Das Dilemma der Inklusion unter den Fittichen der Sonderpädagogik

Die Inklusion in der allgemeinen Schule wird derzeit wie selbstverständlich an sonderpädagogische Förderung geknüpft, für die spezielle sonderpädagogische Kompetenzen als unverzichtbar gelten, die wiederum an die sonderpädagogische Ausbildung gebunden werden. Über 80 % der derzeit in der allgemeinen Schule beschulten Kinder mit so behaupteten sonderpädagogischem Förderbedarf sind übrigens nicht die klassischen Rollstuhlfahrer oder Kinder mit Trisomie 21, sondern Schülerinnen und Schüler, die auf Grundlage sonderpädagogischer Diagnostik als Behinderte in den Bereichen Lernen, Verhalten und/oder Sprache gelten. Die Zahl der Kinder, die als „behindert“ im Bereich Verhalten eingestuft werden, hat sich seit 1999 sogar mehr als verdoppelt, womit auch die Sonderschullehrerausbildung unter dem Anspruch der Inklusion massiv ausgebaut wurde und weiter wird.
Nach Auffassung der Sonderpädagogik kann Inklusion von Behinderten im deutschen Schulsystem erst dann verwirklicht werden, wenn Sonderschullehrkräfte in allen Schulformen und -stufen der allgemeinen Schule flächendeckend verankert und für die direkte und indirekte sonderpädagogische Förderung aller Kinder zuständig geworden sind.

Ein kurzer Rückblick in die Zeit, in der sich die Heil- bzw. Sonderpädagogik als eigene Disziplin in Abgrenzung zur allgemeinen Pädagogik behauptete, macht deutlich welche Gefahr heute in der „Sonderpädagogisierung“ der Inklusion steckt:

Die Vorstellung der allgemeinen Pädagogik von der Bildsamkeit ALLER Menschen wurde mit der Gründung des Hilfsschulverbandes am 12. April 1898 auf institutioneller Ebene in Frage gestellt. Zu dieser Zeit setzte sich die Auffassung durch, es gäbe Bildungsfähige, Noch-Bildungsfähige und Bildungsunfähige, die institutionell geteilt und unterschiedlich unterrichtet bzw. behandelt werden sollten. Das international einzigartige spezielle Hilfs- bzw. Sonderschulwesen mit seinen „professionellen Zuständigkeiten“ bildete sich in Deutschland heraus. Den Normalen, die als Bildungsfähig galten, wurden die Anormalen gegenüber gestellt, die nur durch Sondererziehung in einer auf ihre spezielle Anomalie zugeschnittenen Schule optimal gefördert werden konnten. Inzwischen ist in der Sonderpädagogik, so Dagmar Hänsel in ihrem Buch „Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus“ statt von Anormalen und Normalen von Behinderten und Nichtbehinderten die Rede. Weiter heißt es bei Hänsel: „Den unter den Bedingungen ihrer Sondererziehung in der Sonderschule als noch bildungsfähig bestimmten Schwachsinnigen…wurden die Blödsinnigen gegenübergestellt, die als Bildungsunfähig behauptet wurden. Die Blödsinnigen gehörten nach dieser bestimmung nicht in eine Sonderschule, sondern in die Idiotenanstalt, in der sie der Pflege und der Dressur, nicht des Unterrichts und der Erziehung bedurften. Während die Schwachsinnigen, allerdings nur unter der Bedingung ihrer Sondererziehung in der Sonderschule, für die Gesellschaft ökonomisch und sozial noch brauchbar gemacht werden konnten, galt das für die Blödsinnigen in den Idiotenanstalten nicht.“

Mit diesem Konzept entwickelte sich ein (Sonder-) Schulsystem im Schulsystem, das seine Schülerschaft aus der allgemeinen Schule negativ rekrutiert(e) und das seitdem eine strikte Trennung von allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik sowie allgemeiner Lehrerausbildung und sonderpädagagogischer Lehrerausbildung zur Folge hatte. Schließlich war besagter Hilfsschulverband (heute der Verband Sonderpädagogik), der gegen Proteste von Volksschullehrern und Eltern forderte, dass der Eintritt in die Hilfsschule nicht dem Elternwillen überlassen werden dürfe, sondern gesetzlich geregelt werden müsse. Der Sonderschulzwang folgte, der erst vor wenigen Jahren aufgehoben wurde. In ihrem Buch zeigt Hänsel auch die aktive Rolle des Hilfschulverbandes im Nationalsozialismus. Der Verband gab seine ungeteilte Zustimmung zu der rassenhygienischen Politik der Nationalsozialisten und kommunizierte seine Positionen verbandsöffentlich. In Denkschriften der „Reichsfachschaft Sonderschulen“ wurde die besondere Aufgabe und Unentbehrlichkeit der Hilfsschule als „bestes Sammelbecken“ für die wirkungsvolle Umsetzung der Rassenpolitik herausgestellt.

Ab 1922 etablierte der Münchener Hilfschullehrer Rupert Egenberger mit der Gründung der „Gesellschaft für Heilpädagogik“ zusätzlich die Heilpädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Egenberger vertrat die Auffassung, dass ein Fünftel aller Kinder Psychopathen seien, um daraus mit rassenhygienischen Argumenten die Notwendigkeit heilpädagogischer Forschung und Ausbildung abzuleiten. Zur Gruppe der „Degenerierten“ rechnete Egenberger die körperlich, geistig und sittlich Unfähigen, die Schwachsinnigen und geistig Trägen, die Asozialen, Rechtsbrecher, Kriminellen und Hochverräter sowie die Neurotiker und Geisteskranken. Dies sei eine „Lebensfrage für das deutsche Volk“, deshalb seien „Erkennen und Behandeln“ und damit die Einrichtung heilpädagogischer Forschungs- und Ausbildungsstätten erforderlich. Das Erkennen von menschlichen Mängeln und Fehlern, von Abwegigkeiten und Anomalien, sollte ein wesentlicher Grundbaustein der Diagnostik sein.

Zurecht fragt Dr. Brigitte Schuhmann in ihrem Artikel „Neubewertung der sonderpädagogischen Geschichte?“: „Was zeichnet die Sonderpädagogik heute als eigenständige Wissenschaftsdisziplin [eigentlich] aus? Worin besteht ihre sonderpädagogische Kompetenz, die heute für unverzichtbar gehalten wird und die die Politik dazu veranlasst, die Sonderschullehrerbildung massiv auszubauen? Gibt nicht die Sonderpädagogik heute wie die Hilfsschulpädagogik damals vor, die „besonderen“ Kinder mit ihrer Diagnostik trennscharf von den „anderen“ identifizieren zu können, um sich mit ihrer Zuständigkeit für diese Kinder den allgemeinen Pädagogen als Entlastung anzubieten?“

Statt sich zunächst umfassend mit der eigenen Geschichte sowie dem eigenen Verständnis von Pädagogik auseinanderzusetzen, nimmt die Behindertenpädagogik-Branche heute erschreckende, zum Teil profitorientierte, Dimensionen an. Mittlerweile gibt es zahlreiche Heil- und Sonderpädagogen oder auch Therapeuten, die private oder vermeintlich wissenschaftliche Lern- und Förderinstitute gründen, in denen sie mit allen möglichen angeblich kindzentrierten, kreativen, alle Sinne umfassenden und die Neurodiversitätsforschung berücksichtigenden Lerntherapien behaupten, nur so würde das „andersartige“ Kind besser, stressfreier oder richtig lernen (können). Sie alle wollen dem Kind helfen sich besser anpassen zu können, besser teilhaben zu können bzw. eine höhere Zone der Entwicklung erreichen zu können. Sie alle haben spezielle „Programme“ entwickelt mit denen sie genau das erreichen und damit vielen unsicheren Eltern eine oft trügerische Hoffnung auf ein schlaueres, „normaleres“ Kind geben wollen.

Dass die Anerkennung von Neurodiversität und Anderssein die Grundlage dieser pädagogischen „Programme“ sein soll, ist schlicht absurd. Neuere Forschungsergebnisse werden lediglich dazu missbraucht, um (z.B. „für den jeweiligen Neurotyp“) eine noch passendere, effektivere Lernmethode zu entwickeln, um die Kinder einer bestimmten Norm anzupassen oder ihr näher zu bringen. Die gesamte Behindertenpädagogik und was sich daraus bis heute entwickelt hat, bleibt defizit- und damit normorientiert. Und da derzeit die Inklusion fast ausschließlich in den Händen der Sonderpädagogik ist, gibt es kaum Grund zur Hoffnung auf Veränderung. Der einzige, mir derzeit bekannte, pädagogische Ansatz für gemeinsames Lernen aller Kinder, der offen ist und kein fest gelegtes (Entwicklungs-) Ziel für einzelne Kinder vor Augen hat, stammt – und das ist nicht überraschend – von einem Allgemeinpädagogen und nicht von einem (dafür ausgebildeten) Heil- oder Sonderpädagogen.

In dem Song „Lass mich mal machen“ von Sookee und Form heisst es treffend:

„Yeah schön, dass du so gut bescheid weißt, was für mich das Beste ist!
Und mich das auch gleich wissen lässt, doch wenn ich ehrlich bin, stresst es mich.
Und ehrlich bin ich gern, denn eure dummen Sarkasmusspielchen
sind voll die Energieverschwendung, keine Umschweife,
weil ich auch gern real bin.
Du hast auch keinen Vorsprung, du druckst nur Mitgliedsausweise
und meinst Noten verteilen zu müssen, obwohl ich drauf scheiße.
Ich bin hier nicht für dich, doch muss das immer wieder klarstellen.
Dein Edukationismus kann mich am Arsch lecken.
Ich toleriere Fehler nicht nur, sondern feier sie.
Solang man das nicht mit Absicht macht oder löscht, damit es danach keiner sieht.
Ich mach das nicht für den Kanon, um von dir einen Stempel zu bekommen.
Ich hab auch schon alles falsch gemacht, doch am Ende viel Gelände gewonnen.
Denn nur so kann ich mich verbessern, mauer mich nicht ein und lern dazu.
Du siehst, es unterschätzt mich, ich bin Gutmensch somit verletzlich.
Macht aber nix, wähn dich ruhig über mir,
wenn du mich auscheckst.
Ich geb dir Uppercutstyle bis du dumm schaust, Depp“.

 

Quellen:
Hänsel, D. (2014): Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, Verlag: Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn

Schuhmann, B. (2014): Neubewertung der sonderpädagogischen Geschichte, URL: https://bildungsklick.de/schule/meldung/neubewertung-der-sonderpaedagogischen-geschichte/ [Zugriff: 11.08.2017]

Reich, K. (2014): Inklusive Didaktik, Beltz Verlag, Weinheim und Basel

Das Relativieren von Grund- und Menschenrechten und die Angst vor dem Verlust von Privilegien

Jedes Jahr am 8. Mai gehe ich zum Alsterdorfer Gedenken an die Opfer der Euthanasie im deutschen Nationalsozialismus. Dort stellen jedes Jahr SchülerInnen der Fachschule für Heilerziehung Lebensgeschichten von Menschen vor, die aufgrund einer psychischen, geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung in den Alsterdorfer Anstalten leben mussten und dann wie weitere 700000 Menschen mit Behinderung in Deutschland Opfer einer systematischen Ermordung „lebensunwerten Lebens“ wurden. Vorauseilender Gehorsam hatte die Ärzte und Schwestern der evangelischen Behindertenanstalt sogar noch vor dem offiziellen Start der Aktion T4 dazu veranlasst, die jüdischen Bewohner für Probevergasungen „zur Verfügung zu stellen“. Bei der diesjährigen Gedenkveranstaltung trat auch die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano mit ihrer Hip-Hop-Combo Microphone Mafia auf.

Jedes Jahr am 8. Mai heule ich den ganzen Tag, weil er mir nicht nur die Schrecken des Nationalsozialismus vor Augen führt, sondern auch, dass uns unser Sohn mit Trisomie 21 vor 75 Jahren weggenommen worden und umgebracht worden wäre. Jedes Jahr denke ich, dass ich an diesem Tag nicht weinen werde, weil ich mich ja bereits genug damit auseinandergesetzt und genug darüber ausgeheult habe. Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Dieser Tag ist immer aufs Neue sehr anstrengend aber auch sehr wichtig für mich.

In diesem Jahr begann der 8. Mai damit, dass ich auf Twitter einen link empfohlen bekam, ein Interview mit Renate Lasker-Harpprecht. Auch sie überlebte wie Esther Bejerano den Holocaust nur, weil sie im Orchester in Auschwitz spielte und so der gefürchteten Selektion im Lager entkam. In diesem sehr lesenswerten Interview sagt sie, dass sie nach dem Krieg wenig über das gesprochen hat, was sie in Auschwitz erlebt hat. Auf die Frage warum sie wenig mit Deutschen darüber reden konnte, antwortet sie:

„Die Deutschen tun etwas, was mir auf die Nerven geht: Sie fangen sofort an, von ihrem eigenen schrecklichen Schicksal im Krieg zu erzählen. Wie sie ausgebombt wurden.“

Das Berauben der Menschenwürde, das Ausgrenzen, das Experimentieren am lebendigen Leibe, das Foltern und Quälen, das gezielte Töten von Menschen wurde (und wird) immer wieder relativiert mit dem Hinweis darauf, dass man selbst ja auch sein Hab und Gut verloren hatte oder, dass ja auch das deutsche Volk leiden musste.

Und immer wieder dieses Relativieren

Momentan sind Gauland, Putin, Erdogan und Trump Spezialisten dieser Ja-wir-verstoßen-gegen-die Menschenrechte-aber-was-ihr-tut-ist-viel-schlimmer – Rhetorik. Immer wieder werden Verstöße gegen Menschenrechte mit dem Hinweis auf die selbst erlebte Ungerechtigkeit und Gewalt gerechtfertigt und/oder relativiert. Immer wieder macht es mich sprachlos und traurig.

Auch die Debatte um Inklusion ist zum Großteil davon geprägt. Sobald ein Mensch mit Behinderung das Recht auf Teilhabe und die dafür notwendige Ausstattung fordert, kontern neun andere Menschen, dass ja auch ihre eigenen Lebensbedingungen nicht so gut sind und verbessert werden müssten.

Menschen mit Behinderungen müssen um das Recht auf Teilhabe kämpfen, das andere jeden Tag selbstverständlich genießen dürfen.

Grund- und Menschenrechte sind elementar während die Verbesserung von Bedingungen ein Privileg ist.

Am 8. Mai heule ich jedes Jahr meine Verzweiflung darüber heraus. Die restlichen 364 Tage versuche ich drüber zu stehen, weiter zu leben und zu kämpfen. Für unseren Sohn und all die anderen.

Geburtstage, Frühlingsstimmung und zwischendrin der Kampf gegen die Beratung in Sondersysteme

Wow, der März ist immer so voll. Erst mein 38. Geburtstag. Dann ist der kleine Professor am 21. März schon fünf Jahre alt geworden. Zwischendurch musste ich mit Dr. Wistuba, dem Leiter des Jugendpsychiatrischen Dienstes im Bezirksamt Eimsbüttel, so sehr streiten, dass ich noch immer überlege, ob ich mich schriftlich und umfangreich über ihn an höherer Stelle beschwere. Anatol und ich waren dort nur, um seinen Kita-Gutschein und die damit verbundene Eingliederungshilfe verlängert zu bekommen. Darum ging es für Dr. Wistuba bei unserem Termin aber gar nicht. Vielmehr versuchte er auf unverschämte und arrogante Weise mich davon zu überzeugen, dass wir Anatol in einem Jahr auf der Sonderschule anmelden und auf keinen Fall im Regelschulsystem. Anatols motorische Stärken seien ja im Vergleich zu seinen erheblichen kognitiven Einschränkungen letztendlich und in der leistungsorientierten Gesellschaft sowieso völlig irrelevant. Wir möchten doch nicht etwa auch, dass unser Sohn dann ständig weinend auf dem Schulhof steht?

Noch immer werde ich ganz wütend wenn ich an dieses Gespräch denke.

Und ansonsten sind wir Stubenhocker endlich wieder mehr draußen, weil Sonne und Wärme und hach Frühling. Endlich.

„Das Risiko nichtbehinderte Eltern zu bekommen“ – Ein Abend mit Udo Sierck

Am 28. September 2016 war Udo Sierck zu Gast im Elternverein Leben mit Behinderung Hamburg. Udo Sierck hat mich immer beeindruckt. Von den vielen Büchern zum Thema Inklusion, Behinderung und Entwicklung, die ich nach der Geburt unseres Sohnes mit Trisomie 21 gelesen hatte, hätte ich mir unzählige sparen können, wenn ich früher auf „Sie nennen es Fürsorge“, „Die Wohltäter-Mafia“, „Budenzauber Inklusion“ oder „Dilemma Dankbarkeit“ von Udo Sierck gestoßen wäre.

In seinem Einstiegsreferat sprach Sierck über das Dilemma Dankbarkeit für viele Behinderte, mit dem er sich in seinem jüngsten Buch ausführlich auseinandergesetzt hatte. Er meint hiermit die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Dankbarkeit kann laut Sierck dazu führen, dass jemand seine tatsächlichen Bedürfnisse zurückstellt, um seinem Gönner zu gefallen. Die Erziehung zur Dankbarkeit führt zu einem Verhalten der Loyalität gegenüber der Autorität, das jede Ungerechtigkeit und jeden Übergriff hinnimmt. Im Verhältnis zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen birgt das eine noch immer zu wenig beachtete Brisanz. Und dieses Dilemma beginnt in der Beziehung zu den Eltern, führte Sierck diesen Aspekt aus. Wenn einem Behinderten z.B. von der Mutter oder von Geschwistern immer wieder verdeutlicht wird, dass diese sich „aufopfern“ für das Wohl des behinderten Angehörigen oder seinetwegen „zurückstecken müssen“, kann man lebenslang eine bremsende Demut entwickeln, nicht nur gegenüber den Angehörigen, sondern gegenüber dem gesamten Lebensumfeld. Sierck ist davon überzeugt, dass dieser Gedanke in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist: Wer nimmt oder bekommt, muss auch geben. Und wenn behinderte Personen nichts geben können, sollen sie wenigstens mit Dankbarkeit aufwarten. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die wachsenden sozialen und beruflichen Anforderungen. Viele Menschen suchen nach Ratgebern, um diesen Ängsten zu begegnen. Die Suche nach dem Selbst beginnt, als ein Mittel gilt die Orientierung zur Dankbarkeit. Die Versuche zur Optimierung des Ichs rücken in den Mittelpunkt, die Lebensverhältnisse bleiben außen vor, es wird nur eine egozentrierte Perspektive propagiert. „Bei dieser Tendenz zur Individualisierung bleibt letztlich die soziale Verantwortung auf der Strecke“. Mit diesem realen und pessimistisch-traurigen Gedanken endet Sierck seine Ausführungen.

Eine rege Elterndiskussion folgte. Der Tenor war der immer wiederkehrende Konflikt der Eltern, an welchen Stellen sie in die Selbstbestimmung ihrer oft verhaltensauffälligen Kinder eingreifen dürfen, können oder sogar müssen. Um das Kind vor den Aggressionen und der Ablehnung der Gesellschaft zu bewahren, versuchen viele Eltern, das Kind so weit es geht zu normalisieren. Viele Eltern sind auch davon erschöpft, immer wieder aufzufallen.

Udo Sierck reagiert mit dem Hinweis, dass man in die Natur des Menschen oft nicht eingreifen kann. Viele Verhaltensauffälligkeiten sind für behinderte Menschen selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds stecken, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte. Der Kommentar im Publikum, dass viele Eltern mit der ständigen Aufklärung des Umfelds überfordert sind, ließ den Wunsch aufkommen, hierin von Elternvereinen zukünftig mehr gestärkt zu werden.

„Aber ich habe ständig Angst, dass mein Kind woanders nicht gut aufgehoben ist und eben nicht so gewertschätzt wird wie von mir und unserer Familie.“, wurde angemerkt.

Sierck antwortet entschlossen, dass ein Kind Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um selbstständig aktiv zu werden und nach Lösungen zu suchen. Solche negativen Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.

„Aber mein Kind ist nicht so fit wie Sie Herr Sierck. Mein Kind ist schwer mehrfach behindert und hat eine geistige Behinderung.“, kam aus dem Publikum.

Es ginge nicht um eine Diskussion um Grenzen oder einer stufenartigen Einteilung von fit-Sein, so Sierck sinngemäß. Es geht immer um einen einzelnen Menschen und wie diesem individuellen Menschen größtmögliche Autonomie ermöglicht werden kann. Hier muss man manchmal sehr kreativ werden, um die Bedürfnisse eines Menschen herauszubekommen und zu verstehen.

Dann ging der Abend zu ende und beschäftigte mich noch lange. Uns Eltern scheint es enorm schwer zu fallen, uns von unserem behinderten Kind zu lösen, es in Ruhe zu lassen, es von Erwartungen und Druck zu befreien und in seinem Anders-Sein zu lieben wie es ist. Immer wieder war die Rede von „erzieherischen Bemühungen“, „alles für die positive Entwicklung des Kindes zu tun“ oder es „umfassend zu fördern“. Und ich hatte das Gefühl, dass wir Eltern im Publikum doch nicht verstanden hatten, worum es Sierck ging: eben darum, nicht auf das Kind einzuwirken und es nicht zu formen oder normalisieren zu wollen, sondern die Fäden durch zu trennen, sich zurück zu nehmen, los zu lassen, zuzulassen und auszuhalten. Das Kind sein lassen wie es ist und seinen Weg gehen zu lassen. Kein Wunder, dass die von Sierck mitbegründete Krüppelbewegung in den 80er Jahren u.a. die Eltern als ihre Feinde deklariert hatte.

24 Wochen – Eine Filmkritik

Am 24. September wurde der Film „24 Wochen“ von Anne Zohra Becharreds im ausverkauften Kino Abaton in Hamburg gezeigt. Der Film wurde von einer Jury der deutschen Programmkinos und Filmkunsttheater mit dem Gilde-Filmpreis als bester Wettbewerbsbeitrag der Berlinale ausgezeichnet. Anne Zohra Becharreds bekam zudem für ihren viel gelobten Film, der das Thema Spätabtreibung behandelt, den Studio Hamburg Preis in der Kategorie Beste Regie. In „24 Wochen“ ist die Kabarettistin Astrid mit ihrem Manager Markus liiert. Beide haben zusammen ein Kind, die neunjährige Nele. Als Astrid mit ihrem zweiten Kind im sechsten Monat schwanger ist, erfährt das Paar bei einer Routineuntersuchung, dass ihr ungeborenes Kind mit dem Down-Syndrom und einem schweren Herzfehler zur Welt kommen wird. Das Paar muss entscheiden, ob das Kind zur Welt gebracht oder eine Spätabtreibung eingeleitet werden soll. Nach vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen entscheidet sich Astrid dafür, das Kind im sechsten Monat abzutreiben. Anschließend geht sie mit dieser Entscheidung an die Öffentlichkeit.

Der Film zielt darauf, den Zuschauer mit einem riesigen Kloß im Hals zurück zu lassen. Spätestens wenn der gerade getötete Fötus nach der Geburt zum Abschied auf die Brust der Mutter gelegt wird, ist der Punkt der Unerträglichkeit erreicht. Auch unerträglich ist, dass „24 Wochen“ auf die Abweichung vom perfekten Kind als etwas Schrecklichem fokussiert und die furchtbare Zerrissenheit der Frau musik- und filmästhetisch zusätzlich stark dramatisiert. Herzfehler sind eine der häufigsten Organfehlbildungen bei Neugeborenen. Es gibt weder eine Garantie noch ein Recht auf ein gesundes Kind. Aber es geht in „24 Wochen“ nicht um eins von vielen Föten mit einem Herzfehler (denn das ist ja kein wirklicher Abtreibungsgrund). Die Melodramatik dieses Films setzt hier noch eine vermeintlich grausame Trisomie 21 drauf. Lukas Stern schreibt in seiner Kritik zum Film: „Wäre der Film wenigstens so hübsch nüchtern, anonym und neutral wie die Begrüßungsfloskeln von Allgemeinärzten zur Routineuntersuchung.“

Fabian Wallmeier nennt den Film „Pädagogik statt Filmkunst“ und ist sogar der Ansicht, dass „24 Wochen“ eben nicht – wie suggeriert – die Antwort auf die Frage ‚Abtreibung oder nicht?‘ offen lässt: „Bis ins kleinste, oftmals schmerzliche Detail dekliniert der Film die sozialen, rechtlichen und vor allem medizinischen Komponenten durch. Echte Ärzte und andere Experten treten auf, erklären zum Beispiel, dass bei einer Spätabtreibung zunächst dem ungeborenen Kind eine Spritze verabreicht wird und dann die Wehen eingeleitet werden. Die Ambivalenz, die durch die Ansammlung von Wissen aus allen Richtungen und durch die harten Diskussionen zwischen Astrid und Markus erzeugt werden soll, bleibt letztlich bloße Behauptung. Denn letztlich liefert der Film die Antwort auf die moralischen Fragen unmissverständlich mit: Ja, Spätabtreibung ist in einem solchen Fall in Ordnung und die Mutter allein hat darüber zu entscheiden.“

Der Film-Vater, Markus, steht mit seiner Haltung für das Leben des noch ungeborenen Kindes seiner zweifelnden Frau sehr hilflos gegenüber. Wie geht man damit um, wenn sich die Partnerin gegen ein gemeinsames Kind entscheidet, weil es nicht gesund sein wird? Was bedeutet das für die weitere Beziehung, wenn sie sagt, sie hätte „dafür“ keine Kraft? Was, wenn man morgen selbst – durch einen Unfall – auf mehr Zeit und Pflege angewiesen sein wird, hat sie dann auch dafür keine Kraft? Und was bedeutet überhaupt die Annahme, für etwas angeblich keine Kraft zu haben?

Kirsten Achtelik hatte schon in ihrem Buch „Selbstbestimmte Norm“ darauf hingewiesen, welche entlastende Wirkung Nichtwissen in der Schwangerschaft hat: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Achtelik macht den Vorschlag, dass schon vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden sollte, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen.

Für viele Menschen mit Trisomie 21 und ihre Eltern ist dieser Film paralysierend. Die eigenen Perfektionserwartungen von Astrid bringen sie in „24 Wochen“ dazu, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen und in letzter Konsequenz das unperfekte zu töten. Hier wird der Weg, den 9 von 10 Schwangeren nach der Diagnose Trisomie 21 in Deutschland gehen und damit die eugenische Auswirkung, die diese vielen Einzelentscheidungen auf die Gesellschaft haben, legitimiert. Im Wunsch der Mutter, ein Problem aus der Welt zu schaffen, blendet der Film jedoch nicht nur die Folgen des gewalttätigen Alleingangs von Astrid für ihre Beziehung zu Markus aus, sondern auch die psychologischen Folgen für sie, Markus und Tochter Nele. Schließlich bestätigt der Film das Schreckgespenst Down Syndrom und versucht auch noch die Selektion mit viel Tragik „verstehbar“ machen und rechtfertigen zu wollen.

Vielfalt als Last oder das asoziale Bildungsbürgertum

Die meisten Eltern tun alles, damit ihre Kinder gut gebildet sind. Viele wollen auch, dass ihr Nachwuchs in Zukunft selbstbewusst und zielstrebig der Konkurrenz standhalten kann und vermitteln damit mehr oder weniger unbewusst ein für sie heute ganz natürlich gewordenes Wettbewerbsdenken. Oliver Nachtwey forscht derzeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung zu Arbeit, Ungleichheit und Demokratie und sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“

Genau das erlebe auch ich in meinem Umfeld quasi täglich: eine Freundin konnte z.B. kaum glauben, dass es heute immer noch Schulen gibt, die unseren Sohn mit Trisomie 21 nicht beschulen möchten. Gleichzeitig beschwert sie sich darüber, dass ein Kind mit Behinderung aus der Nachbarschaft an der von ihr ebenfalls angewählten (integrativen) Wunschschule aufgenommen wurde während ihre eigene Tochter nur die Zweitwunschschule besuchen darf. Es sei total ungerecht, dass das behinderte Kind bevorteilt wurde. Dass dieses Kind gar keine andere Wahl hatte, sieht sie nicht. Ein anderer Freund beschwerte sich neulich, dass ausgerechnet in der Klasse seines Sohnes ein „verhaltensauffälliges“ Kind sei. Dass sein eigener Sohn große Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Kindern hat, sei ja etwas ganz anderes. Meine Cousine, Geschichts- und Englischlehrerin, derzeit Referendarin in einem Gymnasium, sagte neulich zu mir: Man müsse mindestens drei behinderte Kinder haben, um als Referendarin in der gewünschten Schule zu landen. Als normaler Mensch hat man jeden Morgen einen einstündigen Anfahrtsweg zur zugewiesenen Schule. Das sei nicht gerecht. Dass Mütter von behinderten Kindern jede Menge zusätzliche Wege haben, sieht sie nicht. Und auch im Bündnis für Inklusion kommen immer wieder Diskussionen darüber auf, ob Inklusion denn überhaupt Sinn macht, denn „Was können nichtbehinderte Kinder denn schon von behinderten Kindern lernen?“. Oder anders ausgedrückt: Was können die denn mehr als Stören? Und erst letzte Woche schickte mir eine befreundete Sport- und Geschichtslehrerin ein Video, in dem bei einem Laufwettkampf mehrere Kinder mit Down Syndrom Hand in Hand gemeinsam durch die Ziellinie liefen. Sie fand das total rührend. Ist es auch. Aber für die meisten gehen solche Videos über einen inspiration porn nicht hinaus.

All diese meine Bekannten und Verwandten betonen immer wieder die Selbstverständlichkeit von Inklusion. Einige sprechen sogar laut und überzeugt mir gegenüber davon, dass behinderte Kinder in der Klasse die sozialen Kompetenzen der MitschülerInnen fördern würden. Dass für sie Inklusion aber doch nicht so selbstverständlich ist, wird mir schon darin deutlich, dass sie immer wieder „Bewunderung“ dafür äußern, wie ich „das alles“ mit einem behinderten Kind so schaffe. Viele haben wenig Vorstellung von der Realität des Alltags mit einem behinderten Kind. Im Alltag kann ich sehr viel selbst organisieren, beeinflussen, „schaffen“. Ich kann mein eigenes Leben und meine Rolle als Mutter selbst reflektieren, ändern und meine eigenen Momente der Entspannung finden.
Womit ich mich jedoch absolut hilflos fühle, ist die z.T. versteckte, z.T. aber auch explizite Ablehnung von Kinder mit Behinderung in unserem Bildungssystem.

Wenn die Hamburger Stadtteilschulleiter in ihrem Positionspapier von der Vielfalt als Last sprechen, also von Inklusion als große „Bürde“, dann fühle ich mich – selbst unter links-grün-liberalen Intellektuellen – einem System ausgeliefert, in dem überall großartig von Vielfalt als Reichtum gesprochen wird, aber, das in Wirklichkeit riesengroße Berührungsängste hat. Dort heisst es: „Den STS-SchülerInnen […] werden die größten Herausforderungen unserer Zeit aufgebürdet […]. Sie sollen dafür sorgen, dass auch SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf und zugewanderte SchülerInnen integriert werden.“.  Auch wenn Eltern von mir wissen wollen, wie unser Sohn denn nun konkret das Lerngeschehen der Klasse bereichern kann, dann fühle ich mich sehr hilflos, weil ich mit einer Frage konfrontiert werde, die ich nicht beantworten will, weil sie im Kern für mich absolut asozial ist. Verweise auf die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Recht auf Bildung und Teilhabe scheinen mir für das Gegenüber in solchen Momenten völlig irrelevant solange die eigene Tochter oder der eigene Sohn nicht am Lernerfolg gehindert werden. Die meisten bildungspolitischen Aktivisten dieser Stadt sind davon überzeugt, dass man die Möglichkeiten der leistungsstarken und leistungsorientierten SchülerInnen an den Stadtteilschulen verbessern muss. Diese würden dann die angespannte Situation in den Gemeinschaftsschulen entspannen, meinen sie. Ich denke dagegen, dass sich damit die STS-Leiter und ihre LehrerInnen noch mehr (Leistungs-) Druck aussetzen. Entspannen würde die Gemeinschaftsschulen stattdessen ein ganz anderer Ansatz von Bildung, von handlungsorientiertem und sozialem Lernen, von Gemeinschaft, Wertschätzung von Andersartigkeit und Solidarität.

Auch bei Eltern von Kindern mit Trisomie 21 ist diese Lebenslüge verbreitet: das Geschwisterkind sollte möglichst auf das Gymnasium gehen. Man will ja schließlich zeigen, dass man zum weltoffenen Bildungsbürgertum gehört und das geht eben nur mit Abitur und Auslandsaufenthalt. Gleichzeitig wünschen sie sich für ihr Kind mit Trisomie 21 die Gemeinschaftsschule – möglichst mit vielen ruhigen und sozial kompetenten SchülerInnen mit einer Gymnasialempfehlung, also möglichst keine STS in einem sozialen Brennpunkt. Denn sie können ja nichts für die Beeinträchtigung ihres Kindes während die Eltern dieser Kinder dort sich ihre Misere ja schließlich selbst eingebrockt hätten. Sie predigen täglich Vielfalt und Chancengerechtigkeit zum Wohle ihres Kindes mit Behinderung. Aber der Schüler, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist oder die traumatisierte Schülerin seien ihnen völlig fremd und machen Angst. Irgendwo sollten die unbedingt integriert werden, ihren Platz bekommen und gefördert werden. Aber das müsse ja nicht unbedingt in der Klasse ihres behinderten Sohnes sein. Sie hätten schon genug Probleme.

Ich liebe meine Kinder. Sie sind wundervoll. Und ich habe manchmal große Angst vor der Zukunft.

Inklusion stellt die Machtfrage

Seit November 2015 formiert sich eine neue „Krüppelbewegung“ in Deutschland, meinte kürzlich Andreas Vega in dem Artikel Aufstand der Behinderten.
Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein.

Die Kritik an der derzeitigen Politik wird tatsächlich immer schärfer. Matthias Vernaldi, seit Jahrzehnten großer Berliner Behinderten-Aktivist, sieht das lange Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt: „Vielleicht sollten wir weniger freundlich sein. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politikern sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.“

Selbst Raúl Krauthausen vom Berliner Verein „Sozialhelden“ wird deutlicher: „Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen. […] Inklusion stellt die Machtfrage. Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand.“

Auf die Frage, was eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt bewirken kann, antwortete Vernaldi:
„Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch: Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien. […] Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt: die Krüppel bloggen zwar mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; aber die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut. […] Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons.“

Kein Musterkruppelchen

Die Angst überwinden

Letzte Woche war in Anatols Kita eine Gruppenübernachtung geplant. Da er mittlerweile seit zweieinhalb Jahren in dieser Kita ist, hatte er schon zwei oder drei Übernachtungen problemlos mitgemacht. Ich bin auch keine besonders ängstliche Mutter und freue mich immer eher, wenn die Kinder mal nicht da sind.
Diesmal war es etwas anders.

Denn die Gruppe hatte sich entschieden vor der Übernachtung in die XXL-Spielestadt zu gehen. Das ist ein Spiele-Kletter-Gelände, in dem die Kinder nach zwei Stunden so k.o. getobt sind, dass sie nur noch ins Bett fallen und sofort schlafen. Ich persönlich habe solche riesigen Indoor-Spielplätze mit den Kindern bisher erfolgreich gemieden, weil sie mir einfach zu anstrengend sind.

Jedenfalls versuchte ich Anatol morgens im Auto zu erklären, dass er heute in der Kita übernachtet. Er lächelte und nickte, ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Dann übergab ich ihn mit etwas bebenden Lippen der Erzieherin und sagte, sie solle mich anrufen, wenn er sich zurück zieht, sich anziehen geht und nach Hause will. Sie erwiderte, dass sie ihn in diesem Fall aus der Gruppe nehmen und sich jemand mit ihm hinlegt und ausruht. Dann weinte ich auf dem Weg nach Hause.

Ich schrieb Sascha eine SMS: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Erzieherinnen können die Signale von Anatol noch nicht so gut deuten, wissen nicht, wann es zu viel für ihn ist.“ Er antwortete: „Lass den Erzieherinnen die Möglichkeit diese Signale kennenzulernen, um selbst darauf reagieren zu können.“ Ich weinte noch mehr. Warum hat der Mann nicht diese furchtbare Angst, die ich habe?

Den gesamten Tag ging mir durch den Kopf wie dieser Vierjährige, der die Statur eines Zweijährigen hat und seine Bedürfnisse sprachlich nicht äußern kann, auf einem großen Trambolin sitzt während 5 Kinder wie wild um ihn herum springen, ihn so richtig durchschütteln und er nicht versteht was abgeht. Ich stellte mir vor wie er die Rutschen herunter heizt ohne darauf zu achten, ob jemand vor ihm auf der Rutsche ist, dem er ordentlich in den Nacken stürzt. Ich stellte mir vor, wie er die coolen Kletternetze hoch wurschtelt und dann von ganz oben durch ein Loch nach ganz unten fällt…..

Es war ein schlimmer Tag. Ich verfluchte die Kinder in seiner Gruppe. Konnten sie sich nicht einfach für einen Zoobesuch entscheiden? Ich verfluchte die Erzieher. Sie müssen doch bei einem solchen Ausflugsplan die Schwächsten mit einbeziehen? Ich verfluchte meinen Mann. Warum habe nur ich Sorgen und kann sie mit ihm nicht „teilen“?

Am nächsten Tag holten wir das strahlende Kind aus der Kita ab. Es sei alles bestens verlaufen, Anatol habe riesigen Spaß gehabt.

„Was wir von Menschen mit Down Syndrom lernen können?“

Lili: Letzte Woche hat Niklas in der Schule gesagt, dass Menschen mit Down Syndrom nichts verstehen. Dass sie sogar zu Eltern „Schwester“ sagen.
Ich: Es stimmt, dass Menschen mit Down Syndrom oft länger brauchen, um Sachen zu verstehen und, dass sie sich viel langsamer entwickeln als andere Menschen. Aber das ist nicht so schlimm. Dafür können sie bestimmte Dinge besser als andere. Anatol tröstet z.B. jeden Menschen der traurig ist. Das ist gut und wichtig. Außerdem lacht er sehr viel und ist viel fröhlicher als andere Kinder.
[Mist. Ich ahnte, was jetzt kommt.]
Lili (traurig): Ich kann nichts besser als andere Kinder.
Ich: Doch. Du bist neugierig und stellst viele Fragen. Du bist besonders klug.
[Plötzlich bekam ich Angst, dass ich ihr immer die Rolle der „Klugen“ zuweise und sie damit eventuell total unter Druck setzen könnte.]

Ich ärgere mich über mich selbst. Weder Anatols Dasein muss durch seine Fähigkeit zum Trost oder seine Fröhlichkeit beschrieben oder gerechtfertigt werden, noch das Dasein unserer Tochter durch ihre Klugheit. Spontan argumentiere ich trotzdem oft so. Ich muss das ändern.

Selbst Prof. Zimpel, den ich sehr schätze, betitelt sein aktuelles Buch so „Was können wir von Menschen mit Trisomie 21 lernen?“ Hat er diesen Titel bewusst gewählt, weil er davon ausgeht, dass die Mehrheitsgesellschaft von der selbstverständlichen Teilhabe als Menschenrecht nicht sonderlich zu beeindrucken ist und man in der Leistungsgesellschaft eben besonders betonen müsse, wozu selbst geistig Behinderte nützlich sind? Gibt man sich mit Menschen nur ab, wenn sie in irgend einer Form nützlich für uns sein können? Das Buch von Zimpel ist großartig und ich glaube, dass er eine solche Assoziation mit dem Titel nicht bezweckt hat.

Hm. Trotzdem suche ich eine coole, kindgerechte Reaktion auf das Argument von Grundschülern, dass Menschen mit DS vieles nicht verstehen können? Aber ohne: „Dafür können sie das besser“-Rhetorik.
Any suggestions?

Sprachentwicklung und meine große Verunsicherung

Und wieder habe ich mit der Logopädin diskutiert und dabei diesmal viel geweint. Ich war ganz aufgelöst. Später glaubte ich zu verstehen, warum eigentlich. Sie ist davon überzeugt, dass der Junge eine Eins-zu-Eins-Sprachtherapie braucht. Sie meint, dass er viel mehr redet seitdem sie mit ihm 2x pro Woche 45 Minuten arbeitet. Sie sei mit ihm auf dem richtigen Weg. Von der Arbeit in der Kita-Gruppe mit anderen Kindern zusammen hält sie nicht viel. Ich wollte nochmal mit ihr darüber sprechen.

Ich hatte sie auch um einen Gesprächstermin gebeten, weil Anatol in den letzten Monaten oft Türme der anderen kaputt macht, das Sandkastenspielzeug weg nimmt, auf die Bilder der Anderen krakelt oder eben haut. Er ist nicht extrem aggressiv oder auffällig, aber eben schon oft gemein zu den anderen Kindern. Ich bin unsicher, wie ich mit diesem Verhalten umgehen soll. Außer ein deutliches verbales und gestisches Stopp schlug sie mir im Gespräch vor, noch ein rotes Stopp-Schild zu malen, das man ihm in solchen Situationen vor die Nase hält, um ihm seine Grenzübertretung nochmal visuell sehr deutlich zu machen. Auch schlug sie vor, Kinderbücher zu lesen, die Wut thematisieren oder mit Kuscheltieren kleine Geschichten zu spielen, in denen jemand rempelt oder haut, um damit visuell besonders deutlich zu machen, dass man das nicht tut.

Ich sagte ihr, dass Anatol sehr gut weiß, was gut und böse ist, dass er dies erkennen kann und dann auch selbst mit Ablehnung bzw. Schimpfen reagiert, wenn Andere Grenzen überschreiten. Ich meine, es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Und zwar darum, dass er häufiger als andere Kinder nicht ins gemeinsame Spiel einbezogen wird, weil er motorisch (z.B. beim Fußball), kognitiv (z.B. bei Rollenspielen) und sprachlich (z.B. im Morgenkreis) nicht mit gleichaltrigen Kindern mithalten kann. Sein Verhalten ist somit der ständige Versuch einer Kontaktaufnahme mit den anderen Kindern. Ich vermute sogar, dass bessere sprachliche Ausdrucksfähigkeit diese Situation für ihn als Jungen mit Trisomie 21 kaum ändern würde. Deshalb, so schätze ich es ein, muss er zum einen lernen zu akzeptieren wenn andere nicht mit ihm spielen wollen. (Diese Erfahrung wird er ja noch sehr häufig im Leben machen.) Hier suche ich Strategien, wie er in solchen Situationen sein momentanes Begehren runter fahren kann, um sich allein mit etwas anderem zu beschäftigen. Das ist sehr schwer, weil er ja gerade die soziale Interaktion sucht. Und ich habe hier auch noch keinen Weg gefunden. Zum anderen muss man m.E. stärker mit der Gruppe arbeiten, nicht mit ihm allein. Wie gehen die Kinder in der Gruppe miteinander um? Welche gemeinsamen Spiele werden gespielt? Wie werden schwächere, langsamere Kinder in die gemeinsame Aktivität mit einbezogen? Welche Rolle spielt Sprache in der Kommunikation der Kinder bzw. der Erzieherinnen zu den Kindern? Ich sagte ihr, dass ich davon überzeugt bin, dass Anatol sprechen lernt wenn er sich in der Gruppe angenommen und wohl fühlt, die anderen Kinder ihn ins Spiel mit einbeziehen und direkt mit ihm kommunizieren. Ich sagte ihr, ich vermute, dass er so toll bei ihr die ganzen Sprachübungen mit macht, weil sie so nett zu ihm ist und mit ihm wochenlang zu Beginn die „Beziehungsebene“ aufgebaut hat. Deshalb macht er bei ihr alles gut, deshalb wiederholt er die Worte, die sie spricht und wendet sie auch immer häufiger an. Ich führe das weniger auf die Sprachübungen bzw. die -therapie zurück als vielmehr auf die häufige positive soziale Interaktion zwischen ihr und ihm. Sicherlich ist eine Sprachtherapie in dieser Eins-zu-Eins-Situation auch wichtig und absolut sinnvoll. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Interaktion in der Gemeinschaft für Anatol einen wichtigeren Lernimpuls bietet. Und, dass seine Form sich auszudrücken und anderen verständlich zu machen in alltäglichen Spielsituationen bzw. die Reaktionen der Kinder in seiner Gruppe eigentlich entscheidend für die Entwicklung seiner zukünftigen Kommunikationsstrategien ist.

Sie sieht das anders. Sie meint, dass die Sprachtherapie ihn dorthin geführt hat, wo er jetzt ist. Natürlich kann ich ihr da nicht widersprechen, denn man kann das ja nicht überprüfen. Sie meint auch, dass erst sein Wortschatz ausreichend sein müsse bevor sie mit ihm in die Gruppe gehen könnte. Sie sagte, was ich will sei nicht Sprachtherapie, sondern eher Pädagogik. Darin sei sie aber kein Expertin. Sprachtherapie in Gruppen lehne sie grundsätzlich ab. Das wäre in der Vergangenheit bei ihr nie gut gelaufen. Es sei zu laut und man hätte zu wenig Möglichkeiten, sich auf die sprachlichen Besonderheiten von Anatol zu konzentrieren.

Ich sagte ihr, dass ich mir auch keine „Gruppentherapie“ in dem Sinne vorstelle. Vielmehr wünsche ich mir, dass sie als Sprachtherapeutin Anatol im Kita-Alltag in seiner Gruppe öfter genau beobachtet, dass sie versucht, seine bisherigen Kommunikationsstrategien und die Reaktionen der anderen Kinder zu verstehen. Aus diesen Beobachtungen lassen sich dann eventuell „Kommunikationshilfen“ sowohl für ihn als auch für andere Kinder in der Gruppe bzw. für die Erzieherinnen ableiten. Ich meine, dass es weder nur Pädagogik oder nur Sprachtherapie ist, sondern eine Mischung aus beidem. Und schließlich wurde ich immer verunsicherter, denn ich habe ja auch nur abstrakte Vorstellungen davon und nahm an, sie als Sprachtherapeutin würde eine solche Herangehensweise selbstverständlich kennen. Vielleicht sehe ich das ja auch alles völlig falsch, bin übereifrig oder zu aufgeregt. Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich einfach sehr hilflos.

Nach diesem Gespräch ging ich total erschöpft und verheult nach Hause. Ich ahnte irgendwie, dass diese Art der Diskussion unser Leben von nun an begleiten wird.