Geburtstage, Frühlingsstimmung und zwischendrin der Kampf gegen die Beratung in Sondersysteme

Wow, der März ist immer so voll. Erst mein 38. Geburtstag. Dann ist der kleine Professor am 21. März schon fünf Jahre alt geworden. Zwischendurch musste ich mit Dr. Wistuba, dem Leiter des Jugendpsychiatrischen Dienstes im Bezirksamt Eimsbüttel, so sehr streiten, dass ich noch immer überlege, ob ich mich schriftlich und umfangreich über ihn an höherer Stelle beschwere. Anatol und ich waren dort nur, um seinen Kita-Gutschein und die damit verbundene Eingliederungshilfe verlängert zu bekommen. Darum ging es für Dr. Wistuba bei unserem Termin aber gar nicht. Vielmehr versuchte er auf unverschämte und arrogante Weise mich davon zu überzeugen, dass wir Anatol in einem Jahr auf der Sonderschule anmelden und auf keinen Fall im Regelschulsystem. Anatols motorische Stärken seien ja im Vergleich zu seinen erheblichen kognitiven Einschränkungen letztendlich und in der leistungsorientierten Gesellschaft sowieso völlig irrelevant. Wir möchten doch nicht etwa auch, dass unser Sohn dann ständig weinend auf dem Schulhof steht?

Noch immer werde ich ganz wütend wenn ich an dieses Gespräch denke.

Und ansonsten sind wir Stubenhocker endlich wieder mehr draußen, weil Sonne und Wärme und hach Frühling. Endlich.

„Das Risiko nichtbehinderte Eltern zu bekommen“ – Ein Abend mit Udo Sierck

Am 28. September 2016 war Udo Sierck zu Gast im Elternverein Leben mit Behinderung Hamburg. Udo Sierck hat mich immer beeindruckt. Von den vielen Büchern zum Thema Inklusion, Behinderung und Entwicklung, die ich nach der Geburt unseres Sohnes mit Trisomie 21 gelesen hatte, hätte ich mir unzählige sparen können, wenn ich früher auf „Sie nennen es Fürsorge“, „Die Wohltäter-Mafia“, „Budenzauber Inklusion“ oder „Dilemma Dankbarkeit“ von Udo Sierck gestoßen wäre.

In seinem Einstiegsreferat sprach Sierck über das Dilemma Dankbarkeit für viele Behinderte, mit dem er sich in seinem jüngsten Buch ausführlich auseinandergesetzt hatte. Er meint hiermit die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. Dankbarkeit kann laut Sierck dazu führen, dass jemand seine tatsächlichen Bedürfnisse zurückstellt, um seinem Gönner zu gefallen. Die Erziehung zur Dankbarkeit führt zu einem Verhalten der Loyalität gegenüber der Autorität, das jede Ungerechtigkeit und jeden Übergriff hinnimmt. Im Verhältnis zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen birgt das eine noch immer zu wenig beachtete Brisanz. Und dieses Dilemma beginnt in der Beziehung zu den Eltern, führte Sierck diesen Aspekt aus. Wenn einem Behinderten z.B. von der Mutter oder von Geschwistern immer wieder verdeutlicht wird, dass diese sich „aufopfern“ für das Wohl des behinderten Angehörigen oder seinetwegen „zurückstecken müssen“, kann man lebenslang eine bremsende Demut entwickeln, nicht nur gegenüber den Angehörigen, sondern gegenüber dem gesamten Lebensumfeld. Sierck ist davon überzeugt, dass dieser Gedanke in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist: Wer nimmt oder bekommt, muss auch geben. Und wenn behinderte Personen nichts geben können, sollen sie wenigstens mit Dankbarkeit aufwarten. Diese Entwicklung wird verstärkt durch die wachsenden sozialen und beruflichen Anforderungen. Viele Menschen suchen nach Ratgebern, um diesen Ängsten zu begegnen. Die Suche nach dem Selbst beginnt, als ein Mittel gilt die Orientierung zur Dankbarkeit. Die Versuche zur Optimierung des Ichs rücken in den Mittelpunkt, die Lebensverhältnisse bleiben außen vor, es wird nur eine egozentrierte Perspektive propagiert. „Bei dieser Tendenz zur Individualisierung bleibt letztlich die soziale Verantwortung auf der Strecke“. Mit diesem realen und pessimistisch-traurigen Gedanken endet Sierck seine Ausführungen.

Eine rege Elterndiskussion folgte. Der Tenor war der immer wiederkehrende Konflikt der Eltern, an welchen Stellen sie in die Selbstbestimmung ihrer oft verhaltensauffälligen Kinder eingreifen dürfen, können oder sogar müssen. Um das Kind vor den Aggressionen und der Ablehnung der Gesellschaft zu bewahren, versuchen viele Eltern, das Kind so weit es geht zu normalisieren. Viele Eltern sind auch davon erschöpft, immer wieder aufzufallen.

Udo Sierck reagiert mit dem Hinweis, dass man in die Natur des Menschen oft nicht eingreifen kann. Viele Verhaltensauffälligkeiten sind für behinderte Menschen selbstregulierend und wichtig. Zwingt man sie, diese abzustellen, geraten sie häufig in extremen inneren Stress, der wiederum zu anderen Auffälligkeiten führt. Die Energie, die viele Eltern in die Normalisierung bzw. Therapie des Kindes stecken, sollten sie lieber in die Aufklärung des Umfelds stecken, dass dieses Verhalten zum Wesen des Kindes dazu gehört, es keinesfalls böswillig ist und als Ausdruck menschlicher Vielfalt gewertschätzt werden sollte. Der Kommentar im Publikum, dass viele Eltern mit der ständigen Aufklärung des Umfelds überfordert sind, ließ den Wunsch aufkommen, hierin von Elternvereinen zukünftig mehr gestärkt zu werden.

„Aber ich habe ständig Angst, dass mein Kind woanders nicht gut aufgehoben ist und eben nicht so gewertschätzt wird wie von mir und unserer Familie.“, wurde angemerkt.

Sierck antwortet entschlossen, dass ein Kind Niederlagen und Misserfolge erleben muss, um selbstständig aktiv zu werden und nach Lösungen zu suchen. Solche negativen Erlebnisse seien ein ganz entscheidender Faktor für die Entwicklung von Autonomie und Selbstbestimmung. Wenn wir dies für unsere Kinder wollen, dann dürfen wir sie nicht davor bewahren.

„Aber mein Kind ist nicht so fit wie Sie Herr Sierck. Mein Kind ist schwer mehrfach behindert und hat eine geistige Behinderung.“, kam aus dem Publikum.

Es ginge nicht um eine Diskussion um Grenzen oder einer stufenartigen Einteilung von fit-Sein, so Sierck sinngemäß. Es geht immer um einen einzelnen Menschen und wie diesem individuellen Menschen größtmögliche Autonomie ermöglicht werden kann. Hier muss man manchmal sehr kreativ werden, um die Bedürfnisse eines Menschen herauszubekommen und zu verstehen.

Dann ging der Abend zu ende und beschäftigte mich noch lange. Uns Eltern scheint es enorm schwer zu fallen, uns von unserem behinderten Kind zu lösen, es in Ruhe zu lassen, es von Erwartungen und Druck zu befreien und in seinem Anders-Sein zu lieben wie es ist. Immer wieder war die Rede von „erzieherischen Bemühungen“, „alles für die positive Entwicklung des Kindes zu tun“ oder es „umfassend zu fördern“. Und ich hatte das Gefühl, dass wir Eltern im Publikum doch nicht verstanden hatten, worum es Sierck ging: eben darum, nicht auf das Kind einzuwirken und es nicht zu formen oder normalisieren zu wollen, sondern die Fäden durch zu trennen, sich zurück zu nehmen, los zu lassen, zuzulassen und auszuhalten. Das Kind sein lassen wie es ist und seinen Weg gehen zu lassen. Kein Wunder, dass die von Sierck mitbegründete Krüppelbewegung in den 80er Jahren u.a. die Eltern als ihre Feinde deklariert hatte.

24 Wochen – Eine Filmkritik

Am 24. September wurde der Film „24 Wochen“ von Anne Zohra Becharreds im ausverkauften Kino Abaton in Hamburg gezeigt. Der Film wurde von einer Jury der deutschen Programmkinos und Filmkunsttheater mit dem Gilde-Filmpreis als bester Wettbewerbsbeitrag der Berlinale ausgezeichnet. Anne Zohra Becharreds bekam zudem für ihren viel gelobten Film, der das Thema Spätabtreibung behandelt, den Studio Hamburg Preis in der Kategorie Beste Regie. In „24 Wochen“ ist die Kabarettistin Astrid mit ihrem Manager Markus liiert. Beide haben zusammen ein Kind, die neunjährige Nele. Als Astrid mit ihrem zweiten Kind im sechsten Monat schwanger ist, erfährt das Paar bei einer Routineuntersuchung, dass ihr ungeborenes Kind mit dem Down-Syndrom und einem schweren Herzfehler zur Welt kommen wird. Das Paar muss entscheiden, ob das Kind zur Welt gebracht oder eine Spätabtreibung eingeleitet werden soll. Nach vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen entscheidet sich Astrid dafür, das Kind im sechsten Monat abzutreiben. Anschließend geht sie mit dieser Entscheidung an die Öffentlichkeit.

Der Film zielt darauf, den Zuschauer mit einem riesigen Kloß im Hals zurück zu lassen. Spätestens wenn der gerade getötete Fötus nach der Geburt zum Abschied auf die Brust der Mutter gelegt wird, ist der Punkt der Unerträglichkeit erreicht. Auch unerträglich ist, dass „24 Wochen“ auf die Abweichung vom perfekten Kind als etwas Schrecklichem fokussiert und die furchtbare Zerrissenheit der Frau musik- und filmästhetisch zusätzlich stark dramatisiert. Herzfehler sind eine der häufigsten Organfehlbildungen bei Neugeborenen. Es gibt weder eine Garantie noch ein Recht auf ein gesundes Kind. Aber es geht in „24 Wochen“ nicht um eins von vielen Föten mit einem Herzfehler (denn das ist ja kein wirklicher Abtreibungsgrund). Die Melodramatik dieses Films setzt hier noch eine vermeintlich grausame Trisomie 21 drauf. Lukas Stern schreibt in seiner Kritik zum Film: „Wäre der Film wenigstens so hübsch nüchtern, anonym und neutral wie die Begrüßungsfloskeln von Allgemeinärzten zur Routineuntersuchung.“

Fabian Wallmeier nennt den Film „Pädagogik statt Filmkunst“ und ist sogar der Ansicht, dass „24 Wochen“ eben nicht – wie suggeriert – die Antwort auf die Frage ‚Abtreibung oder nicht?‘ offen lässt: „Bis ins kleinste, oftmals schmerzliche Detail dekliniert der Film die sozialen, rechtlichen und vor allem medizinischen Komponenten durch. Echte Ärzte und andere Experten treten auf, erklären zum Beispiel, dass bei einer Spätabtreibung zunächst dem ungeborenen Kind eine Spritze verabreicht wird und dann die Wehen eingeleitet werden. Die Ambivalenz, die durch die Ansammlung von Wissen aus allen Richtungen und durch die harten Diskussionen zwischen Astrid und Markus erzeugt werden soll, bleibt letztlich bloße Behauptung. Denn letztlich liefert der Film die Antwort auf die moralischen Fragen unmissverständlich mit: Ja, Spätabtreibung ist in einem solchen Fall in Ordnung und die Mutter allein hat darüber zu entscheiden.“

Der Film-Vater, Markus, steht mit seiner Haltung für das Leben des noch ungeborenen Kindes seiner zweifelnden Frau sehr hilflos gegenüber. Wie geht man damit um, wenn sich die Partnerin gegen ein gemeinsames Kind entscheidet, weil es nicht gesund sein wird? Was bedeutet das für die weitere Beziehung, wenn sie sagt, sie hätte „dafür“ keine Kraft? Was, wenn man morgen selbst – durch einen Unfall – auf mehr Zeit und Pflege angewiesen sein wird, hat sie dann auch dafür keine Kraft? Und was bedeutet überhaupt die Annahme, für etwas angeblich keine Kraft zu haben?

Kirsten Achtelik hatte schon in ihrem Buch „Selbstbestimmte Norm“ darauf hingewiesen, welche entlastende Wirkung Nichtwissen in der Schwangerschaft hat: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Achtelik macht den Vorschlag, dass schon vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden sollte, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen.

Für viele Menschen mit Trisomie 21 und ihre Eltern ist dieser Film paralysierend. Die eigenen Perfektionserwartungen von Astrid bringen sie in „24 Wochen“ dazu, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen und in letzter Konsequenz das unperfekte zu töten. Hier wird der Weg, den 9 von 10 Schwangeren nach der Diagnose Trisomie 21 in Deutschland gehen und damit die eugenische Auswirkung, die diese vielen Einzelentscheidungen auf die Gesellschaft haben, legitimiert. Im Wunsch der Mutter, ein Problem aus der Welt zu schaffen, blendet der Film jedoch nicht nur die Folgen des gewalttätigen Alleingangs von Astrid für ihre Beziehung zu Markus aus, sondern auch die psychologischen Folgen für sie, Markus und Tochter Nele. Schließlich bestätigt der Film das Schreckgespenst Down Syndrom und versucht auch noch die Selektion mit viel Tragik „verstehbar“ machen und rechtfertigen zu wollen.

Vielfalt als Last oder das asoziale Bildungsbürgertum

Die meisten Eltern tun alles, damit ihre Kinder gut gebildet sind. Viele wollen auch, dass ihr Nachwuchs in Zukunft selbstbewusst und zielstrebig der Konkurrenz standhalten kann und vermitteln damit mehr oder weniger unbewusst ein für sie heute ganz natürlich gewordenes Wettbewerbsdenken. Oliver Nachtwey forscht derzeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung zu Arbeit, Ungleichheit und Demokratie und sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „Gerade in linken, liberalen Milieus findet sich diese Lebenslüge: Man ist ja immer für soziale Integration auf allen Ebenen – aber nicht mehr, wenn es um den eigenen Nachwuchs geht.“

Genau das erlebe auch ich in meinem Umfeld quasi täglich: eine Freundin konnte z.B. kaum glauben, dass es heute immer noch Schulen gibt, die unseren Sohn mit Trisomie 21 nicht beschulen möchten. Gleichzeitig beschwert sie sich darüber, dass ein Kind mit Behinderung aus der Nachbarschaft an der von ihr ebenfalls angewählten (integrativen) Wunschschule aufgenommen wurde während ihre eigene Tochter nur die Zweitwunschschule besuchen darf. Es sei total ungerecht, dass das behinderte Kind bevorteilt wurde. Dass dieses Kind gar keine andere Wahl hatte, sieht sie nicht. Ein anderer Freund beschwerte sich neulich, dass ausgerechnet in der Klasse seines Sohnes ein „verhaltensauffälliges“ Kind sei. Dass sein eigener Sohn große Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Kindern hat, sei ja etwas ganz anderes. Meine Cousine, Geschichts- und Englischlehrerin, derzeit Referendarin in einem Gymnasium, sagte neulich zu mir: Man müsse mindestens drei behinderte Kinder haben, um als Referendarin in der gewünschten Schule zu landen. Als normaler Mensch hat man jeden Morgen einen einstündigen Anfahrtsweg zur zugewiesenen Schule. Das sei nicht gerecht. Dass Mütter von behinderten Kindern jede Menge zusätzliche Wege haben, sieht sie nicht. Und auch im Bündnis für Inklusion kommen immer wieder Diskussionen darüber auf, ob Inklusion denn überhaupt Sinn macht, denn „Was können nichtbehinderte Kinder denn schon von behinderten Kindern lernen?“. Oder anders ausgedrückt: Was können die denn mehr als Stören? Und erst letzte Woche schickte mir eine befreundete Sport- und Geschichtslehrerin ein Video, in dem bei einem Laufwettkampf mehrere Kinder mit Down Syndrom Hand in Hand gemeinsam durch die Ziellinie liefen. Sie fand das total rührend. Ist es auch. Aber für die meisten gehen solche Videos über einen inspiration porn nicht hinaus.

All diese meine Bekannten und Verwandten betonen immer wieder die Selbstverständlichkeit von Inklusion. Einige sprechen sogar laut und überzeugt mir gegenüber davon, dass behinderte Kinder in der Klasse die sozialen Kompetenzen der MitschülerInnen fördern würden. Dass für sie Inklusion aber doch nicht so selbstverständlich ist, wird mir schon darin deutlich, dass sie immer wieder „Bewunderung“ dafür äußern, wie ich „das alles“ mit einem behinderten Kind so schaffe. Viele haben wenig Vorstellung von der Realität des Alltags mit einem behinderten Kind. Im Alltag kann ich sehr viel selbst organisieren, beeinflussen, „schaffen“. Ich kann mein eigenes Leben und meine Rolle als Mutter selbst reflektieren, ändern und meine eigenen Momente der Entspannung finden.
Womit ich mich jedoch absolut hilflos fühle, ist die z.T. versteckte, z.T. aber auch explizite Ablehnung von Kinder mit Behinderung in unserem Bildungssystem.

Wenn die Hamburger Stadtteilschulleiter in ihrem Positionspapier von der Vielfalt als Last sprechen, also von Inklusion als große „Bürde“, dann fühle ich mich – selbst unter links-grün-liberalen Intellektuellen – einem System ausgeliefert, in dem überall großartig von Vielfalt als Reichtum gesprochen wird, aber, das in Wirklichkeit riesengroße Berührungsängste hat. Dort heisst es: „Den STS-SchülerInnen […] werden die größten Herausforderungen unserer Zeit aufgebürdet […]. Sie sollen dafür sorgen, dass auch SchülerInnen mit sonderpädagogischen Förderbedarf und zugewanderte SchülerInnen integriert werden.“.  Auch wenn Eltern von mir wissen wollen, wie unser Sohn denn nun konkret das Lerngeschehen der Klasse bereichern kann, dann fühle ich mich sehr hilflos, weil ich mit einer Frage konfrontiert werde, die ich nicht beantworten will, weil sie im Kern für mich absolut asozial ist. Verweise auf die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Recht auf Bildung und Teilhabe scheinen mir für das Gegenüber in solchen Momenten völlig irrelevant solange die eigene Tochter oder der eigene Sohn nicht am Lernerfolg gehindert werden. Die meisten bildungspolitischen Aktivisten dieser Stadt sind davon überzeugt, dass man die Möglichkeiten der leistungsstarken und leistungsorientierten SchülerInnen an den Stadtteilschulen verbessern muss. Diese würden dann die angespannte Situation in den Gemeinschaftsschulen entspannen, meinen sie. Ich denke dagegen, dass sich damit die STS-Leiter und ihre LehrerInnen noch mehr (Leistungs-) Druck aussetzen. Entspannen würde die Gemeinschaftsschulen stattdessen ein ganz anderer Ansatz von Bildung, von handlungsorientiertem und sozialem Lernen, von Gemeinschaft, Wertschätzung von Andersartigkeit und Solidarität.

Auch bei Eltern von Kindern mit Trisomie 21 ist diese Lebenslüge verbreitet: das Geschwisterkind sollte möglichst auf das Gymnasium gehen. Man will ja schließlich zeigen, dass man zum weltoffenen Bildungsbürgertum gehört und das geht eben nur mit Abitur und Auslandsaufenthalt. Gleichzeitig wünschen sie sich für ihr Kind mit Trisomie 21 die Gemeinschaftsschule – möglichst mit vielen ruhigen und sozial kompetenten SchülerInnen mit einer Gymnasialempfehlung, also möglichst keine STS in einem sozialen Brennpunkt. Denn sie können ja nichts für die Beeinträchtigung ihres Kindes während die Eltern dieser Kinder dort sich ihre Misere ja schließlich selbst eingebrockt hätten. Sie predigen täglich Vielfalt und Chancengerechtigkeit zum Wohle ihres Kindes mit Behinderung. Aber der Schüler, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist oder die traumatisierte Schülerin seien ihnen völlig fremd und machen Angst. Irgendwo sollten die unbedingt integriert werden, ihren Platz bekommen und gefördert werden. Aber das müsse ja nicht unbedingt in der Klasse ihres behinderten Sohnes sein. Sie hätten schon genug Probleme.

Ich liebe meine Kinder. Sie sind wundervoll. Und ich habe manchmal große Angst vor der Zukunft.

Inklusion stellt die Machtfrage

Seit November 2015 formiert sich eine neue „Krüppelbewegung“ in Deutschland, meinte kürzlich Andreas Vega in dem Artikel Aufstand der Behinderten.
Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein.

Die Kritik an der derzeitigen Politik wird tatsächlich immer schärfer. Matthias Vernaldi, seit Jahrzehnten großer Berliner Behinderten-Aktivist, sieht das lange Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt: „Vielleicht sollten wir weniger freundlich sein. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politikern sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.“

Selbst Raúl Krauthausen vom Berliner Verein „Sozialhelden“ wird deutlicher: „Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen. […] Inklusion stellt die Machtfrage. Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand.“

Auf die Frage, was eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt bewirken kann, antwortete Vernaldi:
„Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch: Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien. […] Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt: die Krüppel bloggen zwar mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; aber die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut. […] Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons.“

Kein Musterkruppelchen

Die Angst überwinden

Letzte Woche war in Anatols Kita eine Gruppenübernachtung geplant. Da er mittlerweile seit zweieinhalb Jahren in dieser Kita ist, hatte er schon zwei oder drei Übernachtungen problemlos mitgemacht. Ich bin auch keine besonders ängstliche Mutter und freue mich immer eher, wenn die Kinder mal nicht da sind.
Diesmal war es etwas anders.

Denn die Gruppe hatte sich entschieden vor der Übernachtung in die XXL-Spielestadt zu gehen. Das ist ein Spiele-Kletter-Gelände, in dem die Kinder nach zwei Stunden so k.o. getobt sind, dass sie nur noch ins Bett fallen und sofort schlafen. Ich persönlich habe solche riesigen Indoor-Spielplätze mit den Kindern bisher erfolgreich gemieden, weil sie mir einfach zu anstrengend sind.

Jedenfalls versuchte ich Anatol morgens im Auto zu erklären, dass er heute in der Kita übernachtet. Er lächelte und nickte, ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Dann übergab ich ihn mit etwas bebenden Lippen der Erzieherin und sagte, sie solle mich anrufen, wenn er sich zurück zieht, sich anziehen geht und nach Hause will. Sie erwiderte, dass sie ihn in diesem Fall aus der Gruppe nehmen und sich jemand mit ihm hinlegt und ausruht. Dann weinte ich auf dem Weg nach Hause.

Ich schrieb Sascha eine SMS: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Erzieherinnen können die Signale von Anatol noch nicht so gut deuten, wissen nicht, wann es zu viel für ihn ist.“ Er antwortete: „Lass den Erzieherinnen die Möglichkeit diese Signale kennenzulernen, um selbst darauf reagieren zu können.“ Ich weinte noch mehr. Warum hat der Mann nicht diese furchtbare Angst, die ich habe?

Den gesamten Tag ging mir durch den Kopf wie dieser Vierjährige, der die Statur eines Zweijährigen hat und seine Bedürfnisse sprachlich nicht äußern kann, auf einem großen Trambolin sitzt während 5 Kinder wie wild um ihn herum springen, ihn so richtig durchschütteln und er nicht versteht was abgeht. Ich stellte mir vor wie er die Rutschen herunter heizt ohne darauf zu achten, ob jemand vor ihm auf der Rutsche ist, dem er ordentlich in den Nacken stürzt. Ich stellte mir vor, wie er die coolen Kletternetze hoch wurschtelt und dann von ganz oben durch ein Loch nach ganz unten fällt…..

Es war ein schlimmer Tag. Ich verfluchte die Kinder in seiner Gruppe. Konnten sie sich nicht einfach für einen Zoobesuch entscheiden? Ich verfluchte die Erzieher. Sie müssen doch bei einem solchen Ausflugsplan die Schwächsten mit einbeziehen? Ich verfluchte meinen Mann. Warum habe nur ich Sorgen und kann sie mit ihm nicht „teilen“?

Am nächsten Tag holten wir das strahlende Kind aus der Kita ab. Es sei alles bestens verlaufen, Anatol habe riesigen Spaß gehabt.

„Was wir von Menschen mit Down Syndrom lernen können?“

Lili: Letzte Woche hat Niklas in der Schule gesagt, dass Menschen mit Down Syndrom nichts verstehen. Dass sie sogar zu Eltern „Schwester“ sagen.
Ich: Es stimmt, dass Menschen mit Down Syndrom oft länger brauchen, um Sachen zu verstehen und, dass sie sich viel langsamer entwickeln als andere Menschen. Aber das ist nicht so schlimm. Dafür können sie bestimmte Dinge besser als andere. Anatol tröstet z.B. jeden Menschen der traurig ist. Das ist gut und wichtig. Außerdem lacht er sehr viel und ist viel fröhlicher als andere Kinder.
[Mist. Ich ahnte, was jetzt kommt.]
Lili (traurig): Ich kann nichts besser als andere Kinder.
Ich: Doch. Du bist neugierig und stellst viele Fragen. Du bist besonders klug.
[Plötzlich bekam ich Angst, dass ich ihr immer die Rolle der „Klugen“ zuweise und sie damit eventuell total unter Druck setzen könnte.]

Ich ärgere mich über mich selbst. Weder Anatols Dasein muss durch seine Fähigkeit zum Trost oder seine Fröhlichkeit beschrieben oder gerechtfertigt werden, noch das Dasein unserer Tochter durch ihre Klugheit. Spontan argumentiere ich trotzdem oft so. Ich muss das ändern.

Selbst Prof. Zimpel, den ich sehr schätze, betitelt sein aktuelles Buch so „Was können wir von Menschen mit Trisomie 21 lernen?“ Hat er diesen Titel bewusst gewählt, weil er davon ausgeht, dass die Mehrheitsgesellschaft von der selbstverständlichen Teilhabe als Menschenrecht nicht sonderlich zu beeindrucken ist und man in der Leistungsgesellschaft eben besonders betonen müsse, wozu selbst geistig Behinderte nützlich sind? Gibt man sich mit Menschen nur ab, wenn sie in irgend einer Form nützlich für uns sein können? Das Buch von Zimpel ist großartig und ich glaube, dass er eine solche Assoziation mit dem Titel nicht bezweckt hat.

Hm. Trotzdem suche ich eine coole, kindgerechte Reaktion auf das Argument von Grundschülern, dass Menschen mit DS vieles nicht verstehen können? Aber ohne: „Dafür können sie das besser“-Rhetorik.
Any suggestions?

Sprachentwicklung und meine große Verunsicherung

Und wieder habe ich mit der Logopädin diskutiert und dabei diesmal viel geweint. Ich war ganz aufgelöst. Später glaubte ich zu verstehen, warum eigentlich. Sie ist davon überzeugt, dass der Junge eine Eins-zu-Eins-Sprachtherapie braucht. Sie meint, dass er viel mehr redet seitdem sie mit ihm 2x pro Woche 45 Minuten arbeitet. Sie sei mit ihm auf dem richtigen Weg. Von der Arbeit in der Kita-Gruppe mit anderen Kindern zusammen hält sie nicht viel. Ich wollte nochmal mit ihr darüber sprechen.

Ich hatte sie auch um einen Gesprächstermin gebeten, weil Anatol in den letzten Monaten oft Türme der anderen kaputt macht, das Sandkastenspielzeug weg nimmt, auf die Bilder der Anderen krakelt oder eben haut. Er ist nicht extrem aggressiv oder auffällig, aber eben schon oft gemein zu den anderen Kindern. Ich bin unsicher, wie ich mit diesem Verhalten umgehen soll. Außer ein deutliches verbales und gestisches Stopp schlug sie mir im Gespräch vor, noch ein rotes Stopp-Schild zu malen, das man ihm in solchen Situationen vor die Nase hält, um ihm seine Grenzübertretung nochmal visuell sehr deutlich zu machen. Auch schlug sie vor, Kinderbücher zu lesen, die Wut thematisieren oder mit Kuscheltieren kleine Geschichten zu spielen, in denen jemand rempelt oder haut, um damit visuell besonders deutlich zu machen, dass man das nicht tut.

Ich sagte ihr, dass Anatol sehr gut weiß, was gut und böse ist, dass er dies erkennen kann und dann auch selbst mit Ablehnung bzw. Schimpfen reagiert, wenn Andere Grenzen überschreiten. Ich meine, es geht eigentlich um etwas ganz anderes. Und zwar darum, dass er häufiger als andere Kinder nicht ins gemeinsame Spiel einbezogen wird, weil er motorisch (z.B. beim Fußball), kognitiv (z.B. bei Rollenspielen) und sprachlich (z.B. im Morgenkreis) nicht mit gleichaltrigen Kindern mithalten kann. Sein Verhalten ist somit der ständige Versuch einer Kontaktaufnahme mit den anderen Kindern. Ich vermute sogar, dass bessere sprachliche Ausdrucksfähigkeit diese Situation für ihn als Jungen mit Trisomie 21 kaum ändern würde. Deshalb, so schätze ich es ein, muss er zum einen lernen zu akzeptieren wenn andere nicht mit ihm spielen wollen. (Diese Erfahrung wird er ja noch sehr häufig im Leben machen.) Hier suche ich Strategien, wie er in solchen Situationen sein momentanes Begehren runter fahren kann, um sich allein mit etwas anderem zu beschäftigen. Das ist sehr schwer, weil er ja gerade die soziale Interaktion sucht. Und ich habe hier auch noch keinen Weg gefunden. Zum anderen muss man m.E. stärker mit der Gruppe arbeiten, nicht mit ihm allein. Wie gehen die Kinder in der Gruppe miteinander um? Welche gemeinsamen Spiele werden gespielt? Wie werden schwächere, langsamere Kinder in die gemeinsame Aktivität mit einbezogen? Welche Rolle spielt Sprache in der Kommunikation der Kinder bzw. der Erzieherinnen zu den Kindern? Ich sagte ihr, dass ich davon überzeugt bin, dass Anatol sprechen lernt wenn er sich in der Gruppe angenommen und wohl fühlt, die anderen Kinder ihn ins Spiel mit einbeziehen und direkt mit ihm kommunizieren. Ich sagte ihr, ich vermute, dass er so toll bei ihr die ganzen Sprachübungen mit macht, weil sie so nett zu ihm ist und mit ihm wochenlang zu Beginn die „Beziehungsebene“ aufgebaut hat. Deshalb macht er bei ihr alles gut, deshalb wiederholt er die Worte, die sie spricht und wendet sie auch immer häufiger an. Ich führe das weniger auf die Sprachübungen bzw. die -therapie zurück als vielmehr auf die häufige positive soziale Interaktion zwischen ihr und ihm. Sicherlich ist eine Sprachtherapie in dieser Eins-zu-Eins-Situation auch wichtig und absolut sinnvoll. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Interaktion in der Gemeinschaft für Anatol einen wichtigeren Lernimpuls bietet. Und, dass seine Form sich auszudrücken und anderen verständlich zu machen in alltäglichen Spielsituationen bzw. die Reaktionen der Kinder in seiner Gruppe eigentlich entscheidend für die Entwicklung seiner zukünftigen Kommunikationsstrategien ist.

Sie sieht das anders. Sie meint, dass die Sprachtherapie ihn dorthin geführt hat, wo er jetzt ist. Natürlich kann ich ihr da nicht widersprechen, denn man kann das ja nicht überprüfen. Sie meint auch, dass erst sein Wortschatz ausreichend sein müsse bevor sie mit ihm in die Gruppe gehen könnte. Sie sagte, was ich will sei nicht Sprachtherapie, sondern eher Pädagogik. Darin sei sie aber kein Expertin. Sprachtherapie in Gruppen lehne sie grundsätzlich ab. Das wäre in der Vergangenheit bei ihr nie gut gelaufen. Es sei zu laut und man hätte zu wenig Möglichkeiten, sich auf die sprachlichen Besonderheiten von Anatol zu konzentrieren.

Ich sagte ihr, dass ich mir auch keine „Gruppentherapie“ in dem Sinne vorstelle. Vielmehr wünsche ich mir, dass sie als Sprachtherapeutin Anatol im Kita-Alltag in seiner Gruppe öfter genau beobachtet, dass sie versucht, seine bisherigen Kommunikationsstrategien und die Reaktionen der anderen Kinder zu verstehen. Aus diesen Beobachtungen lassen sich dann eventuell „Kommunikationshilfen“ sowohl für ihn als auch für andere Kinder in der Gruppe bzw. für die Erzieherinnen ableiten. Ich meine, dass es weder nur Pädagogik oder nur Sprachtherapie ist, sondern eine Mischung aus beidem. Und schließlich wurde ich immer verunsicherter, denn ich habe ja auch nur abstrakte Vorstellungen davon und nahm an, sie als Sprachtherapeutin würde eine solche Herangehensweise selbstverständlich kennen. Vielleicht sehe ich das ja auch alles völlig falsch, bin übereifrig oder zu aufgeregt. Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich einfach sehr hilflos.

Nach diesem Gespräch ging ich total erschöpft und verheult nach Hause. Ich ahnte irgendwie, dass diese Art der Diskussion unser Leben von nun an begleiten wird.

Vollkommene Anpassung ist die Ideologie der Gegenwart

Ich bin unruhig. Nachdem ich mich ein paar Tage mit Hartmut Rosa beschäftigt hatte und verstand, dass eine dauerhafte Entschleunigung meines Lebens unmöglich ist und ich stattdessen lieber ab und an meine persönlichen „Resonanzräume“ schaffen und erhalten sollte, warf mich der Wahlerfolg der AFD in Sachsen-Anhalt gestern Abend ziemlich aus der Bahn. Es gibt etwas viel grundsätzlicheres als meine persönliche Lebenszeit.

Ich spüre Angst.
Die gleiche Angst, die ich spüre, wenn ich Menschen über das Gelände der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten führe und ihnen aus der Geschichte dieses Ortes erzähle. Vorauseilender Gehorsam hatte das damalige medizinische Personal der christlichen Anstalt für Menschen mit Behinderung veranlasst, die dort lebenden jüdischen Bewohner schon lange vor der offiziellen Aktion T4 an die Nazis auszuliefern und für Probe-Vergasungen nach Brandenburg an der Havel zu schicken. Insgesamt wurden später mehr als 600 Personen aus Alsterdorf Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen. Es waren Mediziner, es waren Christen, die sie in den Tod schickten. Es verbanden sie christlich-humanistische Werte, die noch bis vor einem Jahr Voraussetzung für eine Mitarbeit bei der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf waren. Die Geschichte dieser christlichen Wertegemeinschaft in Alsterdorf, eine Wertegemeinschaft, die uns ja angeblich in ganz Deutschland eint und ausmacht, ist wie ich finde symbolisch für das auseinanderdriften von theoretischen Moralvorstellungen und praktischem Handeln. Erst kürzlich wurde übrigens in einer Studie festgestellt, dass Kinder aus religiösen Familien weniger teilen als andere Kinder und härtere Strafen für Fehlverhalten forderten. Die Ergebnisse dieser Studie fand ich sehr spannend.
Die gleiche Angst spüre ich, wenn ich mit Lehrerinnen und Lehrern über die Selbstverständlichkeit von gemeinsamem Lernen diskutiere. „Es gibt nun mal Kinder, die nicht so klug sind. Das muss man akzeptieren. Da sollen doch dann nicht alle anderen in der Klasse drunter leiden.“, höre ich dann immer mal wieder. Nicht umsonst trägt das Jahrbuch für Pädagogik 2015 den unfassbaren Titel „Inklusion als Ideologie“. Ein Menschenrecht als Ideologie? Nein, es geht den meisten Pädagogen noch lange nicht ums Wie. Stattdessen geht es vielen auch noch 2016 ums Ob überhaupt. „Erst wenn die Bedingungen stimmen, können wir darüber reden.“, heisst es oft und insgeheim hoffen viele, dass sich die Diskussion mit zunehmender Pränataldiagnostik und immer weniger werdenden Schülern mit Behinderung von alleine löst. Für die paar Hanseln brauchen wir dann ja keine Extra-Wurst mehr, ne?
Angst bekomme ich, wenn Marc Jongen, der das Parteiprogramm der AFD verfasst hat, sagt „Es gibt nichts Gefährlicheres als eine Utopie, die man entgegen der Realität umzusetzen versucht.“ und damit die in seinen Augen „hysterischen, hypermoralischen Eliten“ ins Lächerliche zieht.

Mit dieser modernen „Anti-Ideologie“ werden alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen als wahr und ehrlich legitimiert. Der Philosoph Herbert Schnädelbach sagt: Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart. Slavoj Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in Diktaturen. Ich stimme ihm zu.

Ich habe Angst, dass immer mehr Menschen sich vor Pluralismus fürchten und lieber einfache Lösungen suchen anstatt einen Konsens der gesamten Gesellschaft anzustreben, auch wenn dieser länger dauert, auch wenn dieser anstrengend ist. Ich habe Angst davor, dass auch unser Sohn mit Trisomie 21 irgendwann direkt mit einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung konfrontiert wird,‭ ‬bei der sein Leben auf den Aspekt des Wertes für die Gesellschaft reduziert und eventuell von einer kalten Mehrheit als unwert kategorisiert wird.

Die Geschichte neigt sich zu wiederholen. Mich zurück lehnen und entschleunigen ist unmöglich. Die Angst treibt mich an.

Just in case. This one is for You, my son: Never mind the Darkness Baby you will be save by Rock ´n´ Roll!

Ganzkörperostereiermalen
Dipl. Ostereierdesigner

Wer braucht hier eigentlich Förderung?

Ob ein Kind mit Down Syndrom „engagierte“ Frühförderung durch Therapeuten und Eltern erfahren hat oder nicht und welchen Unterschied es jeweils in der Entwicklung des Kindes gemacht hat oder nicht, weiß keiner. Natürlich kann man das auch nicht erforschen. Wenn ein Kind sich gut entwickelt hat, dann lag es ja immer an dem Einsatz der Eltern, der Therapeuten und der Pädagogen. Wenn ein Kind sich nicht so super entwickelt, dann lag es an den zu starken körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen des Kindes. Da kann dann keiner was dafür.

Immer wieder erzählen Eltern älterer Kinder mit DS, die von Reittherapie über tägliches GUK-Lernen bis hin zu spezieller Ernährung oder anderer heilsversprechender Spezialkuren alles Mögliche mit ihrem Kind getan haben, dass sie im Rückblick weniger Zeit mit Therapien hätten verschwenden wollen und lieber mehr Zeit für Spaß gehabt hätten. Immer wieder berichten Eltern älterer Kinder, dass trotz jahrelanger Therapie ihr Kind nicht laufen oder nicht (deutlich) sprechen könne. Welche Therapien helfen wem und in welchem Umfang eigentlich wirklich?

In Wider die Therapiesucht habe ich schon einmal Michael Wunder und Udo Sierck zitiert: „Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.“ Wunder und Sierck forderten schon 1981 ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte. 35 Jahre später hat diese Forderung nicht an Aktualität verloren.

Frühförderung bei Kindern mit Down Syndrom ist derzeit weder individuell noch knapp verordnet. Sofort nach der Geburt bekommt man nur aufgrund der Diagnose Down Syndrom die Komplexleistung Frühförderung als dauerhaftes Rezept. Zu diesem Zeitpunkt kann wohl noch niemand einschätzen, wie das Kind sich entwickeln wird. Erreichen Kinder mit DS in den ersten Lebensjahren entscheidende Entwicklungsschritte nicht, sind die Eltern „Schuld“, da sie dem Kind keine genügend anregende Umgebung schaffen oder nicht genug üben. Noch mehr Druck machen sich die Eltern durch die medial bekannten „Super-DSler“ wie Pablo Pineda oder Carina Kühne. Bei guter Förderung, so wird ihnen allseits suggeriert, kann ihr Kind sich auch so toll entwickeln. Eine Defizit-Orientierung MUSS zwangsläufig einhergehen mit Heilsversprechen und Schuldzuweisungen. Genau die sind aber die furchtbare Konsequenz der heil- und sonderpädagogischen Förderung in Deutschland und es beginnt kurz nach der Geburt und wird im Laufe der Jahre im Kindergarten und in der Schulen immer schlimmer. Später sind es nicht nur die Eltern, sondern auch die Pädagogen, die daran Schuld sind, wenn das Kind verhaltensauffällig wird. Und so schieben sich im Laufe der Zeit alle Beteiligten gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Aber was ist eigentlich mit dem Kind?

Kinder mit DS sind nicht krank. Sie entwickeln sich in ihrem Tempo. Egal, ob sie Therapien machen oder nicht, ich behaupte, sie werden sich nicht großartig anders entwickeln. Es ist absurd, sich von Defizit-orientierten Therapeuten mit angeblichen Lern-Zeitfenstern wahnsinnig machen zu lassen: „Zwischen 3 und 5 Jahren muss das Kind sprechen lernen. Sonst haben Sie das entscheidende Zeitfenster der Sprachentwicklung verpasst.“ usw. Die Berichte der Sozialpädiatrischen Zentren, der Psychologischen und Medizinischen Dienste, in denen man lesen kann, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und auf welchem Entwicklungsstand verglichen mit normal-entwickelten Kindern es sich befindet (einschließlich Skalen mit aufgeführter Abweichung des Kindes vom Standard) haben nur zwei Funktionen:
1. Die Eltern zu verunsichern.
2. Das Therapie- und Fördersystem aufrecht zu erhalten.

Lange hatte ich es nicht verstanden: ich bin es, die mein Kind behindert. Die Gesellschaft ist es, die mein Kind behindert. Ich und sie brauchen Förderung! Warum hat mir das nie jemand angeboten? Die „Förderung“, die ich mir von Anfang an gewünscht hätte, wäre eine dauerhafte und regelmäßige Hardcore-Kuschel und -Tobe-Verordnung, d.h. eine Beratung beim Beziehungsaufbau mit unserem Sohn, von Anfang an. Kuscheln ist z.B. viel wichtiger als jede Entwicklungstabelle und jeder Meilenstein. Die „Fördereinheiten“, die ich mir gewünscht hätte, hätten darin bestanden, das Kind einfach zu beobachten, zu versuchen, seine Signale aufzunehmen, zu verstehen und auf sie zu reagieren bzw. einzugehen. Das ist sehr schwer. Sich einlassen. Loslassen. Ihn so lassen, wie er ist. Das hätte ich gerne früher gelernt. Das hätte ich gerne schon damals bei unserer Tochter gelernt.

Der andere Aspekt, der für viele Eltern bedeutsam ist, ist eine neutrale und umfangreiche Information zu den behindernden Strukturen in der heutigen Gesellschaft, z.B. bei den Behörden. Therapeuten, Pädagogen, Psychologen, Behörden usw. sind es, die Förderung benötigen und nicht das Kind.

Lasst die Kinder in Ruhe! Sie sind perfekt.