dem ersten Arbeitsmarkt. Es lief alles gut, sie hat richtig viel geschafft. Und dann saß aber gerade diese junge Frau bei mir und weinte. Ihre kleine Schwester hatte gerade das Abitur geschafft und war mit Ihrem Freund zusammengezogen. Sie berichtete, wie stolz ihre Eltern auf ihre kleine Schwester waren, weil diese das Abitur so gut geschafft hatte. Die junge Frau konnte ihr Traurigkeitsgefühl sehr gut thematisieren und reflektieren. Sie wusste, dass sie das Abitur nicht schafft, dass sie niemals so leistungsfähig sein würde wie ihre Schwester, und dies belastete sie im Vergleich sehr.

Aber die Leistungsfähigkeit der jungen Dame mit Trisomie 21 ist ja nun wahrscheinlich wirklich viel geringer als die der meisten anderen Menschen. Es ist also nicht einfach nur ein Gefühl, sondern die harte Realität. Wie kann denn in einer solchen Situation Psychotherapie helfen?

Hier unterscheiden sich Menschen mit Trisomie 21 oder ohne nicht voneinander. Wir müssen alle in unserer Identitätsentwicklung lernen, dass wir gewisse Möglichkeiten und gewisse Grenzen haben. Für manche ist es nicht so einfach zu akzeptieren, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten begrenzt sind und z.B. nicht für eine Uniprofessur ausreichen. Andere können in der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität schwer aushalten, dass sie bspw. als Mann nicht der George-Clooney-Typ sind, dem die Frauen zu Füßen liegen. Wiederum andere müssen akzeptieren, dass sie sich nicht immer den gleichen dysfunktionalen Partner suchen sollten. Jeder Mensch muss lernen, an wem er sich orientiert, wer er oder sie ist oder sein will und wie und wo er sich in dieser Gesellschaft verortet. Das hat primär nichts mit Behinderung zu tun.

Lass uns noch zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in Hamburg kommen. Wenn man ein Kind mit Trisomie 21 hat, das psychisch auffällig wird: Was kann man tun?

Im Kinder- und Jugendbereich würde ich mich an das Flehmig Institut oder an das Werner-Otto-Institut wenden. Bei Kindern wird häufig das Umfeld angeschaut. Liegt der Stressor wirklich im Kind oder vielleicht im familiären oder erweiterten sozialen Umfeld? Bei pubertierenden Jugendlichen sollte man nicht jeden Impulsausbruch oder Alkoholmissbrauch pathologisieren, sondern akzeptieren, dass genau solche Verhaltensweisen zur Pubertät dazu gehören.

Und junge Erwachsene mit Trisomie 21?

Theoretisch kann man sich an jeden niedergelassenen Therapeuten wenden. Aber wie zuvor gesagt, häufig landen erwachsene Menschen mit Trisomie 21 dann doch bei uns in Alsterdorf in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Ambulanz. Und wenn jemand stärker eingeschränkt ist und eigentlich noch nicht wirklich klar ist, ob es sich um eine körperliche oder eine psychische Erkrankung handelt, dann würde ich hier in Hamburg das Sengelmann-Institut für die medizinische Versorgung von erwachsenen Menschen mit Behinderung im EKA empfehlen. Ich hatte jetzt auch einige Klienten, denen psychisch-funktionelle Ergotherapie gut helfen konnte. Das ist eine Zusatzqualifikation von einigen Ergotherapeuten, bei der es um das Erwerben bspw. sozialer Skills oder Selbstberuhigungstechniken geht. Das ist eine sehr gute Alternative oder Vorbereitung auf eine klassische Psychotherapie.

Und an wen wendet man sich in Akutsituationen?

Bei Akutsituationen unterscheidet sich die Versorgung von Menschen mit Trisomie 21 nicht von anderen. Bei selbst- oder fremdgefährdenden Verhaltensweisen ist das wohnortnahe Sektorkrankenhaus zuständig. Also für Hamburg Eimsbüttel wäre das zum Beispiel das UKE, in Hamburg Nord wäre das das Krankenhaus in Ochsenzoll usw. Das bedeutet, dass der Angehörige mit Trisomie 21 dann in der Akutpsychiatrie landet wie alle anderen Menschen auch in psychischen Akutsituationen. Häufig treffen sie dann auf dort arbeitende Ärzte und Therapeuten, die vielleicht nicht unbedingt um die Besonderheiten bei Patienten mit Trisomie 21 wissen und mit ihnen vielleicht nicht angemessen kommunizieren und umgehen können. Man muss auch sagen, dass die Akutpsychiatrie meist nur eine Akutversorgung darstellt, soviel Psychotherapie findet dort nicht statt. Der Vorteil der Akutpsychiatrie ist, dass der Patient erst einmal aus einer gefährdenden Situation herauskommen kann, und dass man ihn manchmal erst einmal durch Medikamentengabe so beruhigen kann, dass er bspw. wahnfrei und überhaupt psychotherapiefähig wird. Aus der Psychiatrie werden dann die Patienten meist mit einer Psychotherapie-Empfehlung entlassen. Und dann haben wir leider hier in der Ambulanz in Alsterdorf zum Teil Wartezeiten von anderthalb Jahren. Das ist für die Betroffenen eine Katastrophe.

Letzte Frage: Wo siehst Du allgemein die Versorgungslücken in der psychischen Behandlung von Menschen mit Trisomie 21?

Das ist eine sehr große Frage zum Schluss. Das BTHG fordert ja, dass alle Menschen an allen Bildungs-, Wohn-, Freizeit- und Arbeitsangeboten teilhaben können sollen. Das gilt auch für die medizinische oder psychiatrische Versorgung. Das setzt natürlich voraus, dass Fachpersonal wie zum Beispiel Lehrer an Schulen darüber Bescheid wissen, wie man Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam beschult. Dass diese Menschen nicht einfach nur dabei sind, sondern wirklich an einem gemeinsamen Lerngegenstand arbeiten. Lehrer sollten syndromspezifische Besonderheiten kennen, damit sie zum Beispiel auf typische Misserfolgsvermeidungsstrategien angemessen reagieren können. Das gleiche gilt für die Therapeutenausbildung. Das Wissen über Behinderungsformen ist bei vielen Berufsgruppen, auch in der Behindertenhilfe, oft gering. Wenn mir zum Beispiel in der Supervision oder in einer Fallbesprechung Kollegen einer Wohngruppe einen Bewohner lediglich als geistig behindert beschreiben, dann bin ich oft entsetzt. Sie können nicht den Entwicklungsstand präzisieren, das geistigen oder das soziale Entwicklungsniveau richtig einschätzen. Eine Abstufung, ob der Bewohner leicht, mittel, schwer oder schwerst beeinträchtigt ist, gelingt oft nicht. Auch die Sprachfähigkeit können einige nicht gut einschätzen. Aus diesem Nichtwissen entstehen permanent Unterforderungs-, Überforderungs- und damit Konfliktsituationen. Die Sensibilisierung der Profis halte ich für enorm wichtig. Auch die der Ärzte.

Die Tatsache, dass es in Deutschland eine Trennung zwischen allgemeiner Pädagogik und Heil- und Sonderpädagogik gibt, halte ich für falsch. Viele Erzieher arbeiten im Wohnstättenbereich und haben keine Ahnung von Menschen mit mittlerer oder schwerer geistiger Behinderung, weil das in ihrer Ausbildung nicht vorkam.

Um also auf Deine Frage zurück zu kommen: Das größte Versorgungsproblem in Bezug auf die psychische Gesundheit von Menschen mit Trisomie 21 oder auch anderen Lernbeeinträchtigungen ist meines Erachtens, dass Professionelle, die eigentlich für alle Menschen ausgebildet und zuständig sein sollten, dies noch immer nicht sind. Wenn das so wäre, dann bräuchte es keine psychiatrisch-psychotherapeutische Spezialambulanz für Menschen mit geistiger Behinderung.

Das Interview führte ich am 25.10.2023. Es ist in der KIDS aktuell Nr. 49 erschienen.

Dem Sondersystem ausgeliefert

Unser Sohn (11) mit Trisomie 21 geht in die fünfte Klasse einer speziellen Sonderschule. Es fällt mir etwas schwer, über das Thema Schule zu schreiben, weil alles ganz anders kam als wir es uns einst gewünscht hatten. Wir Eltern waren zu seinen Kitazeiten noch davon überzeugt, dass wir jede Art von Parallelwelt für ihn vermeiden können. Wir wollten, dass er sein ganzes Leben lang mitten in der Gesellschaft aufwächst, lebt und lernt.

2015, drei Jahre vor seinem Schuleintritt, bekam die schulische Inklusion in Hamburg mit Gründung des Hamburger Bündnisses für schulische Inklusion Aufwind und machte mir Hoffnung. In den folgenden Jahren wurden ein vielversprechendes Memorandum und mehrere Positionspapiere zur Verbesserung der schulischen Inklusion in Hamburg veröffentlicht, die von über 25 bildungspolitisch aktiven Verbänden und Vereinen unterstützt wurden. Über mehrere Jahre fanden große Fachtagungen am Landesinstitut für Lehrerbildung von und für Hamburger Lehrkräfte statt, die einen Austausch über gelungenen gemeinsamen Unterricht zum Ziel hatten. Mit den Forderungen der Volksinitiative Gute Inklusion konnten sogar mehr Ressourcen für Inklusion an Schulen durchgesetzt werden. Zwar nur in kleinen Schritten, aber dennoch entwickelte sich etwas.

Als unserem Sohn 2017, er war gerade fünf geworden, offiziell der „sonderpädagogische Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ bescheinigt wurde, war das für mich ähnlich befremdlich wie ein paar Jahre zuvor die Entgegennahme des Schwerbehindertenausweises. Ich nahm beide Dokumente wahr wie eine klare Zuweisung in die Sonderwelt, aus die er nie wieder raus kommen wird. Wir hatten es nun schwarz auf weiß in Form behördlicher Dokumente. Beide Male weinte ich sehr, wohl wissend, dass nur mit dieser Art der Etikettierung überhaupt bestimmte Rechte, Ressourcen und Förderungen für unseren Sohn verbunden sind.

Eine schwere Entscheidung

Nachdem wir uns 2018 die Entscheidung für die passende Schule sehr schwer gemacht hatten, ja sogar mit einer Rückstellung diese schwere Entscheidung ein weiteres Jahr hinaus zögern wollten, sind wir letztendlich einen pragmatischen Weg gegangen: Wir entschieden uns für eine Schule, die sowohl nahe unseres Wohnortes als auch nahe meines Arbeitsplatzes liegt, unabhängig von der Schulform.

Im Sommer 2019 kam unser Sohn dann in diese Schule. In seinem ersten Schuljahr begann die Coronapandemie, im zweiten Halbjahr war gleich der Lockdown mit der Schulschließung. Das gemeinsame Lernen im Klassenraum fand über einen längeren Zeitraum nicht mehr statt. Zusätzlich waren wir, wie viele Familien mit Angehörigen mit Down Syndrom, lange unsicher, welche Auswirkungen eine Infektion mit dem Virus speziell auf unsere Liebsten haben würde. Wir trauten uns z.B. mit unserem Sohn erstmals wieder an Sportkursen oder öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, nachdem die Kinderimpfung offiziell zugelassen wurde. Darin sahen wir einen wichtigen Schutz für ihn, um die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen einer Coronainfektion zu mildern. Irgendwann ging dann der regelmäßige Unterricht wieder los.

Seit über vier Jahren geht unser Sohn nun in die Schule. Er fühlt sich in der Klasse wohl, bezeichnet alle seine Mitschüler:innen als Freunde. Mit einigen von ihnen verbringt er auch seine Freizeit. Gemeinsames Lernen mit Kindern ohne Beeinträchtigungen findet in dieser Schule für unseren Sohn und seinen Mitschüler:innen nicht statt, obwohl sich sogar auf dem gleichen Schulgelände eine Grund- und eine Stadtteilschule befinden.

In den ersten beiden Schuljahren unseres Sohnes hatte ich noch versucht, in vielen Gesprächen auf dem Schulgelände eine Elternmehrheit für die Öffnung aller Schulteile zum gemeinsamen Lernen zu gewinnen. Leider stand die Mehrheit der Eltern sowohl in der Grund- und Stadtteilschule als auch im Sonderschulbereich zu dieser Zeit dem gemeinsamen Lernen skeptisch gegenüber. Die Abwehrhaltung der Lehrerschaft und der Schulleitung kamen hinzu. Schließlich kam ihnen dann die Coronapandemie insofern gelegen, dass sie sich über mehrere Monate/Jahre durch die behördlich vorgegebenen Abstands- und Hygieneregeln und die vorgegebene Kohortenbildung nicht mehr mit der Mischung von Lerngruppen beschäftigen mussten.

Jahrelange politische Versäumnisse werden zum privatem Versagen

Vielleicht sollte ich jetzt nochmal mit Eltern, mit Lehrer:innen und Schulleitungen ins Gespräch gehen? Wenn ich nicht weiter für inklusive Bildung und Förderung unseres Sohnes kämpfe, habe ich dann als Mutter versagt? Denn immer wieder erzählen mir irgendwelche Bekannte und Verwandte, dass sie im Fernsehen oder in der Zeitung eine junge Frau oder einen jungen Mann mit Trisomie 21 gesehen hätten, die oder der irgendetwas super Tolles geleistet hätte, einen Schulabschluss erreicht, einen sportlichen Erfolg gehabt, eine anerkannte Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden hätte oder sogar als Fotomodell tätig wäre. Die Berliner Sozialhelden hatten schon vor vielen Jahren die Medien dafür verurteilt, ausschließlich solche behinderten Superheld:innen darzustellen. Die Leistung dieser Menschen wird dann häufig als Leistung der Eltern oder begleitenden Pädagog:innen oder Trainer:innen gefeiert und nicht als besondere Fähigkeit oder Talent des jeweiligen Menschen mit Down Syndrom. Wenn ein junger Erwachsener mit Trisomie 21 nach der Schulzeit keine Werkstattempfehlung bekommt, sondern in die Tagesförderung soll, dann wird es aber plötzlich doch von allen Seiten dem mangelndem persönlichen Arbeits- und Leistungsvermögen der Person zugeordnet.

Vor Schuleintritt war ich unglaublich optimistisch, was das Aufwachsen und Lernen unseres Sohnes mitten in der Gesellschaft angeht. Diesen Optimismus habe ich in den letzten drei Jahren gänzlich verloren. Für Menschen mit Trisomie 21 wurden und werden in Deutschland seit Jahrzehnten exklusive Strukturen geschaffen: Sie werden in gesonderten Fahrzeugen zu gesonderten Einrichtungen gefahren, von gesonderten Personen unterrichtet, betreut und unterstützt, um anschließend an eigens für sie gestaltete Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Den Sonderstrukturen zu entkommen ist fast unmöglich. Nach vier Jahren fällt das Fazit von uns Eltern zum Thema Schule nun ziemlich nüchtern aus. Wir sind froh, dass unser Sohn gern zur Schule geht. Aber die Aussicht auf Teilhabe außerhalb dieses Sondersystems schwindet von Schuljahr zu Schuljahr immer mehr.

Wo Inklusion dran steht, ist selten Inklusion drin

Meinen persönlichen Pessimismus belegen aktuelle Zahlen: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Behinderung, die in Hamburger Regelschulen unterrichtet werden, ist in den vergangenen Jahren gesunken. Besuchten im Schuljahr 2016/2017 noch 1177 Jungen und Mädchen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören und Sehen eine Regelschule in Hamburg, so waren es im Schuljahr 2022/23 lediglich 1024. Seit vielen Jahren beschönigt die Hamburger Schulbehörde ihre Inklusionsstatistik durch die steigende Anzahl von Schüler:innen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung in den Regelschulen. Die Schule unseres Sohnes nennt sich z.B. „Inklusionsschule“ und wird in den Medien als Leuchtturm für inklusive Bildung dargestellt. Tatsächlich werden Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aber gesondert unterrichtet.

Parallel dazu beobachten wir Eltern in letzter Zeit auch bei fast allen außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten, an denen explizit „Inklusion“ dran steht, dass ausschließlich junge Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderungen daran teilnehmen. Hinter dem Schlagwort Inklusion verstecken sich oft die alten Sonderstrukturen und traditionelle Denkmuster.

Solange Inklusion auf Freiwilligkeit beruht, ist unser Sohn auf die Gutmütigkeit anderer angewiesen

Auf die Frage, wie sie die Special Olympics wahrgenommen habe, antworte kürzlich die Behindertenaktivistin Laura Gehlhaar in einem Interview für das Magazin EDITION F: „Die Special Olympics haben mich tatsächlich zurück geworfen. Bei sehr vielen Events wurde Inklusion als Herzensangelegenheit bezeichnet, es fielen Aussagen wie Wir müssen die Barrieren in den Köpfen lösen. Da denke ich jedes Mal: Nein. Das ist eben falsch. Über Inklusion müssen wir sehr sachlich und konstruktiv sprechen. Inklusion ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung und keine Frage persönlichen Empfindens, sondern ein Menschenrecht. […] Solange Inklusion aus Freiwilligkeit heraus geschieht, sind Menschen mit Behinderung auf die Gutmütigkeit anderer angewiesen.“

2015 schrieben Udo Sierck und Nati Radtke in ihrem großartigen Buch „Dilemma Dankbarkeit“: „Behinderte Menschen gelten schon immer als Dankbarkeitsapostel, die der Aufwertung jener dienen, die sich mit ihnen abgeben.[…] Dankbarkeit kann ein Verhältnis von oben nach unten, von Abhängigkeit und Machtkonstellation widerspiegeln. […] Diese Abhängigkeit verhindert oft ‚Nein!‘ zu sagen und eigene Ansprüche zu formulieren.“

Die derzeit auf viel Zustimmung stoßende, rechtspopulistische und neoliberale Botschaft an Menschen mit Behinderung in Deutschland, lautet wieder: Sei zufrieden mit dem, was Du hast!

Ausgeliefert

Die beschriebenen gesellschaftspolitischen Entwicklungen haben mich in den letzten Jahren sehr ermüdet und erschöpft, phasenweise bringen sie mich an den Rand der Verzweiflung. Um meine persönliche Gesundheit und die unserer Kinder zu schützen, habe ich mich dann zurück gezogen. Noch immer fällt es mir schwer, die Kraft und die Zuversicht für gesellschaftspolitische Kämpfe aufzubringen.

Diese Zurückhaltung geht leider auch einher mit permanenten Gewissensbissen, unseren Sohn einem Sondersystem, das leider in Deutschland für ihn vorgesehen ist, ausgeliefert zu haben.

Dieser Text von mir ist zuerst in der KIDS Aktuell Nr. 48 erschienen, später auch in der Leben mit Down Syndrom Nr. 106.

Anatols Einschulung im August 2019