Die Auswirkungen der Schulreform auf die Inklusion in Hamburg

Im Oktober 2009 wurde durch die Hamburgische Bürgerschaft eine Schulreform beschlossen. Ein Teil der Reform sah vor, statt der bisherigen vierjährigen Grundschule eine sechsjährige Primarschule in HH einzuführen. Seit Jahren schon sprechen sich Bildungsforscher für ein längeres gemeinsames Lernen und gegen das frühe Aussortieren von Kindern aus. Eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre wäre ein wichtiger Schritt für die Chancengleichheit im Hamburger Bildungssystem und damit für Inklusion gewesen.

Doch durch einen Volksentscheid am 18. Juli 2010 wurde die geplante sechsjährige Primarschule aufgehoben. Die vierjährige Grundschule blieb bestehen. Walter Scheuerl schaffte es mit der Initiative „Wir Wollen Lernen“ über 180.000 Unterschriften gegen das verlängerte gemeinsame Lernen zu sammeln. Eltern sollten weiterhin das Recht haben, ihre Kinder so früh wie möglich auf ein Gymnasium zu schicken. Ein weiterer Beweis dafür, dass das Elternwahlrecht für eine umfassende Entwicklung inklusiver Schulstrukturen auch hinderlich sein kann.

Welches waren die Argumente einiger Eltern, die sich der Initiative Wir Wollen Lernen (WWL) damals anschlossen und für den Erhalt der vierjährigen Grundschulzeit kämpften? Während einer Befragung wurden damals folgende Meinungen geäußert:

„Wir sind für ein leistungsorientiertes Schulsystem!“
„Wir sind davon überzeugt, dass gute Schüler nicht von schlechten oder mittleren Schülern profitieren.“
„Dass ein Kind eines Vorstandsvorsitzenden mit einem Arbeiterkind nachmittags miteinander spielt und davon profitiert, mag vielleicht manchmal funktionieren, aber in der Regel wird das nicht der Fall sein.“
„Man muss nicht die sozial Bevorteilten benachteiligen, um die sozial Schwächeren zu bevorteilen.“
„Wir haben in den 1980er Jahren systematisch ein akademisches Proletariat heran gezüchtet, das für die wissenschaftliche Laufbahn und für eine gehobene akademische Laufbahn gar nicht fähig ist.“

Vollkommen absurd erscheint, dass Einige die Initiative WWL und damit die vierjährige Grundschule aufgrund einer besseren Chancengleichheit, Bildungsvielfalt und Freiheit unterstützten. Augenscheinlich geht es bei einer früheren Selektierung nur um erwartete Bildungsvorteile für diejenigen, die am Gymnasium lernen (sollen).

Menschen, die sich als gesellschaftliche Elite empfinden, leiten daraus vor allem Rechte für sich selbst ab, sagte der Elite-Forscher Michael Hartmann in der ARD-Sendung panorama zum Hamburger Schulstreit. Sie hätten das Recht auf höheres Einkommen oder das Recht auf bessere Bildung. Dass tausenden Kindern ihr Lebensweg immens erschwert wird, spielt für sie keine Rolle. In seinem Dossier „Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft“ beschreibt Hartmann, dass jene Personen häufig ein Charakteristikum eint: die verinnerlichte und akzeptierte Ungleichbehandlung von Menschen. Ulrike Winkelmann forderte 2010 in der Wochenzeitung freitag diese Eliten sogar auf, sich endlich zu integrieren.

Die Eliten anstelle der „Schmuddelkinder und Behinderten“ hätten ein Recht auf bessere Bildung, weil sie es sich hart erarbeitet hätten, so ihre Logik. Ihre eigenen Leistungen werden meist hochstilisiert. Ein Beispiel ist die Aussage des langjährigen Vorstands- und jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden und Erben des Otto-Konzerns Michael Otto in einem Gespräch mit Kevin Costner im „Manager Magazin“ im November 2011. Hierin verglich er seine Karriere mit der des Schauspielers als Selfmademan, der „ein mittelständisches Unternehmen zu einer großen Unternehmensgruppe weiterentwickelt“ habe. Das „mittelständische Unternehmen“, dessen Leitung er 1981 als Vorstandschef übernahm, hatte aber schon Ende der 1970er Jahre einen Umsatz von deutlich über drei Milliarden Euro und mehr als 11.000 Beschäftigte. Damit zählte es zu den 100 größten Konzernen Deutschlands. Michael Ottos Aussage zeigt, wie tief verwurzelt der Glaube an die eigene Leistung als Grundlage des verfügbaren familiären Reichtums ist. Selbst Milliardenvermögen werden als Resultat eigener Leistung begriffen.
Unbestritten verschafft die familiäre Herkunft spürbare Vorteile, das Leistungsprinzip sollte aber unbedingt infrage gestellt werden.

Der Hamburger Volksentscheid zeigte, wie das deutsche Bürgertum mittels Einfluss, Geld und Macht ihre Pfründe verteidigt. Der Bildungsforscher Rösner sagte dazu, sie hätten Angst, dass ihren Kindern durch Konkurrenz aus Aufsteigerfamilien der Weg zu den attraktiven beruflichen Positionen erschwert werde. „Wenn sich mehr um die Fleischtöpfe drängen, ist nicht mehr gesichert, dass der eigene Sohn oder die eigene Tochter satt wird.“ Zuvor (2008) war das Volksbegehren der Initiative „Eine Schule für alle“ in Hamburg gescheitert.

Und auch heute, sechs Jahre später im Februar 2015, droht Scheuerl mit der erneuten Mobilisierung des „Volkes“. Die körperlich behinderten Schüler, so Scheuerl im Abendblatt, könne man auf den Gymnasien gern integrieren, aber nicht die Anderen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ein Kind mit Down Syndrom z.B. senke doch eindeutig das Niveau der Klasse und bremse den Lernprozess. Viele Beispiele zeigen jedoch, dass das nicht sein muss.

Implizit stellt Scheuerls Antibildungsinitiative die Frage „Was können Kinder von einem Flüchtlingskind oder einem geistig behinderten Kind schon lernen?“
Wie wäre es mit Gerechtigkeitssinn, Hilfsbereitschaft, Lebensfreude, Weltwissen, Sprachkenntnissen, Perspektivenvielfalt, mit der Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft und dem Respekt gegenüber jedem einzelnen Bürger, mit der Bereitschaft zu Entwicklung und Innovation und damit, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen? Alles Werte, die im leistungsorientierten Erziehungsverständnis von Scheuerl und Co. keine Rolle spielen. Zum Glück bleibt er der Bürgerschaft in der kommenden Legislaturperiode erspart. Hamburgs Schullandschaft braucht dringend positive Entwicklung und keine erzkonservativen Stänkerer.

Ein wichtiger Schritt zum gemeinsamen Lernen wurde durch Scheuerl und Co. verhindert. Sicherlich wirkt auch noch ihre schmutzige Öffentlichkeitsarbeit nach, die vor fünf Jahren die Hamburger Schulbehörde verunsicherte.

Ein weiterer Rückschlag für die Inklusion in Hamburg war im Rahmen der Schulreform der Beschluss der Abschaffung der Integrationsklassen, mit der ein langjährig erfolgreiches und deutschlandweit gelobtes Modell gekippt wurde. Statt der Integrationsklassen und integrativen Regelklassen sollte flächendeckend Inklusion stattfinden. Dies war nicht genug durchdacht. Die Probleme häuften sich. Man versuchte wieder die Kompetenzen zu bündeln, indem man sogenannte Schwerpunktschulen festlegte. Diese versuchten dann mit viel weniger Ressourcen das anzubieten, was sie damals im Intergrationsklassen-Modell konnten. Zudem gab es in den letzten Jahren auch noch eine falsche Berechnung der Ressourcen für die Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Sprache und Emotionale Entwicklung, mit denen Hamburger Schulen zusätzlich überfordert waren.

Diese Entwicklungen führten letztendlich dazu, dass immer mehr Eltern von Kindern mit speziellem Förderbedarf wie Sehen, Hören, Geistige oder Motorische Entwicklung und Autismus ihre Kinder aus den Regelschulen raus nahmen und sich bei der Wahl einer weiterführenden Schule für eine Sonderschule entscheiden mussten, weil sich die Lernbedingungen für ihr Kind an Regelschulen verschlechterten. Auch Eltern von Kita-Kindern mit Behinderung wurden verstärkt verunsichert durch diese Entwicklung und entschieden sich deshalb bei der Einschulung gleich für die Sonderschule. Ein sehr trauriger Rückschritt für inklusives Lernen in Hamburg.

Seit 2008 wurden systematisch eine Reihe von Möglichkeiten für die Entwicklung von inklusiven Strukturen in Hamburgs Schulen verschenkt bzw. bewusst verhindert. Kein Wunder, dass die Inklusion derzeit von vielen Beteiligten abgelehnt wird.

Was, wenn er kein Pablo Pineda wird?

Gleich nach der Geburt unseres Sohnes haben mich die Fotos von Conny Wenk total aufgebaut. Zu dieser Zeit waren genau diese Fotos genau das, was ich brauchte. Sie haben mir mehr Mut gemacht als jeder Blog-Text. Immer wieder schaute ich sie mir an. Auch überlegte ich, ob ich mir nicht einen ihrer Kalender kaufe. Sascha wollte so einen Kalender aber nicht. Er fand es schon damals komisch, sich Down Syndrom- Kinder an die Wand zu hängen. Nicht, weil sie nicht hübsch oder niedlich waren, sondern, weil er einfach keinen Kinderfoto-Kalender wollte. Und dann auch noch alles Kindern mit Down Syndrom. Das war ihm ein wenig zuviel Kitsch. Mittlerweile habe ich auch einen etwas anderen Blick auf diese Fotos. Heute frage ich mich immer wieder, warum die Schönheit des Kindes so wichtig ist? Was, wenn mein Kind mit Down Syndrom nicht so cool aussieht wie die auf Conny Wenks Bildern? Ist mein Kind dann nicht geeignet für die Image-Kampagnen der Down-Syndrom-Vereine? Klar will man mit hübschen Fotos das veraltete Bild vom Down Syndrom überwinden. Aber wenn mein Kind mit Down Syndrom eine starke Muskelschwäche hat und einen schlechten Mundschluss ist es doch trotzdem ein auf seine Art einzigartiger wunderbarer Mensch, den es sich zu zeigen lohnt. Dieser Drang, fast täglich viele Fotos des Kindes zu machen, um dann am Monatsende fünf Bilder zu haben, auf denen es ‚glänzt‘ wie ein kleines Modell und, auf dem man das Down Syndrom nicht sieht. Schrecklich.

In ähnlicher Weise hat sich mein Blick auf Intelligenz verändert. Ich weiß noch, dass ich mich nach der Geburt viel mit geistiger Behinderung beschäftigt habe. Es interessierte mich wahnsinnig (auch unabhängig von unserem Sohn), was das eigentlich bedeutet? Wie lernen Menschen mit Down Syndrom überhaupt? Ich dachte früher immer, dass sie einfach langsamer lernen und verstehen. Aber so einfach ist das ja nicht. Und wie sie nun am besten lernen können, das weiß noch immer keiner so genau. Insofern finde ich es sehr spannend, so einen Kandidaten und sein Lernverhalten hautnah miterleben und beobachten zu können. Jedenfalls war nach der Geburt ja klar, dass wir so aufmerksame Eltern sein werden, dass der Junge einmal trotz Down Syndrom die Hochschule erfolgreich absolvieren wird. Gibt ja genug Vorbilder dafür. Sechs Monate nach der Geburt sagte ich dann plötzlich mal in einem schwachen Moment weinend zu meiner Schwester: „Ist ja auch vollkommen egal, ob er das Abitur schafft oder nicht.“ Zwei Jahre nach seiner Geburt dachte ich dann, dass es schön wäre, wenn er einen Hauptschulabschluss bekäme, damit es nicht zu schwer wird, eine Arbeit zu finden. Und erst jetzt (er wird im März 3) sind mir all diese „Ziele“ nicht mehr wichtig. Erst jetzt wird mir auch klar, wie absurd diese schon bei der Geburt eines Kindes vollkommen unbewusst geplanten Bildungswege sind und wie tief sie bei uns drin sitzen. Furchtbar.

Und wenn ich überall immer erzähle, dass es für mich zwei Tabus für unseren Sohn gibt: Förderschule und Werkstatt, dann liegt das nicht daran, dass ich für ihn einen Plan habe, den ich durchziehen will. Nein. Im Gegenteil. Er soll sein Ding machen. Er soll sich wohl fühlen. Irgendwann werde ich da sowieso keinen Einfluss mehr drauf haben.
Eine Förderschule kommt nicht in Frage, weil hier eine Gruppe von Menschen aus dem allgemeinen Schulsystem ausgesondert wird. Diese Ungerechtigkeit und in meinem Verständnis auch dieser Verstoß gegen die Menschenrechte wiegt für mich schwerer als jede paradiesisch ausgestattete Schutz- und Fördermöglichkeit. Bei diesem System möchte ich nicht mitmachen.
Bei der Werkstatt ist es ähnlich. Die Mitarbeiter bekommen dort ein lächerliches Trinkgeld und arbeiten oft 40 Stunden die Woche. Es gibt auch Menschen in Deutschland, für die der Mindestlohn nicht gilt. Auch diese Strukturen will ich nicht unterstützen. Aber wenn er eines Tages kommen und mir signalisieren sollte, dass er dort und nirgendwo anders sein möchte, dann wäre ich ein bisschen traurig. Aber gut, dann ist es eben so. Arbeit ist ja nur das halbe Leben. Dann muss ich vielleicht in die Politik und für seinen gerechten Lohn kämpfen. Vielleicht macht das ja auch schon mal einer vor mir?

Wider die Therapiesucht!

Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sagten einige Bekannte, dass diese Kinder sich heutzutage mit den ganzen (Früh-)Fördermöglichkeiten doch recht gut entwickeln könnten. Ich war geschockt. Zum einen über die Entindividualisierung unseres Kindes (es war für sie kein einzigartiges Baby, sondern ein Down-Syndrom-Kind), zum anderen darüber, dass man mir statt Glückwünsche zur Geburt gleich mal den Tipp gibt, das unperfekte Kind bestmöglicht zu therapieren. Ein Verwandter meinte bei einem Familientreffen sogar ganz besonders eindringlich betonen zu müssen, dass wir uns unbedingt um gute Fördermöglichkeiten kümmern sollten. Damit täten wir uns und unserem Sohn einen riesigen Gefallen, das sei das A und O.

Ich reagierte immer recht wütend auf diese Aussagen. Schon bei unserer Tochter hatte mich genervt, wenn Freundinnen erzählten, dass sie mit ihrem Nachwuchs zur musikalischen Früherziehung oder zum Englisch für Neugeborene gingen. So etwas kam für uns nie in Frage. Und nun sollte ich mich bloß wegen eines zusätzlichen Chromosoms mit diesem ganzen Förderzeug beschäftigen? Das ärgerte mich, denn darauf hatte ich eigentlich keine Lust. Zum Glück ist unser Sohn in Russland geboren und wir sind erst nach Deutschland zurück gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. In Russland beschränkte sich die ärztlich empfohlene Frühförderung auf regelmäßige Massagen. Das war gut, damit konnten wir leben.

Als wir nach Hamburg kamen, schlugen die Therapeuten der Frühförderstelle die Hände über den Kopf zusammen. Anderhalb Jahre keine Frühförderung? Sie waren gespannt, wie das Kind sich da entwickeln konnte. Immer wieder sagten sie, dass die gesamte Entwicklung eines behinderten Kindes von den Eltern abhängig ist. In Russland geboren und keine Frühförderung – da sei ja alles klar.

Da ich neugieirig war, was eigentlich Heilpädagogen mit DS-Kindern machen (das DS kann ja schließlich nicht geheilt werden), war ich einverstanden, dass die Therapeutin abwechselnd zu uns und in die Kita geht. Und da DS-Kinder automatisch Physiotherapie verschrieben bekommen und ich weiß, dass Anatol gerne turnt, habe ich auch das beantragt, obwohl er motorisch sehr fit ist. Nach mittlerweile einem Jahr Heil- und Physiotherapie im Kindergarten würde ich frech behaupten, dass diese beiden Therapien für unseren Sohn nicht notwendig gewesen wären. Die Heilpädagogin hat den Kita-Erzieherinnen und mir ein paar nützliche Tipps gegeben, das wars dann eigentlich auch. Ich will keinesfalls eine Förderung über Therapien in Frage stellen. Ich sage nur, dass es für unseren Sohn vermutlich keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er diese 12 Monate nicht einmal die Woche daran teilgenommen hätte. Und ich bin davon überzeugt, dass seine Physiotherapeutin und seine Heilpädagogin das ebenso einschätzen.

Michael Wunder und Udo Sierck schrieben schon 1981 in ihrem Buch „Sie nennen es Fürsorge“: Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. […] Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. […] Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.

Was ist gegen dieses sich mit Allmacht durchsetzende Therapiedenken zu setzen, ohne in das fatale Fahrwasser zu geraten, notwendige Therapien, Hilfe und Förderung zu verweigern?
Wunder und Sierck forderten ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte.

Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders. Viele Therapeuten beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr Förderung verunsichern. Frühförderung und Sonderkindergärten können aber der Anfang einer lebenslangen Sonderbehandlung sein.

In erster Linie brauchen Kinder Liebe und Normalität. Egal, ob sie das Down Syndrom haben oder nicht. Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht könnte unser Sohn durch gezielteres Gebärdenlernen im Schwimmbad zeigen, wenn er einen Joghurt essen oder auf Elefanten reiten will. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns jedoch kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll, so wie er ist.

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Schule gesucht!

Wir suchen eine Grundschule für unsere Tochter. Daraus wollten wir keine große Sache machen und möglichst die nächstgelegene Schule nehmen. Diese für uns im Wohngebiet zuständige Schule ist die Schule Hinter der Lieth in Eimsbüttel, zu der auch die meisten Kinder aus ihrem Kindergarten gehen.
Bei der „Schuleignungsprüfung“ (mit Viereinhalb) im Januar 2014 hatten wir in dieser Schule gleich gefragt, ob sie dann in drei Jahren auch ihren Bruder, unseren Sohn mit Down Syndrom aufnehmen würden? Das, so dachten wir, sei nach der deutschen Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 selbstverständlich. (Wir wussten natürlich, dass es nur theoretisch selbstverständlich ist. Die Praxis sieht anders aus. Trotzdem gingen wir davon aus, dass keine Grundschule sich mehr grundsätzlich gegen Inklusion stellt. Schon gar nicht, wenn noch drei Jahre Zeit wären.) Die Schulleiterin meinte aber, sie hätten schon einmal eine Anmeldung von einem Jungen „mit dieser Krankheit“ gehabt und haben schon damals den Eltern empfohlen, das Kind auf eine andere Schule zu schicken. Das würde sie auch uns empfehlen. Unsere Tochter würden sie aber sehr gerne aufnehmen, fügte sie noch hinzu.

Die anderen Eltern in der Kita können nicht verstehen, warum diese Grundschule für unsere Tochter und uns nun nicht mehr in Frage kommt. Genauso wenig wie viele unseren Wunsch nicht nachvollziehen können, den Jungen einmal nicht auf eine Sonderschule zu schicken.

Aktuell ist jedoch nun die Schulsuche für unsere Tochter. Es ist ja auch noch ein bisschen Zeit für unseren Sohn. Bis dahin hat sich eventuell in Sachen Inklusion noch einiges in Hamburg getan. Im Oktober 2014 hat sich in Hamburg ein Bündnis aus 23 Organisationen gebildet, das die schulische Inklusion ins Zentrum der Bildungspolitik rücken möchte. Und gerade erst haben Hamburger Eltern von Schulkindern mit Förderbedarf einen Blog ins Leben gerufen, auf dem sie die Schulbehörde und den Senator anhand konkreter persönlicher Erfahrungen darauf aufmerksam machen, in welchen Bereichen die Umsetzung der Inklusion in Hamburgs Schulen noch hinkt.

Es wäre schön, wenn auch unsere Tochter mit Kindern mit und ohne Behinderung zusammen lernen könnte. Und selbstverständlich auch mit Kindern mit verschiedenen Muttersprachen, Religionen, Geldbeuteln, Bildungserfahrungen oder Lebensumständen. Genau diese Vielfalt sehen wir als enorme Bereicherung. Wir haben absolut kein Problem damit, wenn unsere Tochter irgendwelchen Stoff nicht schafft. Es geht uns nicht darum, dass sie so viel wie möglich lernt, sondern darum, dass sie die Dinge versteht, die sie lernt. Genauso wie für unsere Tochter ist uns wichtig, dass alle ihre Mitschüler das Gelernte auch verstehen. Niemand soll zurück bleiben, weder sie noch jemand anderes.

Diese Kriterien scheinen für viele andere Eltern, aber auch für Lehrer und Schulleiter weniger eine Rolle zu spielen, denn die Suche nach einer solchen Schule stellte sich doch als extrem schwierig heraus. Ich schaute mir acht Schulen im Umkreis an Info-Abenden oder an Tagen der Offenen Tür an. Von diesen acht Schulen sind zwei sogenannte Schwerpunktschulen. Das heißt, dass sie Kinder mit Behinderung aufnehmen. Eine dieser beiden Schwerpunktschulen, die ich mir anschaute, war die Eppendorfer Grund- und Stadtteilschule. Leider hat die Grundschule aber gar keine Kinder mit Behinderung. Die andere Schwerpunktschule hat zwar tatsächlich Kinder mit Behinderung, und zwar gibt es in jedem Jahrgang eine Klasse mit vier behinderten Kindern, aber in meinem Gespräch mit einer Sonderpädagogin dieser Schule hörte ich heraus, dass es nicht wirklich ein Konzept für gemeinsamen Unterricht gibt. Wenn es zu schwierig wird, sagte sie, dann nimmt sie ihre behinderten Schüler aus der Klasse raus und dann backen sie gemeinsam oder machen etwas anderes. Hat mich nicht überzeugt. Zumal diese Schule auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr schlecht zu erreichen ist von uns. Dann gibt es noch die Privatschulen, die oft kleine Klassen und einen kindzentrierteren Ansatz haben. Wir schauten uns die Jüdische Schule am Grindelhof an, weil sie ab der 1. Klasse auch Russisch anbietet, die Montessori-Schule am Schlump, weil Montessori-Methoden angeblich ideal für Kinder mit Down Syndrom sind und ich telefonierte mit allen Waldorfschulen in Hamburg, denn wir haben Freunde in Ostdeutschland, deren Kinder mit und ohne Behinderung an Waldorfschulen gut lernen und deren Eltern ganz begeistert sind. Abgesehen davon, dass in keine der genannten Privatschulen in Hamburg Kinder mit Behinderung gehen, schien mir die Elternschaft und ihre Sprösslinge auch sonst nicht gerade vielfältig.

Welche Kriterien sind uns wichtig? Uns ist wichtig, dass die Neugierde der Kinder nicht gebremst wird, dass sie in ihrem Entdeckerdrang unterstützt werden, dass in der Klasse kein ungezügelter Leistungswettbewerb stattfindet, dass die Kinder positiv beim Lernen motiviert werden. Dass die Persönlichkeit der Kinder gestärkt wird. Dass Lernen selbstverständlich gemeinsam oder in wechselnden Kleingruppen stattfindet. Dass soziales Lernen, Wertschätzung von Vielfalt, gemeinsames Gestalten des Schullebens und der Regeln eine wichtige Rolle spielen.
Warum ist es so schwer, eine solche Schule zu finden?

Wir versuchen es nun mit der der Grundschule Vizelinstraße. Dort gibt es (noch) keine Kinder mit einer diagnostizierten Behinderung. Aber die Schulleiterin Nina Löb versteht ihre Schule als eine Schule für Alle, die offen ist für jeden Schüler. Sie und auch die stellvertretende Schulleiterin Stephanie Gondolatsch machen auf mich einen sehr aufgeschlossenen Eindruck. Sie sind überzeugt von Inklusion als eine Bereicherung für alle Schüler. Und die Grundschule Vizelinstraße ist eine von vier Hamburger Grundschulen, die sechsjährig statt vierjährig sind.

Wir sind gespannt.

Warum schulische Inklusion keine Gleichmacherei oder „Sozialromantik“ ist

Die drei häufigsten Argumente gegen schulische Inklusion sind meines Erachtens folgende:
1. Inklusion ist Gleichmacherei.
2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.

Zu 1. Inklusion ist Gleichmacherei.
Inklusiver Unterricht und inklusive Pädagogik ist das genaue Gegenteil von Gleichmacherei. Binnendifferenzierter Unterricht berücksichtigt gerade die Heterogenität der SchülerInnen. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Methoden, z.B. das Arbeiten mit Wochenplänen. In Lerngruppen müssen SchülerInnen beispielsweise ein Thema erarbeiten, das sie gemeinsam zu einem bestimmten Lernziel führt. Binnendifferenzierende Maßnahmen beziehen sich dabei auf die Zugänge zum Lerninhalt, auf die Qualität oder die Quantität der Lernaufgaben und -ziele oder auch auf die Medien. Das bedeutet, dass inklusiver Unterricht ALLEN SchülerInnen zu Gute kommt, sowohl sehr starken als auch sehr schwachen. Hochbegabte Kinder haben z.b. in der Quantität oder Qualität entsprechend andere Aufgaben als sie in herkömmlichen Unterrichtssettings hätten, um das gemeinsame Lernziel zu erreichen und profitieren gerade deshalb auch von dieser Unterrichtsform. Immer wieder hört man von bereits inklusiv arbeitenden Klassen, dass mehr SchülerInnen diese mit einer gymnasialen Empfehlung verlassen als die Regelklassen. Ein weit verbreiteteter Irrglaube ist, dass Kinder mit einer Behinderung automatisch immer die langsamsten, schlechtesten und verhaltensauffälligsten Kinder sind. Fakt ist jedoch, dass sehr viele dieser Kinder auf einer Förderschule völlig unterfordert sind.

Zu 2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
Viele Menschen sind der Meinung, dass Inklusionsbefürworter eine rosarote Brille aufhaben und mit verklärtem Blick eine soziale Utopie herbeisehnen.
Behinderung ist jedoch kein individuelles Problem. Viele Menschen mit Behinderung sind davon überzeugt, dass sie erst durch die Gesellschaft und durch Barrieren wie z.B. Treppenstufen, schwere Sprache, Ungleichbehandlung und Vorurteile behindert werden. Wird Inklusion als „Sozialromantik“ abgetan, werden Diskriminierungen als akzeptierte Normalität wahrgenommen. Es entsteht die Botschaft, dass ausgrenzendes Verhalten, egal ob von Menschen oder Institutionen ausgehend, in Ordnung ist.
Schulische Inklusion ist auch keine Illusion mehr, denn es gibt mittlerweile zahlreiche Beispiele dafür, dass gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern erfolgreich gelingen kann. Eine Illusion ist stattdessen das Warten vieler Schulen/PädagogInnen auf DIE optimalen Bedingungen bevor man sich überhaupt an Kinder mit Behinderungen „heranwagt“. Natürlich sind unbedingt genügend räumliche, sächliche und personelle Ressourcen notwendig. Wichtig sind aber vor allem Fort- und Weiterbildungen. LehrerInnen müssen Formen der inneren Differenzierung, inklusive Didaktik und individualisierte Lernformen kennen. Denn ohne dieses Wissen nutzen auch kleinere Klassen nichts. Das Fundament inklusiven Unterrichtens bildet jedoch die Haltung. Inklusive Lern- und Lehrprozesse müssen reflektiert werden. Wer mit jungen Menschen arbeitet, bringt immer auch seine eigenen Prägungen, Positionen und Vorstellungen mit ein. Eine demokratische Grundhaltung sowie die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt ist für die Umsetzung eines erfolgreichen gemeinsamen Unterrichtes elementar.

Zu 3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.
Wie in Punkt 1. bereits erwähnt, kommt inklusiver Unterricht auch hochbegabten Kindern zu Gute. Die Lehrergewerkschaft GEW stellte schon 2006 fest: Ein Glaubenssatz deutscher Schulpolitik ist empirisch widerlegt, dass nämlich in Klassen mit gleich leistungsstarken Schülern mehr gelernt werde als in solchen mit einer großen Leistungsstreuung.
Viele Studien belegen, dass SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten in inklusiven Klassen vor allem ihre fachlichen Kompetenzen ausbauen, während leistungsstarke SchülerInnen vor allem im Bereich der sozialen Kompetenzen profitieren. Im Sinne eines demokratischen Bildungsverständnisses mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe Aller sind diese Ergebnisse als positiv zu bewerten. (weitere Infos dazu siehe: Inklusionsfakten)

Gedanken zur Heilpädagogik

Der wichtigste Grundgedanke der Heilpädagogik ist die „Ganzheitlichkeit“. Aus dem heilpädagogischen Blickwinkel ist nicht allein die Behinderung, sondern der ganze Mensch (mit seinen Fähigkeiten, Problemen und Ressourcen, sowie seinem sozialen Umfeld) bei der Bearbeitung und Lösung von Problemstellungen zu betrachten und einzubeziehen. Man könnte die Heilpädagogik auch ganzheitliche Defizitorientierung nennen.

Diese ganzheitliche Herangehensweise birgt für mich noch andere Schwierigkeiten:
1. Wenn ein „Klient“ überhaupt nicht ganzheitlich betrachtet, verstanden, begleitet oder behandelt werden möchte.
2. Es muss ein totalitäres Entwicklungs- und Erziehungsideal geben, nach dem ein Heilpädagoge einen Klienten betrachtet und daraufhin seinen „Behandlungsplan“ erstellt. Was, wenn dies nicht mit dem Ideal des Klienten übereinstimmt?
3. Ganzheitlichkeit und Professionalität sind m.E. schwer vereinbar.
4. Das dritte 21. Chromosom kann nicht „geheilt“ werden. Es wird für immer bleiben.

Es bleibt vom Begriff der Ganzheitlichkeit meiner Meinung nach der Versuch, die Mehrdimensionalität des Lebens bzw. der Entwicklung eines Menschen irgendwie als Zusammenhang zu organisieren. Und genau hier, nämlich in der Organisation, sehe ich den Hauptnutzen von „Heilpädagogik“: Unübersichtlichkeit (z.B. von verschiedenen Therapieformen, Lernmethoden, Schulformen, Behörden) für den Klienten zu reduzieren und diesbezüglich zu beraten. Habe jedoch das Gefühl, dass gerade dies für viele Heilpädagogen, während sie eifrig damit beschäftigt sind, ganzheitliche Entwicklungsberichte und Behandlungspläne zu schreiben, eher eine geringere Rolle spielt.

Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wäre Inklusion absurd

Inklusion hat nichts mit Menschen mit Behinderungen zu tun. In erster Linie hat sie mit den Menschen zu tun, die sich anmaßen, sich selbst und ihresgleichen zur Norm zu setzen. Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wären alle Menschen sowieso gleichberechtigt.

Inklusion wird meist mit Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht. Man sagt, dass nun auch ein autistisches Kind eine Regelschule besuchen „darf“. Aber ein Kind darf nicht „dürfen“, sondern geht selbstverständlich in eine Regelschule! Oft heißt es: Inklusion hilft den Schülern mit Behinderungen. Das stimmt nicht. Sie hilft vor allem den Schulen selbst. Das heillos veraltete deutsche Schulsystem ist so marode, dass ihm nichts besseres passieren kann, als auf diesem Weg Modernisierung einzuleiten. Jede Schule, die sich vor dieser grundlegenden Veränderung sträubt, wird wohl früher oder später nicht mehr existieren können. Allen voran wird die handvoll Schulleiter sein, die dies schon längst kapiert haben.

Aber, um dieses, seit Jahrtausenden zur-Norm-Gesetzte zu überwinden, reicht es nicht aus, sich mitten in die Norm hinein zu setzen und ein bisschen mitzumachen. Man braucht auch Mut und Souveränität, um die alten Strukturen zu sprengen. Es geht nicht darum, dass ein Kind sich in der Schule anpasst, alle Regeln befolgt und bloß nicht auffällt. Es muss die Schule sein, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden muss, wenn sie sie auf eine, für die Gesellschaft nützliche, zukünftige Arbeit vorbereiten will. Es muss immer Regeln geben, aber die müssen gemeinsam mit den Kindern im Klassenverband ausgehandelt werden. Und wer auffällt durch Stören muss die Möglichkeit einer Auszeit bekommen. Jeder von uns kann sich für ein anderes Lernen einsetzen. Nicht, weil es in Zeiten der Inklusion unser Recht wäre, sondern, weil die Zeit dafür gut ist, die Norm abzuschaffen.

 

Inklusion ist keine gute Sache, sie ist selbstverständlich

Das Erste, was mir nach der Geburt unseres Sohnes geraten wurde, war: „Nehme Kontakt auf zu anderen Eltern mit behinderten Kindern!“ Relativ häufig kann man auch Aussagen lesen wie „Ein Kind mit Behinderung erweitert den Horizont.“. Das sehe ich anders.

Obwohl es für mich nach Anatols Geburt in erster Linie wichtig war, ALLE (;-) Informationen zur Trisomie 21 zu bekommen, befolgte ich den gut gemeinten Rat. Da er in Irkutsk geboren wurde, nahm ich also Kontakt zu Irkutsker Müttern auf, von denen die meisten noch immer im „Schock über das behinderte Kind“ waren/sind. Obwohl diese Mütter schon ältere Kinder hatten, fand ich mich also nach der Geburt in der Rolle wieder, diese Mütter von der Normalität ihrer Situation zu überzeugen und stachelte sie auf, die Irkutsker Stadtverwaltung von der natürlichen Teilhabe ihrer Kinder am Bildungssystem zu überzeugen und damit für ihr Recht auf Arbeit zu kämpfen. Denn alle diese Mütter konnten nicht arbeiten gehen, weil es einfach keine „normale“ Kinderbetreuung für ihre Sprößlinge gab. Alle Mütter gingen davon aus, dass Deutschland das Paradies für Behinderte ist und, dass in Deutschland niemand, nach der Geburt eines behinderten Kindes, Grund dafür hat, traurig zu sein. Auch ich begann, die rechtliche Situation, die Gesundheitsversorgung und den Umgang mit Behinderten in Deutschland zu verherrlichen. Als ob es DIE einheitliche Gruppe von Behinderten gäbe. Und als ob es DEN einheitlichen Umgang mit ihnen gäbe. Doch so paradiesisch ist es hier gar nicht.

Dann las ich hunderte von Blogs von Eltern mit Kindern mit DS, in denen diese wie kleine Heilige beschrieben werden, die alle Mitmenschen glücklich machten, als ob sich Eltern nicht sowieso über jeden Schritt, den ein kleines Wesen macht, freuen würden. Und als ob, wie Birte Müller mal beschrieb, DS-Kindern die Sonne aus dem Arsch scheine.

Dann schickte mir ein befreundeter Sonderschullehrer, den ich im übrigen sehr schätze, viele links zu Dokus oder Artikeln, warum Kinder mit Behinderungen ihren geschützten Raum bräuchten und, warum man die Sonderschulen erhalten sollte. Das sehe ich anders. Menschenrechte und Inklusion sind unteilbar. Und hier noch weitere Argumente, warum ein gemeinsamer Unterricht selbstverständlich ist.

Wieso sollte es eigentlich so etwas wie eine Gruppenidentität von Eltern mit behinderten Kindern, von Sonderpädagogen oder von Behinderten geben? Ich identifiziere mich nicht mit Menschen, die eine Sonderschule befürworten, egal, ob sie Erfahrung mit Behinderten haben oder selbst behindert sind. Ich identifiziere mich auch nicht mit Eltern, die sich oder ihr Kind bemitleiden. Und schon gar nicht identifiziere ich mich mit Eltern, die aus Angst vor einem weiteren behinderten Kind, keine Kinder mehr bekommen wollen. Diese Eltern sprechen auch davon, dass ein Kind mit Behinderung den Horizont erweitere, als ob es Kinder gäbe, die den Horizont nicht erweitern würden. Soll diese Glorifizierung eines behinderten Kindes ein Schutz gegen die gesellschaftliche Ablehnung sein? Versteh ich nicht.

Ich bedaure sehr, dass in meiner Schule keine Schüler oder Lehrer mit auffälligen Behinderungen waren. Ich bedaure, dass es dort kaum Schüler oder Lehrer mit Migrationshintergrund gab. Dass niemand offen homosexuell sein konnte. Dass der Direktor und sein Stellvertreter männlich waren und, dass die Schule sich noch heute als Elitegymnasium brüstet. Eine solche Schule wünsche ich niemandem. Eine Elite-Schule kann für mich nur noch eine Schule für Alle sein.Und nun möchte ich, dass unsere Tochter in eine bunte Hamburger Schule kommt. Any suggestions?

Aber zurück zur Gruppenidentität. Ich finde es sehr schade, dass es noch so viele Menschen gibt, für die Inklusion nichts weiter als ein schönes Konstrukt ist. Es ist für mich ein ziemlich billiges Argument, zu behaupten, dass Inklusion theoretisch ja super toll ist, aber praktisch nicht funktioniert. Meist wird dann noch mit irgendwelchen Rahmenbedingungen, die nicht gegeben sind, argumentiert. Das ist genauso, wie, wenn sich mein Nachbar über DAS System beschwert. Jeder von uns hat in seinem Leben Spielräume, in denen er bewusst Entscheidungen treffen kann. Inklusion ist keine gute Sache, die eingeführt werden muss. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft, in der kein einziger Mensch fremdbestimmt werden darf und, der auch ich mich zugehörig fühlen möchte.

Würde man nur mit halb so viel Energie wie man die Selektion in Deutschland perfektioniert, Diversität perfektionieren wollen, dann wäre die Umsetzung von Inklusion auf politischer Ebene ein Kinderspiel.

 

Wie man sich noch tiefer in die Bildungskrise schießt – Ein Bericht aus der russischen Provinz

Heute wurde den Mitarbeitern und Studierenden der Irkutsker Staatlichen Linguistischen Universität (ISLU) zum zweiten Mal aufgetragen, bei der freien und geheimen Abstimmung für den Zusammenschluss mit der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität (MSLU) zu stimmen. 89% der Mitarbeiter und ungefähr genauso viele Studenten waren demnach mit einer ungewissen Zukunft ihrer Bildungseinrichtung einverstanden, denn konkrete Vorhaben werden laut Rektorin der MSLU Khaleevea erst noch ausgearbeitet. Wie die Presse berichtet, versprach Khaleeva den Studenten höhere Stipendien (viele russische Studenten studieren kostenlos, wenn sie entsprechend gute Noten bekommen, die Erlassung der Studiengebühren und ein klitzekleines monatliches Taschengeld springen dabei heraus – hier muss erwähnt werden, dass fast alle Studierenden gute Noten bekommen, denn das Lehrergehalt hängt auch von der „Leistung“ der betreuten Studierenden ab). Außerdem versprach sie die Wiedereinführung einer Fakultät für millitärische Ausbildung.

Bereits vor einem Monat war bei vesti.irk.ru zu lesen, dass die Baikaluniversität für Wirtschaft und Recht in Irkutsk ab September 2013 Spezialeinheiten für den russischen Geheimdienst FSB, für das russische Innenministerium, den Föderalen Dienst für den russischen Strafvollzug und anderen Sicherheitsbehörde ausbilden wird. Hier sollen die Studenten nicht nur Gesetze und Sicherheitsmaßnahmen kennenlernen, sondern auch Techniken der Strafverfolgung und den Gebrauch von Waffen. „Nach der fünfjährigen Ausbildung werden die Studenten nicht nur in der Lage sein, alle Aufgaben, die ihnen zugetragen werden, mit Logik und Vernunft zu erfüllen, sondern auch das nötige Handwerkszeug, sprich die Waffen, anwenden können“, schwärmt der Dekan der Fakultät für Staats- und Völkerrecht (der gleichzeitig Polizeioberst ist) Wladimir Moizeew.

Der Zusammenschluss der ISLU mit der MSLU wurde mit einem „Приказ“ (Befehl) des Russischen Bildungsministeriums am 15. März bereits besiegelt. Nun kam jedoch dazwischen, dass sich der Bildungsminister Liwanow momentan in einer denkbar schlechten Lage befindet, denn nicht nur das russische Parlament, sondern auch Bildungseinrichtungen des gesamten Landes, wie z.B. die Irkutsker Akademie der Wissenschaften fordern mittlerweile den Rücktritt des Ministers, der sich in seinem Amt seit Monaten diverser Korruptionsvorwürfe stellen muss.

Auf die Frage einer älteren Professorin für Germanistik der ISLU, ob Khaleeva den Mitarbeitern in dieser Situation nicht Mut machen bzw. irgendeine Garantie bieten kann, dass ihre Arbeitsplätze auch nach dem Zusammenschluss mit der MSLU erhalten bleiben (denn bis 2018 soll die Hochschule „wirtschaftlich effektiv“ arbeiten), antwortete die Moskauer Rektorin: „Wollen Sie mein Ehrenwort im Namen unserer Partei ‚Einheitliches Russland‘ oder welche Art von Garantie erwarten Sie?“

Meine Studenten können ihren Unmut über diese Situation kaum noch zurück halten. Ihnen fehlt jegliche Motivation für das Lehramtstudium, mit dem sie ja doch keine Arbeit finden, von der sie sich ernähren können und demnach leider darauf angewiesen sein werden, einen besserverdienenden Lebenspartner zu finden. Als ich mich neulich vor ihnen darüber lustig machte, dass die tägliche Reklame an der ISLU von Irkutsker Firmen, die Haus- und Diplomarbeiten für die Studenten schreiben, auf Kopierpapier gedruckt ist, das auf der Rückseite Verträge mit Studenten mit allen persönlichen Angaben zeigt, schaute die halbe Gruppe mit roten Köpfen nach unten.

Ich frage mich, warum alle so pessimistisch sind? Die Germanistikprofessorin kann schließlich zur Millitärfakultät wechseln. Und bis 2018 kann sie schon mal lernen, in der gerade frisch eröffneten Schießbudenkette „Patriot“, die sich im Zentrum der Stadt ausbreitet, ihre Fragen etwas nachdrücklicher zu formulieren.

Schießbude Patriot Irkutsk

Frühlingsschlamm

Gestern bekommen wir ein Brief unserer Kinderklinik mit dem „Jahresbericht“ unser betreuenden Kinderärztin in die Hand gedrückt, in dem uns vorgeworfen wird, wir würden die Gesundheit unseres Kindes gefährden, da wir fast nie die Medikamente geben, die uns verschrieben werden. Angefangen hat der ganze Spaß mit der Neurologin dieser Klinik, die uns gleich nach der Geburt letztes Jahr im März dauerhaft Encephabol zur Steigerung der Gehirnaktivität verschrieben hat. Wir hatten nicht nur die Frechheit, die Empfehlung der Ärztin in Frage zu stellen und die Dauerkur zu verweigern, sondern ich drückte der Kinderärztin auch noch einen ins Russische übersetzen Artikel zur umstrittenen Wirksamkeit dieses Medikamentes in die Hand, um unsere Verweigerung zu erklären. Später erschien mir das ziemlich arrogant ihr gegenüber. Eine russische Bekannte sagte, wir hätten einfach so tun sollen, als ob wir das Zeug regelmäßig geben. Weiter ging es mit diversen Antibiotika, die uns im Laufe des letzten Jahres nicht nur bei Husten, sondern auch prophylaktisch verschrieben wurden, wenn ein anderes Familienmitglied krank war.

Dann lese ich gestern auch noch diesen bescheuerten Artikel in DIE ZEIT über Inklusion an deutschen Schulen und lerne daraus, dass ich ein inklusives Schulmodell nur befürworte, weil ich selbst „betroffen“ bin. Auch weiß ich jetzt, dass Eltern eigentlich ein Problem hätten, wenn sie ihre „verhaltensgestörten“ Kinder auf eine Regelschule schicken und, dass dieses ganze Inklusionsvorhaben nur „die Welt für Behinderte ein bisschen besser machen will“. Interessant auch zu erfahren, dass ich nicht in der Wirklichkeit lebe.

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Nach diesem Frühling muss mal wieder was Schönes kommen.