Dem Sondersystem ausgeliefert

Unser Sohn (11) mit Trisomie 21 geht in die fünfte Klasse einer speziellen Sonderschule. Es fällt mir etwas schwer, über das Thema Schule zu schreiben, weil alles ganz anders kam als wir es uns einst gewünscht hatten. Wir Eltern waren zu seinen Kitazeiten noch davon überzeugt, dass wir jede Art von Parallelwelt für ihn vermeiden können. Wir wollten, dass er sein ganzes Leben lang mitten in der Gesellschaft aufwächst, lebt und lernt.

2015, drei Jahre vor seinem Schuleintritt, bekam die schulische Inklusion in Hamburg mit Gründung des Hamburger Bündnisses für schulische Inklusion Aufwind und machte mir Hoffnung. In den folgenden Jahren wurden ein vielversprechendes Memorandum und mehrere Positionspapiere zur Verbesserung der schulischen Inklusion in Hamburg veröffentlicht, die von über 25 bildungspolitisch aktiven Verbänden und Vereinen unterstützt wurden. Über mehrere Jahre fanden große Fachtagungen am Landesinstitut für Lehrerbildung von und für Hamburger Lehrkräfte statt, die einen Austausch über gelungenen gemeinsamen Unterricht zum Ziel hatten. Mit den Forderungen der Volksinitiative Gute Inklusion konnten sogar mehr Ressourcen für Inklusion an Schulen durchgesetzt werden. Zwar nur in kleinen Schritten, aber dennoch entwickelte sich etwas.

Als unserem Sohn 2017, er war gerade fünf geworden, offiziell der „sonderpädagogische Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ bescheinigt wurde, war das für mich ähnlich befremdlich wie ein paar Jahre zuvor die Entgegennahme des Schwerbehindertenausweises. Ich nahm beide Dokumente wahr wie eine klare Zuweisung in die Sonderwelt, aus die er nie wieder raus kommen wird. Wir hatten es nun schwarz auf weiß in Form behördlicher Dokumente. Beide Male weinte ich sehr, wohl wissend, dass nur mit dieser Art der Etikettierung überhaupt bestimmte Rechte, Ressourcen und Förderungen für unseren Sohn verbunden sind.

Eine schwere Entscheidung

Nachdem wir uns 2018 die Entscheidung für die passende Schule sehr schwer gemacht hatten, ja sogar mit einer Rückstellung diese schwere Entscheidung ein weiteres Jahr hinaus zögern wollten, sind wir letztendlich einen pragmatischen Weg gegangen: Wir entschieden uns für eine Schule, die sowohl nahe unseres Wohnortes als auch nahe meines Arbeitsplatzes liegt, unabhängig von der Schulform.

Im Sommer 2019 kam unser Sohn dann in diese Schule. In seinem ersten Schuljahr begann die Coronapandemie, im zweiten Halbjahr war gleich der Lockdown mit der Schulschließung. Das gemeinsame Lernen im Klassenraum fand über einen längeren Zeitraum nicht mehr statt. Zusätzlich waren wir, wie viele Familien mit Angehörigen mit Down Syndrom, lange unsicher, welche Auswirkungen eine Infektion mit dem Virus speziell auf unsere Liebsten haben würde. Wir trauten uns z.B. mit unserem Sohn erstmals wieder an Sportkursen oder öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, nachdem die Kinderimpfung offiziell zugelassen wurde. Darin sahen wir einen wichtigen Schutz für ihn, um die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen einer Coronainfektion zu mildern. Irgendwann ging dann der regelmäßige Unterricht wieder los.

Seit über vier Jahren geht unser Sohn nun in die Schule. Er fühlt sich in der Klasse wohl, bezeichnet alle seine Mitschüler:innen als Freunde. Mit einigen von ihnen verbringt er auch seine Freizeit. Gemeinsames Lernen mit Kindern ohne Beeinträchtigungen findet in dieser Schule für unseren Sohn und seinen Mitschüler:innen nicht statt, obwohl sich sogar auf dem gleichen Schulgelände eine Grund- und eine Stadtteilschule befinden.

In den ersten beiden Schuljahren unseres Sohnes hatte ich noch versucht, in vielen Gesprächen auf dem Schulgelände eine Elternmehrheit für die Öffnung aller Schulteile zum gemeinsamen Lernen zu gewinnen. Leider stand die Mehrheit der Eltern sowohl in der Grund- und Stadtteilschule als auch im Sonderschulbereich zu dieser Zeit dem gemeinsamen Lernen skeptisch gegenüber. Die Abwehrhaltung der Lehrerschaft und der Schulleitung kamen hinzu. Schließlich kam ihnen dann die Coronapandemie insofern gelegen, dass sie sich über mehrere Monate/Jahre durch die behördlich vorgegebenen Abstands- und Hygieneregeln und die vorgegebene Kohortenbildung nicht mehr mit der Mischung von Lerngruppen beschäftigen mussten.

Jahrelange politische Versäumnisse werden zum privatem Versagen

Vielleicht sollte ich jetzt nochmal mit Eltern, mit Lehrer:innen und Schulleitungen ins Gespräch gehen? Wenn ich nicht weiter für inklusive Bildung und Förderung unseres Sohnes kämpfe, habe ich dann als Mutter versagt? Denn immer wieder erzählen mir irgendwelche Bekannte und Verwandte, dass sie im Fernsehen oder in der Zeitung eine junge Frau oder einen jungen Mann mit Trisomie 21 gesehen hätten, die oder der irgendetwas super Tolles geleistet hätte, einen Schulabschluss erreicht, einen sportlichen Erfolg gehabt, eine anerkannte Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden hätte oder sogar als Fotomodell tätig wäre. Die Berliner Sozialhelden hatten schon vor vielen Jahren die Medien dafür verurteilt, ausschließlich solche behinderten Superheld:innen darzustellen. Die Leistung dieser Menschen wird dann häufig als Leistung der Eltern oder begleitenden Pädagog:innen oder Trainer:innen gefeiert und nicht als besondere Fähigkeit oder Talent des jeweiligen Menschen mit Down Syndrom. Wenn ein junger Erwachsener mit Trisomie 21 nach der Schulzeit keine Werkstattempfehlung bekommt, sondern in die Tagesförderung soll, dann wird es aber plötzlich doch von allen Seiten dem mangelndem persönlichen Arbeits- und Leistungsvermögen der Person zugeordnet.

Vor Schuleintritt war ich unglaublich optimistisch, was das Aufwachsen und Lernen unseres Sohnes mitten in der Gesellschaft angeht. Diesen Optimismus habe ich in den letzten drei Jahren gänzlich verloren. Für Menschen mit Trisomie 21 wurden und werden in Deutschland seit Jahrzehnten exklusive Strukturen geschaffen: Sie werden in gesonderten Fahrzeugen zu gesonderten Einrichtungen gefahren, von gesonderten Personen unterrichtet, betreut und unterstützt, um anschließend an eigens für sie gestaltete Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Den Sonderstrukturen zu entkommen ist fast unmöglich. Nach vier Jahren fällt das Fazit von uns Eltern zum Thema Schule nun ziemlich nüchtern aus. Wir sind froh, dass unser Sohn gern zur Schule geht. Aber die Aussicht auf Teilhabe außerhalb dieses Sondersystems schwindet von Schuljahr zu Schuljahr immer mehr.

Wo Inklusion dran steht, ist selten Inklusion drin

Meinen persönlichen Pessimismus belegen aktuelle Zahlen: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Behinderung, die in Hamburger Regelschulen unterrichtet werden, ist in den vergangenen Jahren gesunken. Besuchten im Schuljahr 2016/2017 noch 1177 Jungen und Mädchen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung, Hören und Sehen eine Regelschule in Hamburg, so waren es im Schuljahr 2022/23 lediglich 1024. Seit vielen Jahren beschönigt die Hamburger Schulbehörde ihre Inklusionsstatistik durch die steigende Anzahl von Schüler:innen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung in den Regelschulen. Die Schule unseres Sohnes nennt sich z.B. „Inklusionsschule“ und wird in den Medien als Leuchtturm für inklusive Bildung dargestellt. Tatsächlich werden Schüler:innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aber gesondert unterrichtet.

Parallel dazu beobachten wir Eltern in letzter Zeit auch bei fast allen außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten, an denen explizit „Inklusion“ dran steht, dass ausschließlich junge Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderungen daran teilnehmen. Hinter dem Schlagwort Inklusion verstecken sich oft die alten Sonderstrukturen und traditionelle Denkmuster.

Solange Inklusion auf Freiwilligkeit beruht, ist unser Sohn auf die Gutmütigkeit anderer angewiesen

Auf die Frage, wie sie die Special Olympics wahrgenommen habe, antworte kürzlich die Behindertenaktivistin Laura Gehlhaar in einem Interview für das Magazin EDITION F: „Die Special Olympics haben mich tatsächlich zurück geworfen. Bei sehr vielen Events wurde Inklusion als Herzensangelegenheit bezeichnet, es fielen Aussagen wie Wir müssen die Barrieren in den Köpfen lösen. Da denke ich jedes Mal: Nein. Das ist eben falsch. Über Inklusion müssen wir sehr sachlich und konstruktiv sprechen. Inklusion ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung und keine Frage persönlichen Empfindens, sondern ein Menschenrecht. […] Solange Inklusion aus Freiwilligkeit heraus geschieht, sind Menschen mit Behinderung auf die Gutmütigkeit anderer angewiesen.“

2015 schrieben Udo Sierck und Nati Radtke in ihrem großartigen Buch „Dilemma Dankbarkeit“: „Behinderte Menschen gelten schon immer als Dankbarkeitsapostel, die der Aufwertung jener dienen, die sich mit ihnen abgeben.[…] Dankbarkeit kann ein Verhältnis von oben nach unten, von Abhängigkeit und Machtkonstellation widerspiegeln. […] Diese Abhängigkeit verhindert oft ‚Nein!‘ zu sagen und eigene Ansprüche zu formulieren.“

Die derzeit auf viel Zustimmung stoßende, rechtspopulistische und neoliberale Botschaft an Menschen mit Behinderung in Deutschland, lautet wieder: Sei zufrieden mit dem, was Du hast!

Ausgeliefert

Die beschriebenen gesellschaftspolitischen Entwicklungen haben mich in den letzten Jahren sehr ermüdet und erschöpft, phasenweise bringen sie mich an den Rand der Verzweiflung. Um meine persönliche Gesundheit und die unserer Kinder zu schützen, habe ich mich dann zurück gezogen. Noch immer fällt es mir schwer, die Kraft und die Zuversicht für gesellschaftspolitische Kämpfe aufzubringen.

Diese Zurückhaltung geht leider auch einher mit permanenten Gewissensbissen, unseren Sohn einem Sondersystem, das leider in Deutschland für ihn vorgesehen ist, ausgeliefert zu haben.

Dieser Text von mir ist zuerst in der KIDS Aktuell Nr. 48 erschienen, später auch in der Leben mit Down Syndrom Nr. 106.

Anatols Einschulung im August 2019

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