Das Relativieren von Grund- und Menschenrechten und die Angst vor dem Verlust von Privilegien

Jedes Jahr am 8. Mai gehe ich zum Alsterdorfer Gedenken an die Opfer der Euthanasie im deutschen Nationalsozialismus. Dort stellen jedes Jahr SchülerInnen der Fachschule für Heilerziehung Lebensgeschichten von Menschen vor, die aufgrund einer psychischen, geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung in den Alsterdorfer Anstalten leben mussten und dann wie weitere 700000 Menschen mit Behinderung in Deutschland Opfer einer systematischen Ermordung „lebensunwerten Lebens“ wurden. Vorauseilender Gehorsam hatte die Ärzte und Schwestern der evangelischen Behindertenanstalt sogar noch vor dem offiziellen Start der Aktion T4 dazu veranlasst, die jüdischen Bewohner für Probevergasungen „zur Verfügung zu stellen“. Bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung trat auch die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano mit ihrer Hip-Hop-Combo Microphone Mafia auf.

Jedes Jahr am 8. Mai heule ich den ganzen Tag, weil er mir nicht nur die Schrecken des Nationalsozialismus vor Augen führt, sondern auch, dass uns unser Sohn mit Trisomie 21 vor 75 Jahren weggenommen worden und umgebracht worden wäre. Jedes Jahr denke ich, dass ich an diesem Tag nicht weinen werde, weil ich mich ja bereits genug damit auseinandergesetzt und genug darüber ausgeheult habe. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Dieser Tag ist immer aufs Neue sehr anstrengend aber auch sehr wichtig für mich.

In diesem Jahr begann der 8. Mai damit, dass ich auf Twitter einen link empfohlen bekam, ein Interview mit Renate Lasker-Harpprecht. Auch sie überlebte wie Esther Bejerano den Holocaust nur, weil sie im Orchester in Auschwitz spielte und so der gefürchteten Selektion im Lager entkam. In diesem sehr lesenswerten Interview sagt sie, dass sie nach dem Krieg wenig über das gesprochen hat, was sie in Auschwitz erlebt hat. Auf die Frage warum sie wenig mit Deutschen darüber reden konnte, antwortet sie:

„Die Deutschen tun etwas, was mir auf die Nerven geht: Sie fangen sofort an, von ihrem eigenen schrecklichen Schicksal im Krieg zu erzählen. Wie sie ausgebombt wurden.“

Das Berauben der Menschenwürde, das Ausgrenzen, das Experimentieren am lebendigen Leibe, das Foltern und Quälen, das gezielte Töten von Menschen wurde (und wird) immer wieder relativiert mit dem Hinweis darauf, dass man selbst ja auch sein Hab und Gut verloren hatte oder, dass ja auch das deutsche Volk leiden musste.

Und immer wieder dieses Relativieren

Momentan sind Gauland, Putin, Erdogan und Trump Spezialisten dieser Ja-wir-verstoßen-gegen-die Menschenrechte-aber-was-ihr-tut-ist-viel-schlimmer – Rhetorik. Immer wieder werden Verstöße gegen Menschenrechte mit dem Hinweis auf die selbst erlebte Ungerechtigkeit und Gewalt gerechtfertigt und/oder relativiert. Immer wieder macht es mich sprachlos und traurig.

Auch die Debatte um Inklusion ist zum Großteil davon geprägt. Sobald ein Mensch mit Behinderung das Recht auf Teilhabe und die dafür notwendige Ausstattung fordert, kontern neun andere Menschen, dass ja auch ihre eigenen Lebensbedingungen nicht so gut sind und verbessert werden müssten.

Menschen mit Behinderungen müssen um das Recht auf Teilhabe kämpfen, das andere jeden Tag selbstverständlich genießen dürfen.

Grund- und Menschenrechte sind elementar während die Verbesserung von Bedingungen ein Privileg ist.

Am 8. Mai heule ich jedes Jahr meine Verzweiflung darüber heraus. Die restlichen 364 Tage versuche ich drüber zu stehen, weiter zu leben und zu kämpfen. Für unseren Sohn und all die anderen.

Sonnige Maifeiertage in Mecklenburg

Es sieht ja fast so aus als würden wir ständig Urlaub machen. So oft wie dieses Jahr waren wir tatsächlich lange nicht mehr unterwegs. Dieses Mal mit meiner Freundin Jule und ihrem Sohn Johann. In der wunderbaren Gutsscheune Thorstorf. Mit viel strahlend blauem Himmel. Aber noch zu kalt zum Baden in der Ostsee.

Es waren ruhige und sehr schöne Frühlingstage. Nur am letzten Tag gab es nochmal Aufregung. Zumindest für mich, als Anatol plötzlich abgehauen ist und ich ihn im ganzen Dorf gesucht hatte. Nach ca. 20 Minuten ist er dann aus irgendeiner Hofgarage stolziert und brachte eine alte Luftpumpe mit. Er war ganz entspannt.

 

Geburtstage, Frühlingsstimmung und zwischendrin der Kampf gegen die Beratung in Sondersysteme

Wow, der März ist immer so voll. Erst mein 38. Geburtstag. Dann ist der kleine Professor am 21. März schon fünf Jahre alt geworden. Zwischendurch musste ich mit Dr. Wistuba, dem Leiter des Jugendpsychiatrischen Dienstes im Bezirksamt Eimsbüttel, so sehr streiten, dass ich noch immer überlege, ob ich mich schriftlich und umfangreich über ihn an höherer Stelle beschwere. Anatol und ich waren dort nur, um seinen Kita-Gutschein und die damit verbundene Eingliederungshilfe verlängert zu bekommen. Darum ging es für Dr. Wistuba bei unserem Termin aber gar nicht. Vielmehr versuchte er auf unverschämte und arrogante Weise mich davon zu überzeugen, dass wir Anatol in einem Jahr auf der Sonderschule anmelden und auf keinen Fall im Regelschulsystem. Anatols motorische Stärken seien ja im Vergleich zu seinen erheblichen kognitiven Einschränkungen letztendlich und in der leistungsorientierten Gesellschaft sowieso völlig irrelevant. Wir möchten doch nicht etwa auch, dass unser Sohn dann ständig weinend auf dem Schulhof steht?

Noch immer werde ich ganz wütend wenn ich an dieses Gespräch denke.

Und ansonsten sind wir Stubenhocker endlich wieder mehr draußen, weil Sonne und Wärme und hach Frühling. Endlich.

Ausflug in den Wildpark

Heute waren wir im Wildpark Lüneburger Heide. Von uns sind wir nur etwas mehr als 30 Minuten mit dem Auto gefahren. Es war sehr schön. Das Tollste waren die Schweine im Schafspelz, die Wölfe, die Sibirischen Tiger und die Fischotter. Nur ein einziges Mal sind wir etwas panisch geworden als Anatol blitzschnell durch den Zaun in ein Tiergehege huschte, dort gemütlich umher spazierte, unsere Schreie völlig ignorierte und wir riesige Angst hatten, dass er gebissen wird. Zum Glück ist alles gut gegangen.

Und dann habe ich heute diese großartige Winterrede von Franziska Schutzbach gelesen. Unbedingt lesenswert.

Warum ich mich jetzt von der Mutter-Kind-Kur erholen muss

Verschiedene Infekte hatten mich über den Jahreswechsel flach gelegt, so dass ich sowohl Heiligabend als auch Sylvester 2016 verschlief. Die dreiwöchige Mutter-Kind-Kur in einer Reha-Klinik im Harz im Januar verlief dann auch etwas anders als erwartet, so dass ich mich danach erst einmal vom Kur-Stress erholen musste. Das hing zum einen damit zusammen, dass ich Anatol nicht guten Gewissens in die dortige Kinderbetreuung geben konnte, weil die Erzieherinnen mit ihm ziemlich überfordert waren und deshalb mit ihm ständig schimpften. Und das, obwohl sie mir im Vorfeld telefonisch versicherten „Wir kennen uns mit Kindern mit Trisomie 21 aus. Wir hatten schon öfter Kinder mit einer Behinderung hier.“ Dann hatte ich fast jeden Morgen bei der Übergabe im Kinderhaus ein ungutes Gefühl, das mich quälte. Abends bekam er dann ganz viele Kuscheleinheiten. Zum anderen sollten wir alle Mahlzeiten im Speisesaal einnehmen, in dem ca. 30 Frauen mit ungefähr 80 Kindern aßen bzw. versuchten alle zu essen. Für uns war es fast unmöglich, weil Anatol dauerhaft um das Buffet herum rannte und immer mal wieder Wurst oder Käse oder anderes herunter riss und auf den Boden feuerte. Auch versteckte er sich unter den Tischen, begrüßte alle anderen Kinder beim Eintreten und war im Grunde so überreizt von dieser Ess-Situation, dass er sich kaum auf die eigene Nahrungsaufnahme konzentrieren konnte. Ab und zu nahm ich etwas mit ins Zimmer, damit er nicht verhungert. Sehr ungünstig für uns war auch noch, dass unsere Zimmertür sich nur mit einem einfachen Drehknauf abschließen ließ. Die Schließung hatte Anatol schon am ersten Tag verstanden und verließ dann ständig das Zimmer, um auf Entdeckungstour zu gehen. Am meisten interessierte er sich für unabgeschlossene Zimmertüren anderer Kurgäste, in deren Zimmer er dann still und leise hinein huschte, um dort Fernbedienungen, Handys und andere technische Geräte auszuprobieren. Einen Großteil der Kur verbrachte ich also damit, ihn zu suchen. Und schließlich kam noch dazu, dass ich täglich ganztags „Programm“ hatte, das mich ziemlich stresste und ich eigentlich nur in Ruhe mal bei einer gemütlichen Tasse Kaffee eine Zeitung oder ein Buch lesen wollte. Das war aber leider nicht möglich. Trotz mehrfacher Überlegungen, habe ich die Kur dann nicht abgebrochen, weil dort im Harz wunderschöner Tiefschnee war und wir quasi täglich am Berg hinter der Kurklinik rodeln gehen konnten – etwas, das wir seit vier Jahren, seit wir aus Sibirien nach Deutschland kamen, so sehr vermissen: einen richtigen Winter. Außerdem hat Liljana dort in den drei Wochen ihr Seepferdchen-Schwimmabzeichen machen können. Sie war super stolz.

Die ersten drei Tage war Sascha mit dabei und wir haben noch zwei tolle Ausflüge gemacht: mit der Seilbahn auf den Wurmberg bei Braunlage und ein Besuch des Silbererzbergwerkes Grube Samson in Sankt Andreasberg. Hier konnte Lili endlich mal sehen, wo man echtes Silber findet. Seit ich ihr im Dezember einen Edelstein-Adventskalender gemacht hatte, interessiert sie sich brennend für Steine, Kristalle und Mineralien.

Ich bin gespannt, was 2017 bringt. Zur Kur fahre ich vorerst nicht nochmal.

„Das Risiko nichtbehinderte Eltern zu bekommen“ – Ein Abend mit Udo Sierck

Am 28. September 2016 war Udo Sierck zu Gast im Elternverein Leben mit Behinderung Hamburg. Udo Sierck hat mich immer beeindruckt. Von den vielen Büchern zum Thema Inklusion, Behinderung und Entwicklung, die ich nach der Geburt unseres Sohnes mit Trisomie 21 gelesen hatte, hätte ich mir unzählige sparen können, wenn ich früher auf „Sie nennen es Fürsorge“, „Die Wohltäter-Mafia“, „Budenzauber Inklusion“ oder „Dilemma Dankbarkeit“ von Udo Sierck gestoßen wäre.

In seinem Einstiegsreferat sprach Sierck über das Dilemma Dankbarkeit für viele Behinderte, mit dem er sich in seinem jüngsten Buch ausführlich auseinandergesetzt hatte. Er meint hiermit die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Dankbarkeit kann laut Sierck dazu führen, dass jemand seine tatsächlichen Bedürfnisse zurückstellt, um seinem Gönner zu gefallen. Die Erziehung zur Dankbarkeit führt zu einem Verhalten der Loyalität gegenüber der Autorität, das jede Ungerechtigkeit und jeden Übergriff hinnimmt. Im Verhältnis zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen birgt das eine noch immer zu wenig beachtete Brisanz. Und dieses Dilemma beginnt in der Beziehung zu den Eltern, führte Sierck diesen Aspekt aus. Wenn einem Behinderten z.B. von der Mutter oder von Geschwistern immer wieder verdeutlicht wird, dass diese sich „aufopfern“ für das Wohl des behinderten Angehörigen oder seinetwegen „zurückstecken müssen“, kann man lebenslang eine bremsende Demut entwickeln, nicht nur gegenüber den Angehörigen, sondern gegenüber dem gesamten Lebensumfeld. Sierck ist davon überzeugt, dass dieser Gedanke in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist: Wer nimmt oder bekommt, muss auch geben. Und wenn behinderte Personen nichts geben können, sollen sie wenigstens mit Dankbarkeit aufwarten. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die wachsenden sozialen und beruflichen Anforderungen. Viele Menschen suchen nach Ratgebern, um diesen Ängsten zu begegnen. Die Suche nach dem Selbst beginnt, als ein Mittel gilt die Orientierung zur Dankbarkeit. Die Versuche zur Optimierung des Ichs rücken in den Mittelpunkt, die Lebensverhältnisse bleiben außen vor, es wird nur eine egozentrierte Perspektive propagiert. „Bei dieser Tendenz zur Individualisierung bleibt letztlich die soziale Verantwortung auf der Strecke“. Mit diesem realen und pessimistisch-traurigen Gedanken endet Sierck seine Ausführungen.

Eine rege Elterndiskussion folgte. Der Tenor war der immer wiederkehrende Konflikt der Eltern, an welchen Stellen sie in die Selbstbestimmung ihrer oft verhaltensauffälligen Kinder eingreifen dürfen, können oder sogar müssen. Um das Kind vor den Aggressionen und der Ablehnung der Gesellschaft zu bewahren, versuchen viele Eltern, das Kind so weit es geht zu normalisieren. Viele Eltern sind auch davon erschöpft, immer wieder aufzufallen.

Udo Sierck reagiert mit dem Hinweis, dass man in die Natur des Menschen oft nicht eingreifen kann. Viele Verhaltensauffälligkeiten sind für behinderte Menschen selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds stecken, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte. Der Kommentar im Publikum, dass viele Eltern mit der ständigen Aufklärung des Umfelds überfordert sind, ließ den Wunsch aufkommen, hierin von Elternvereinen zukünftig mehr gestärkt zu werden.

„Aber ich habe ständig Angst, dass mein Kind woanders nicht gut aufgehoben ist und eben nicht so gewertschätzt wird wie von mir und unserer Familie.“, wurde angemerkt.

Sierck antwortet entschlossen, dass ein Kind Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um selbstständig aktiv zu werden und nach Lösungen zu suchen. Solche negativen Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.

„Aber mein Kind ist nicht so fit wie Sie Herr Sierck. Mein Kind ist schwer mehrfach behindert und hat eine geistige Behinderung.“, kam aus dem Publikum.

Es ginge nicht um eine Diskussion um Grenzen oder einer stufenartigen Einteilung von fit-Sein, so Sierck sinngemäß. Es geht immer um einen einzelnen Menschen und wie diesem individuellen Menschen größtmögliche Autonomie ermöglicht werden kann. Hier muss man manchmal sehr kreativ werden, um die Bedürfnisse eines Menschen herauszubekommen und zu verstehen.

Dann ging der Abend zu ende und beschäftigte mich noch lange. Uns Eltern scheint es enorm schwer zu fallen, uns von unserem behinderten Kind zu lösen, es in Ruhe zu lassen, es von Erwartungen und Druck zu befreien und in seinem Anders-Sein zu lieben wie es ist. Immer wieder war die Rede von „erzieherischen Bemühungen“, „alles für die positive Entwicklung des Kindes zu tun“ oder es „umfassend zu fördern“. Und ich hatte das Gefühl, dass wir Eltern im Publikum doch nicht verstanden hatten, worum es Sierck ging: eben darum, nicht auf das Kind einzuwirken und es nicht zu formen oder normalisieren zu wollen, sondern die Fäden durch zu trennen, sich zurück zu nehmen, los zu lassen, zuzulassen und auszuhalten. Das Kind sein lassen wie es ist und seinen Weg gehen zu lassen. Kein Wunder, dass die von Sierck mitbegründete Krüppelbewegung in den 80er Jahren u.a. die Eltern als ihre Feinde deklariert hatte.