Wie viel Therapie und Förderung braucht ein Kind mit Trisomie 21?

Uns Eltern eines Kindes mit Trisomie 21 wird regelmäßig in diversen Berichten von Kitas, Schulen, Ärzten und Therapeuten das Entwicklungsdefizit unseres Sohnes im kognitiven, sprachlichen und sozial-emotionalen Bereich mitgeteilt und ausführlich erörtert. Noch häufiger werden mir als Mutter, nicht nur von den eigenen Eltern und Schwiegereltern, sondern auch von irgendwelchen Leuten, Ratschläge zur Förderung und zur Erziehung unseres Sohnes gegeben: Adressen guter Therapeuten oder Therapiezentren werden mir z.B. ungefragt per Mail zugeschickt oder Bücher mit irgendwelchen Wunder versprechenden Fördermethoden geschenkt. Unser Sohn scheint nicht genug gefördert zu werden. Da geht bestimmt noch mehr. Man meint es ja auch nur gut und will helfen.

Ich selbst habe aber noch niemals die Notwendigkeit gesehen, in irgendein blödes Therapiezentrum zu fahren, womöglich noch unseren Urlaub dort zu verbringen. Ich empfinde all diese Ratschläge als übergriffig. All das setzte mich, setzt Eltern schon früh unter Druck.

Und immer wieder die Diagnostik des Abweichenden

Egal ob Mediziner, Therapeuten oder Pädagogen, sie alle diagnostizieren seit der Geburt permanent unser Kind und stellen es auf ihren jeweiligen Entwicklungsskalen auf irgendeiner Stufe dar. Das führte bereits zu solch absurden Situationen, dass unser Sohn mit 18 Monaten von einer Ärztin auf dem Entwicklungsstand eines 12 Monate alten Kindes auf ihrer Normalitäts-Skala platziert wurde, während eine Heilpädagogin ihn zur gleichen Zeit auf dem Entwicklungsstand eines 16 Monate alten Kindes einstufte. Dies stellte für mich sehr früh nicht nur standartisierte Diagnoseinstrumente in Frage, sondern ich fragte mich vor allem schon zu diesem Zeitpunkt nach dem eigentlichen Sinn solcher Einstufungen. Denn die Therapeuten, die mit ihm direkt therpeutisch arbeiten, machen ja sowieso nochmal eine eigene Diagnostik in ihrem spezifischen Therapiegebiet.

Schon sehr früh erkannte ich also für mich, dass unser Sohn und ich perfekt sind wie wir sind und dass wir Diagnostik – soweit möglich – lebenslang aus dem Weg gehen werden. Das war eine Erkenntnis, die mein eigenes Leben und meine Beziehung zu unserem Sohn grundsätzlich veränderte. Auf die Gefahr hin jetzt unglaublich pathetisch zu werden: ich begriff, dass das Unperfekte in unserer so normativ gewordenen Gesellschaft ja gerade das Spannende und Schöne ist. Die Endlichkeit, die Angewiesenheit, die Abhängigkeit, die Begrenztheit und die Fehleranfälligkeit des Menschen sind es, die letztlich jede Idee von Perfektion als Utopie entlarvt. Das allseitige Streben nach Mittelmäßigkeit ist so sterbenslangweilig. Auf jedes angebliche Defizit unseres Sohnes in irgendwelchen Berichten trinke ich seitdem genüsslich ein Glas Wein. Auf jeden angeblichen Erziehungsfehler trinke ich ein weiteres.

Oft kommen wir ja um Diagnostik leider nicht herum. Beim Eintritt in die Schule z.B wurde Diagnostik formal eingesetzt, um den vermuteten Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung bei unserem Sohn zu bestätigen, um den Bedarf an zusätzlichen personellen und materiellen Ressourcen für seine spezielle Förderung rechtfertigen zu können. Das heißt, ohne Diagnostik kein Geld, ohne Geld keine „spezielle Förderung“ – das sogenannte „Ressourcen-Ettikettierungs-Dilemma“.

Das Thema Diagnostik treibt mich immer wieder an. Jedes Kind ist in seiner Entwicklung einzigartig. Im ursprünglichen Wortsinn bedeutet dia-gnosis eigentlich Unterscheidung, also die einfache Feststellung von spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Kindes. Das heißt, Diagnostik sollte spezifische Eigenschaften und Fähigkeiten unseres Sohnes helfen herauszufinden. Hinzu kommt das Erkennen behindernder äußerer Barrieren. Viele Menschen werden durch eine Vielzahl von Barrieren an einer vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe (z.B. an Schulen) gehindert. Diese Barrieren stellen nicht nur physische Hindernisse dar (Stufen, Bordsteine, Durchgangsbreiten, Akustik), sondern auch kommunikative (verbale Information, keine Beschilderung, schwere Sprache) sowie abwertende Vorurteile, zu hohe Anforderungen, mangelndes Sozialgefüge, ausgrenzende Zugangsvoraussetzungen oder viel zu große Lerngruppen. Diagnostik sollte diese Barrieren erkennen und abbauen oder wenigstens minimieren. Das Feststellen von persönlichen Einschränkungen und Schwächen – also das, was unsere Kinder eigentlich bei der Diagnostik oft erleben – betont und verstärkt Defizite, auch wenn es von Pädagogen und Therapeuten natürlich nicht so gewollt ist.

Therapie und Förderung

Die Begriffe Therapie und Förderung tauchen meist in einem engen Zusammenhang mit einer gestörten oder verzögerten Entwicklung von (behinderten) Kindern auf, weshalb ich diese Begriffe ebenso schwierig finde wie den der Diagnostik. Das als defizitär erkannte Subjekt muss durch Therapie und Förderung an ein als normal identifiziertes Mittelmaß angepasst werden.

Schnell stellen sich viele Eltern dann die Frage, wie viel Therapie und Förderung ihr Kind benötigt. Die maximale Ausschöpfung von Ressourcen eines Kindes sowie die Angst ein entscheidendes Entwicklungsfenster zu verpassen treibt dann die Eltern von Kindern mit Trisomie 21 oft von Therapie zu Therapie, von Fördermaßnahme zu Fördermaßnahme. Hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines Kindes mit Trisomie 21 (zwar spielerisch, aber konsequent) zu therapieren und das Kind permanent therapieren oder fördern zu wollen, steht oft Hilflosigkeit und Distanzsuche. Das noch nicht Erreichen von bestimmten Entwicklungsstadien wird als krankhaft und falsch wahrgenommen. Und das darf nicht sein und muss mit ausreichend Förderung verhindert bzw. verringert werden.

Udo Sierck, ein bekannter Behindertenaktivist, sagte einmal in einem Vortrag, den ich erleben durfte, dass man in die Natur des Menschen meist nicht eingreifen kann. Viele „Verhaltensauffälligkeiten“ sind für Behinderte selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds investieren, meint er, und immer wieder erklären, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte.

Eine Mutter aus dem Publikum äußerte daraufhin ihre Angst, dass ihr Kind und dessen Verhalten von der Umgebung eben meist nicht so wertgeschätzt wird und sie ihm mit mehr Therapien und Förderung helfen will, die eigenen Bedürfnisse besser ausdrücken zu können. Sierck wies darauf hin, dass es immer um Hilfen zu mehr Selbstbestimmung gehen muss und man hier individuell ein gesundes Maß für sein Kind finden sollte. Er fügte jedoch klar hinzu, dass ein Kind auch Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um überhaupt selbstständig aktiv werden zu können und selbst nach Lösungen suchen zu können. Negative Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.

Kann Therapie und Förderung schaden?

Derzeit scheint sich insbesondere auch ein präventives Therapie- und Förderdenken durchzusetzen. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen bzw. von einem standartisierten „Programm“ auf ein Kind (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) ist jedoch vollkommen unnötig. Therapien sind lediglich Dienstleistungen, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein können, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollten.
Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie und Förderung jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders! Viele Therapeuten und Sonder- oder Heilpädagogen beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr spezielle Therapie und spezielle Förderprogramme verunsichern. Frühförderung, Sonderkindergärten und Sonderschulen können damit der Anfang eines lebenslangen Kampfes für ein Kind mit Trisomie 21 sein, endlich „normal“ werden zu können – so wie es sich die Erwachsenen um dieses Kind herum so sehr wünschen.

Welche Förderung schadet nicht?

Immer wieder meinen einige (Sonder- oder Heil-) Pädagogen, die richtigen Lernmethoden für Menschen mit Trisomie 21 gefunden zu haben. Sie damit dann aber mit viel personellen und zeitlichen Ressourcen z.B. auf einen Schulabschluss regelrecht zu trimmen, scheint mir nicht die richtige Lösung zu sein. Für mich ist das so wie einen gehbehinderten Menschen auf die deutschen Meisterschaften im 100m-Lauf zu trainieren oder wie mich selbst durch ein Chemiestudium quälen zu müssen.

Therapie und Förderung sollte m.E. immer drei Ziele verfolgen:
1. Unterstützung bei Selbstbestimmung, Unabhängigkeit sowie Entscheidungs- und Handlungsfreiheit.
2. Schaffen und Sensibilisieren von Bezugsgemeinschaften (also unterstützte gemeinsame Gruppenlernprozesse, gemeinsame Arbeitsprozesse, gemeinsame Freizeitgestaltung, usw.).
3. Minimieren bzw. Abbau äußerer Barrieren.

Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht würde er mit gezielterer Sprachförderung jetzt mit seinen sieben Jahren schon ganz allein zwei Kugeln Eis bestellen können. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er mit speziellen Fördermethoden von Frau Manske oder an der Universität Hamburg jetzt schon bis 10 zählen können. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung und Förderung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll so wie er ist.

Unser Lebensthema: Kommunikation und sozial-emotionale Entwicklung

Im Mai 2018 begutachtete ein Sonderpädagoge Anatol (6) in der Kita und beschrieb seinen Entwicklungsstand im Bereich Sprache folgendermaßen: „Im Entwicklungsbereich Sprache zeigt Anatol insgesamt eine deutliche Entwicklungsverzögerung im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern. Anatol kommuniziert vorwiegend mit einfachen Einwortäußerungen, nutzt jedoch teilweise auch komplexere Aussagen mit bis zu drei Wörtern. Dabei verwendet er neben Nomen auch Verben und Füllwörter. Anatol ist dabei wirksam, auch durch das Nutzen von nichtsprachlichen Mitteln wie Gesten. Bezugspersonen zieht er zu sich und zeigt durch Stupsen oder Führen seine Bedürfnisse an. Für genauere Informationen ist er auf die Interpretationen und Nachfragen von Bezugspersonen angewiesen. Die Kommunikation gestaltet sich mit den anderen Kindern schwieriger, da diese den aktiven ausgleichenden Anteil der Kommunikation mit Anatol nicht erfüllen können. Insgesamt ist Anatol sehr kommunikativ und lässt sich auch von misslungener Kommunikation nicht abschrecken. Sein Wortschatz ist für seine Kommunikation tragfähig und umfasst wichtige Begriffe und häufig verwendbare Verben und Hilfswörter. Seine Aussprache ist relativ schwer verständlich, ein sichtbarer Kontext sehr hilfreich. Eine Reihe phonologischer und phonetischer Prozesse in Verbindung mit einem die Artikulation erschwerenden Tonus im Mundbereich machen seine Aussprache undeutlich und verwaschen. Im Bereich des Sprachverständnisses kann Anatol einfache Aussagen mit deutlichen Kernaussagen einfache Informationen entnehmen und diese in Handlung umsetzen. Komplexere Fragen und abstrakte Aussagen kann er nur schwer dekodieren. Ein sichtbarer Kontext und eine Unterstützung durch Gesten sind hilfreich. […] „

„Die Kinder beziehen ihn ein wegen seiner Neigung die Rolle des „Gruppenkaspers“ zu besetzen.“

Weiter heißt es da: „Anatol erscheint im Bereich der sozialen Entwicklung und emotionalen Entwicklung insgesamt deutlich nicht altersgemäß entwickelt. Besonders in der sozialen Interaktion zeigt er deutliche Entwicklungsdefizite verglichen mit gleichaltrigen Kindern. Es fällt ihm schwer mit allen Kindern der Kita auf allgemein akzeptierte und konventionelle Art und Weise Kontakt aufzubauen, meist greift er auf weniger produktive Strategien zurück. Anatol geht dabei wenig methodisch zu, phasenweise boxt und tritt er jedes Kind, an dem er vorbei geht. Dabei scheint es ihm nicht um eine Verletzung zu gehen, er scheint seine Wirksamkeit in seinen Handlungen auszutesten. Beim Anziehen vor dem Freispiel in der Hospitation hält er so z.B. einen deutlich jüngeren Jungen davon ab, sich umzuziehen, indem er ihn durch leichte Tritte daran hindert auf seinen Garderobenplatz zu gelangen. In Konflikten mit anderen Kindern, etwa im Streit um Spielzeug, greift er relativ schnell auf körperliche Strategien zurück, die er ausdauernd anwendet. Wird er daraufhin zurechtgewiesen, gelingt es ihm nur eingeschränkt, sein Fehlverhalten einzusehen. Trotzdem schafft er es mit Hilfe der Erzieher, sich zu entschuldigen, auch Anzeichen für Scham und Ertapptfühlen sind sichtbar. Anatol ist ein fröhlicher Junge, der durch seine Gesamtpersönlichkeit und besonders auch in Interaktion und unter Aufsicht von Erwachsenen, die ihm im Bereich der sozialen Interaktion helfen, das Gruppengeschehen mit seiner Art bereichert. Die Kinder beziehen ihn wegen seiner Fröhlichkeit und auch wegen seiner Neigung die Rolle des „Gruppenkaspers“ zu besetzen, in ihre Handlungen mit ein und lachen viel und oft mit ihm.“

 

„Anatol gerät oft in Konfliktsituationen.“

In einem aktuellen Entwicklungsbericht der Kita von Februar 2019 heißt es: „Anatols Wortschatz ist viel größer geworden und er spricht mittlerweile Mehrwortsätze. Die Kinder verstehen ihn besser und fangen an sich mit ihm verbal zu unterhalten. Seit ca. 4 Wochen benutzt er seinen eigenen Namen und spricht ihn verständlich aus. Auch Verben setzt er immer häufiger ein. Anatols Sprechfreude hat deutlich zugenommen. Im Morgenkreis erzählt er so gut er kann auch von seinen Wochenenderlebnissen und freut sich sehr darüber, dass es von Mal zu Mal besser klappt. […]
Alle Kinder in seiner Gruppe mögen ihn sehr gerne und akzeptieren ihn so wie er ist. Viele Kinder aus der Gruppe haben zur Zeit andere Interessen als Anatol, so dass er oft mit seinen Spielideen nicht so gut ankommt. Anatol mag sehr gerne toben oder auch raufen, was bei den Jungs zur Zeit nicht so angesagt ist. Die Mädchen aus seiner Gruppe beziehen ihn häufig in ihr Rollenspiel ein und er kann mit ihnen dann im Freispiel „Vater, Mutter, Kind“ spielen oder mit ihnen Höhlen bauen. Die Jungs in seiner Gruppe spielen zur Zeit gerne Konstruktionsspiele. Anatol versucht immer wieder mit Unterstützung der Erzieher dort mitzumachen. Er zeigt dabei aber nicht soviel Geduld.
Anatol ist ein hilfsbereites Kind und sieht sofort wenn jemand Hilfe braucht. Wenn z.B. andere Kinder ihre Stifte nicht angespitzt haben, bemerkt er es sofort und spitzt diese für sie ohne Aufforderung an. Sein Essen teilt er auch gerne mit den Kindern.
Anatol gerät oft in Konfliktsituationen. Oft nimmt er nicht die Grenzen der anderen wahr oder testet diese aus. So schmeißt er z.B. die gebauten Sachen der anderen um oder nimmt ihnen ihre Sachen weg. Er freut sich über die Reaktion der Kinder und fängt im ersten Augenblick an zu lachen. Ohne Unterstützung der Erzieher schafft er es noch nicht die Situation zu verstehen und solche Konflikte zu beenden. Anatols Frustrationstoleranz ist größer geworden. Wenn nicht sofort alles klappt, versucht er es inzwischen noch ein zweites Mal und kann dieses viel besser aushalten. Durch Anatols fröhliche Art ist stets eine gute Stimmung in der Gruppe.“

Kommunikation und die damit einhergehende sozial-emotionale Entwicklung bleiben unser Lebensthema. Hoffentlich erhält Anatol seine Kommunikations- und Sprechfreude. Seit einigen Wochen will er morgens nicht mehr so gern zur Kita wie früher, jetzt will er jeden Tag zum Handballtraining. Zusammen toben und Sport machen gefällt ihm viel besser als zusammen lernen oder spielen.

Anatol und Liljana im Januar 2019

Same question as every year: Sonderschule oder Regelschule?

Unser mittlerweile sechsjähriger Sohn hat eine Trisomie 21. Meist wird Eltern von Kindern mit Down Syndrom der Besuch einer speziellen Sonderschule empfohlen, weil davon ausgegangen wird, dass die Barrieren, die mit dem Besuch einer Regelschule verbunden wären, für Kinder mit Down Syndrom einfach noch zu groß sind und nicht mit vertretbarem Aufwand und schon gar nicht sofort beseitigt werden könnten.

Die Entscheidung in welcher Schulform unser Sohn besser aufgehoben wäre, fällt nicht leicht und beschäftigt mich seit Jahren. Massive Barrieren und Unrecht scheint es in beiden Schulformen zu geben, genau wie positive Erfahrungen.

Zwei mögliche Szenarien

So stelle ich mir den Verlauf bei unserem Sohn vor: zunächst würde er in der Schule (egal welcher Schulform) höchstwahrscheinlich auf Pädagogen treffen, die mit seinem ungewöhnlichen, oft grenzüberschreitenden Verhalten und seiner anderen Art zu Lernen überfordert sein würden. Schließlich würde er nur das mitmachen, worauf er Lust hätte. Es würde wahrscheinlich völlig unmöglich sein ihn zum Rechnenlernen zu motivieren, wenn er gerade Fußball spielen möchte. Er würde dann im Matheunterricht auf seine Art reagieren mit Blödsinn machen (alle mit Quatsch ablenken und zum Lachen bringen), mit Versteckspielen unterm Lehrertisch oder Rock der Banknachbarin oder er würde sich andere lustige Strategien ausdenken, um für gute Stimmung und Harmonie in der Gruppe zu sorgen. Das pädagogische Personal würde dann recht schnell merken, dass jede Art von Schimpfen oder „Strafen“ entweder von unserem Sohn völlig ignoriert werden würde oder er mit noch heftigeren Vermeidungsstrategien reagieren würde. Unter Mitschülern wäre unser Sohn wahrscheinlich trotzdem beliebt, weil seine Ablenkungsmanöver und Grenzüberschreitungen kreativ und witzig, aber niemals beleidigend und bösartig wären.

An der Regelschule…

Spätestens nach einem halben Jahr würde die Regelschule sagen, dass sie überfordert sei und ihnen das „sonderpädagogische Wissen“ fehle, unseren Sohn adäquat in den Unterricht mit einzubeziehen, geschweige denn ihn gut fördern zu können. Außerdem würde er mit seiner Art Mitschüler im Unterricht zu stark beeinflussen und ablenken. Wir Eltern würden dann wahrscheinlich auf unser Recht auf Regelbeschulung und Teilhabe pochen, woraufhin sich die Schule den Arsch aufreißen würde so viele (Sonder-) Ressourcen wie geht für seine Schulbegleitung zu bekommen, damit unser Sohn von einem immer an ihm klebenden Schulbegleiter gesondert oder in der Klasse einzeln und ganztags beschäftigt, ruhig und auf Abstand zu den Mitschülern gehalten werden können würde. An einigen wenigen Tagen und in einigen wenigen Fächern würde er von sehr engagierten Lehrern ziemlich gut mit einbezogen werden können, das Gros des gesamten Schulalltags würde aber die Kommunikation und Beziehung zum Schulbegleiter ausmachen, der jedes Jahr wechseln und an 5 Schultagen im Monat krank sein würde. Dann würden wir Eltern bei einem Termin mit der Förderkoordinatorin der Schule nach dem Förderplan fragen und welche Lernziele die Klasse und Schule hätten? Die Förderkoordinatorin würde uns dann erzählen, was wir für einen tollen Sohn hätten, wie sehr er die Klasse bereichern und welche herausragenden Fortschritte er machen würde. Wir würden dann ganz besonders stolz auf ihn sein. Auf Fragen zum Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten würde die Förderkoordinatorin antworten, dass sie neben dem Gewährleisten von Teilhabe und der Versorgung der Grundbedürfnisse unseres Sohnes leider keine Kapazitäten haben würden, um ihm auch die nötige fachinhaltliche Förderung zukommen lassen zu können. „Unter uns“ würde sie dann hinzufügen, dass schon eher in den Kleingruppen an speziellen Sonderschule genug Zeit und Ruhe wäre, um SchülerInnen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Ansätzen Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen zu können. Aber, würde sie ergänzen, sie sei vor einem Jahr ja selbst an die Regelschule gekommen, weil sie ein Sonderschulsystem ungerecht und unzeitgemäß findet.

Nach 10 Schuljahren, in denen Jahr um Jahr das gleiche Elterngespräch geführt werden würde, würden wir drei Kreuze machen und unser Sohn ganz genau der gleiche tolle Mann sein, zu dem er auch an der speziellen Sonderschule herangewachsen wäre.

An der speziellen Sonderschule…

An der speziellen Sonderschule würde wahrscheinlich die Schülerzahl innerhalb kürzester Zeit massiv sinken, weil alle Kinder, die halbwegs zielgleich unterrichtet werden können, auf die umliegenden Regelschulen umgeschult werden würden (da dort Barrieren nach und nach immer weiter abgebaut werden würden) und einzig Kinder mit sehr starken kognitiven Einschränkungen, Mehrfachbehinderungen und/oder sehr starken Verhaltensauffälligkeiten an der speziellen Sonderschule verbleiben würden. Im fünften Schuljahr (im Schuljahr 2024/25) würde die BSB auf diese Entwicklung damit reagieren, dass alle Hamburger Schulen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und körperlich-motorische Entwicklung zusammengelegt werden würden. Hierin würden dann die SchülerInnen gesammelt werden, für die die Abschaffung der massiven Barrieren an den Regelschulen zu aufwendig und zu teuer ist. Wir Eltern würden daraufhin fassungslose Briefe an die Schule, die Schulbehörde und den Senator schreiben, dass gerade Deutschland mit seiner spezifischen Geschichte es unbedingt vermeiden muss, solche „Sammelbecken“ zu errichten, dass das Anregungspotenzial in solchen Gruppen nicht nur sehr gering, sondern oft sogar negativ ist und, dass diese Art der Konzentration der Schwächsten extrem schädlich für die Betroffenen und die Gesellschaft ist.

Nach 10 Schuljahren, in denen Jahr für Jahr die gleichen Briefe des Zorns ausgetauscht werden würden, würden wir drei Kreuze machen und unser Sohn ganz genau der gleiche tolle Mann sein, zu dem er auch an der Regelschule herangewachsen wäre.

So what?

Vielleicht überschätze ich die negativen Konsequenzen einer Entscheidung für die „falsche“ Schulform für unser eigenes Kind. Er hat schließlich uns und egal wie, er wird seinen Weg gehen.

Auch werden zum Glück zukünftig immer mehr spezielle Sonderschulen geschlossen werden und immer mehr Schüler in Regelschulen integriert. Aber der Erhalt bzw. die Schaffung von Bildungseinrichtungen, in denen ein „Rest“ verbleibt und zusammen konzentriert wird, halte ich für falsch und in einem demokratischen Land wie Deutschland ist dies ethisch auch absolut nicht vertretbar.  Von daher wünsche ich mir, dass man von Anfang an und immer die Schwächsten mitdenkt und Bedingungen gerade für deren qualitativ umfangreiche Teilhabe schafft.

Lili sägt Tolja den Kopf ab.

Tolja rächt sich und überwältigt sie.

Urlaub mit einem liebevollen Diktator

Ende Juli waren wir eine Woche auf einem Bauernhof in Teschendorf, im Osten Schleswig Holsteins, nahe Heiligenhafen. Und ohne die Aufmerksamkeitsbesonderheiten Anatols (5) wäre es ein traumhafter und entspannter Urlaub gewesen. So war es wie alle Familienurlaube von uns schön aber auch ziemlich anstrengend. Oft kommt sein Schwesterherz Liljana (8) mit ihren Wünschen und Bedürfnissen zu kurz. Hier ein paar Beispiele:
Bei Autofahrten die länger als 30 Minuten dauern, schnallt sich Anatol permanent ab und turnt dann die ganze restliche Zeit im Auto herum. Anfangs brüllen wir ihn meist total laut und ängstlich an, „wie gefährlich das sei“ und, dass „er sich sofort hin setzen und anschnallen soll“. Dann weint er kurz, setzt sich hin, schnallt sich an und … schnallt sich kurze Zeit später wieder ab und turnt.
Im Bus möchte Anatol meist auf einem von ihm ausgewählten Sitz Platz nehmen. Ist der besetzt, dann wird der Sitzplatzinhaber mit Fingerzeig, bösen Blicken und lautem Nölen von ihm genötigt, den Platz zu räumen. Wird der Platz nicht für Anatol frei gemacht, beginnt er fies zu weinen. Wird der Platz geräumt, dann setzt er sich grinsend über seinen Erfolg hin und nötigt auf die gleiche Weise einige Minuten später einen anderen seiner Sitznachbarn, auf dessen Sitz er es dann abgesehen hat…
Am Strand lässt sich Anatol meist kurz davon begeistern eine Sandburg zu bauen oder Steine und Muscheln zu sammeln. Schnell hat er darauf keine Lust mehr und dann beginnt seine Erkundungstour. Mit nassen sandigen Füßen rennt er über die Decken oder Handtücher der Strandgäste. Nebenbei klaut er von ihnen z.B. Sonnenmilch oder ein Gummitier und haut damit grinsend ab. Nehme ich ihm die Sonnenmilch oder das ergatterte Gut wieder weg um es zurück zu geben, dann beginnt er mich, die Nachbarn und/oder Passanten wütend trotzig zu hauen. Dann kommt der nächste Sonnenanbeter dran…
Im Meereszentrum kann man Fische und andere Meerestiere sehen. Anatol stellt sich z.B. auf die erhöhte Kinderstufe vor dem ersten Aquarium, schaut kurz die Fische an und ist anschließend ausschließlich damit beschäftigt, die Stufe als SEINE Stufe zu verteidigen. Fortan darf kein weiteres Kind diese Stufe betreten. Wer es versucht, der wird forsch mit Fingerzeig auf das nächste Aquarium verwiesen oder mit Schubsen daran gehindert in die Nähe SEINER Stufe zu gelangen. Dann weinen die anderen Kinder, ihre Eltern regen sich über Anatol auf und ich versuche erfolglos ihm zu erklären, dass alle Kinder auf die Stufe dürfen bis ich ihn letztendlich doch zum nächsten Aquarium zerre, wo das gleiche Spiel beginnt… Nach ein oder zwei Aquarien hat er genug davon, beginnt dann durch das gesamte Meereszentrum zu flitzen und haut dabei grinsend allen Leuten beim Vorbeirennen gegen die Beine oder gegen den Po. Zwischendurch klettert er auf die Fels-Attrappen (auf denen „Klettern verboten“ steht) oder hangelt die Fische- und Kraken-Aufsteller aus Pappe herauf. Manchmal huscht er auch durch die Notausgänge oder geht in Türen hinein, die nur für das Personal zugänglich sind. Das riesige Hai-Aquarium und auch die anderen Tiere interessieren ihn eigentlich nicht mehr. Vom tobenden und flüchtigen Entdecken ist er nur noch mit dem Versprechen auf ein Eis im Museums-Kiosk abzubringen.
Anatols Wege sind grundsätzlich seine eigenen Wege. Wenn wir skaten und Laufrad fahren, sich der Weg vor uns teilt und wir alle nach links fahren, dann fährt Anatol nach rechts. Fahren wir nach rechts, dann fährt er nach links. Wenn Sascha und ich uns vorher einigen, uns aufzuteilen, ihn SEINEN Weg wählen lassen und dann einer von uns einfach diesen Weg mit fährt, kann es passieren, dass er sein Laufrad auf den Weg schmeißt und einen dritten Weg nimmt: z.B. freudig geradeaus ins Feld hinein stürmt…
– Anatol liebt Spielplätze. Dort wird meist von ihm SEIN Klettergerät okkupiert. Er stürmt z.B. auf die Rutsche. Oben auf der Rutsche darf kein anderes Kind mehr hoch kommen. Mit dem Finger wird das andere Kind von oben von dem kleinen Zwerg Anatol bedroht. Kommt es doch hoch, wird es noch auf der Leiter stehend mit den Füßen getreten. Auch zur Rutschseite hin wird eisern verteidigt. Kein Kind darf oben sitzen bleiben. Sofort bekommt es von Anatol einen Tritt in den Rücken. Auch diejenigen, die die Rutschseite hoch laufen werden nicht oben auf das Podest gelassen. Denn Anatol ist schließlich der Herr der Rutsche.
– Er liebt auch Tiere. Auf dem Bauernhof gibt es viele Tiere. Mit ihnen wird alles geteilt. Auch Anatol mag das Katzenfutter. Er kann z.B. auch den Katzen oder den Hühnern den halben Tag hinterher laufen in der Hoffnung sie zum Streicheln zu Fassen. Aber sie sind zum Glück meist schneller. Wenn nicht werden sie schon mal mit ordentlichem Bauerngriff von Anatol am Hals gepackt. Er läuft ihnen überall hin hinterher: durch das dichteste Gestrüpp, unter den Ställen hindurch, hinter Schränke in der Scheune, über Tische usw. Dabei klatscht er in die Hände und ruft miau miau miau. Ganz niedlich. Nur die Weinbergschnecken sind in Anatols Nähe in Lebensgefahr.
Im Weizenfeld rennt er gern. Er rennt so schnell, dass keiner ihm folgen kann. Er kann 10 Minuten lachend in eine Richtung rennen, dann 10 Minuten lachend zurück. Dann nochmal. Danach seine Schuhe und Socken ausziehen und nochmal rennen. Dann sein T-Shirt ausziehen und nochmal rennen. Bis auf die Windel alles nach und nach ausziehen und nochmal rennen. Irgendwann ist er sooo k.o., dass er sich auf den Weg setzt, weint und nach Hause getragen werden möchte.
Im Sandkasten spielt Anatol viel und intensiv, z.B. macht er dort Kaffee und Kuchen für alle. Dann geht er rum und verteilt seinen Kaffee. Lehnt ein Erwachsener den frischen Kaffee ab, dann wird Anatol böse. Er fuchtelt dann so lange mit der Tasse (Sand-) Kaffee vor der Nase des Erwachsenen herum bis dieser sie endlich nimmt, so tut als ob er trinkt und den guten Kaffee lobt.
– Anatol ist immer in Bewegung und blitzschnell. Einmal war er schon angezogen und fertig zum Laufrad fahren während ich mir noch eine Minute die Schuhe zu band. Als ich auf sah, war er verschwunden. Ich suchte ihn eine ganze Weile auf dem ganzen Bauernhof. 10 Minuten später fand ich ihn mit seinem Laufrad bei den Getreidesilos. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ich nach ihm suchte.
Das waren nur ein paar Beispiele, wie der kleine Diktator uns vom morgendlichen Aufwachen bis zum abendlichen Einschlafen auf Trab hält. Zwischendurch grinst er, gibt uns viele viele Küsschen, umarmt uns zärtlich, kuschelt ausdauernd und hat uns unglaublich lieb. Genau wie wir ihn.

Nur Lili hasst ihn. Sie möchte eigentlich, dass wir schauen, welche neuen Kunststücke sie kann.

Zwangsbeglückung

Am 21. März wird Anatol 4 Jahre alt. Bei seiner älteren Schwester fing es so ca. mit dem dritten Geburtstag an, dass sie sich etwas zum Geburtstag gewünscht hatte, etwas, was wir ihr nicht so einfach zwischendurch kaufen wie Klamotten, etwas Besonderes. Mittlerweile teilt sie das Jahr in Weihnachten und Geburtstag auf. Sechs Monate lang höre ich von ihr „Das wünsche ich mir zum Geburtstag.“ (sie hat im Sommer Geburtstag), danach weitere 6 Monate „Das wünsche ich mir zu Weihnachten.“ Als sie vier Jahre alt war, hatten wir mal eine Diskussion über Neid. Ich sagte ihr damals, dass Neid nichts Schönes ist, dass es bedeutet, jemand will alles haben, was die Anderen haben. Sie beendete dieses Gespräch mit den Worten: „Ich finde Neid gut.“

Anatol wünscht sich nichts. Ich wage zu behaupten, dass er selbst wenn er schon sprechen könnte, keinen speziellen Wunsch zum Geburtstag oder zu Weihnachten haben würde. Er ist sehr zufrieden und glücklich. Und er lebt nur im Moment und damit noch völlig ohne Sehnsüchte. Wenn mich die Muttis der eingeladenen Kinder fragen, was er sich zum Geburtstag wünscht, dann sage ich immer: Etwas, womit euer eigenes Kind am liebsten spielt. Es fiel mir immer sehr schwer zu sagen, womit Anatol gerne spielt? Denn, er spielt mit allem, was man ihm anbietet. Er begeistert sich ein wenig mehr für Bälle und Autos als seine Schwester, die lieber malt, liest und Musik hört. Aber im Großen und Ganzen ist er total offen.

Anatol wäre überhaupt nicht traurig, wenn er nichts zum Geburtstag geschenkt bekommen würde. Er würde es nicht bemerken, nichts vermissen. Stattdessen würde ein Kuchen, ein Luftballon und ein gemeinsames Spiel ihn ausreichend entzücken. Vielleicht sollten wir an seinem Ehrentag auch tanzen? Er liebt Musik und tanzt unwahrscheinlich gern. „Er kann doch aber nicht Nichts zum Geburtstag bekommen!“, sind Sascha und ich uns einig. „Seine Schwester würde es ungerecht finden, wenn er nichts zum Geburtstag bekommen würde.“ Und wahrscheinlich hätten wir ein schlechtes Gewissen, wenn er an seinem 4. Geburtstag ohne Geschenk da stehen würde. Sicherlich gibt es genügend pädagogisch wertvolles Spielzeug, mit dem er besser sprechen lernen könnte, seine Motorik verfeinern könnte, das seine Sinne anregt. „Aber das wäre dann ein Spielzeug, das Spiel- und Förderung kombiniert und damit einseitig pädagogisch. Damit fühle ich mich nicht gut. Das wäre kein Wunsch von ihm. Er soll nichts bekommen, womit ihm indirekt signalisiert wird, sich schneller oder besser zu entwickeln, das sagt „Du bist nicht o.k. so wie du bist.“, sage ich.

Was wünscht ER sich? Kuchen, Eis, Schokolade. Vermutlich. Deshalb durfte er bisher an Feiertagen immer grenzenlos zuschlagen. Deshalb hatte er sich an seinem dritten Geburtstag, letztes Ostern und an Weihnachten auch übergeben. Also keine gute Idee.

Warum ist es eigentlich so schwer zu akzeptieren, dass ein Mensch wunschlos glücklich ist? Das kann nicht sein. Auf irgendeinen RICHTIGEN Wunsch von ihm werden wir uns bis nächste Woche schon einigen.

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Lass Mich Mal Machen

„Schön, dass du voll Bescheid weißt, was für mich das Beste ist! […] Wenn ich ehrlich bin, stresst es mich. […] Du meinst, Noten verteilen zu müssen obwohl ich drauf scheiße. […] Dein Edukationismus kann mich am Arsch lecken. Ich toleriere Fehler nicht nur, sondern feier sie. […]“ *Sookee

Lass Mich Mal Machen

 

Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Sauerstoffmangel

Zwei Tage nach seinem dritten Geburtstag wacht Anatol weinend auf. Er ist kreidebleich und super schlapp, beim Atmen rasselt es aus der Brust. Der Kinderarzt schickte uns gleich in die Klinik mit dem Befund: Sauerstoffmangel im Blut und Verdacht auf Lungenentzündung. Der Verdacht bestätigte sich und nun wird ihm seit Montag künstlich Sauerstoff gegeben.
Am Montag war ich fix und alle. Ich bin selbst noch nicht fit und der Sauerstoffmangel ängstigte mich doch ziemlich. Das wurde das erste Mal festgestellt.

Woran merkt man das denn, fragte ich die Ärztin unsicher? Kann es sein, dass er schon oft Sauerstoffmangel hatte ohne, dass wir es bemerkten? Denn auch am Montagmorgen ging ich nur zum Kinderarzt, weil ich eine Bronchitis vermutete. Einen Sauerstoffmangel sah ich dem Jungen jedenfalls nicht an. Sie beruhigte mich. Zum einen gebe es wohl viele Menschen, die aufgrund eines Herzfehlers ihr Leben lang mit einem sehr geringen Sauerstoffgehalt im Blut auskommen. Zum anderen würde ich es ganz sicher sehen, wenn unser Sohn einen lebensbedrohlichen Sauerstoffmangel hätte, denn dann würde sich seine Haut (insbesondere um den Mund herum) blau färben.

Nun liegen wir hier. Das erste Mal im KH wegen etwas Ernstem. Vom Kind gehen drei Schläuche aus: Sauerstoff in die Nase, Infusion in den linken Arm (Glucose/Natriumchlorid und 3x tägl. Antibiotikum) und der Sensorschlauch am Fuß, der die Sauerstoffsättigung anzeigt. Der kleine Racker hat also seit drei Tagen einen Bewegungsspielraum von ca. 2 Quadratmetern. Armes Würmchen. Wir gucken Bücher, Puzzleln, werfen Kuscheltiere, schreiben SMS an Papa und manchmal gucken wir TV.

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Das Geburtstagskind

Heute ist nicht nur Welt-Down-Syndrom-Tag, sondern auch der 3. Geburtstag von Anatol. Leider habe ich eine Monstergrippe plus Bindehautentzündung. Den Kindergeburtstag mit den kleinen Gästen musste ich deshalb absagen und auf nächste Woche verschieben. Nicht mal richtig Knutschen war drin ;-(

Muss alles nachgeholt werden.

Nur ein kleines Tänzchen zur Lieblingsmusik des kleinen Menschen war möglich.

Anatol