Es braucht ein ganzes Dorf ein Kind großzuziehen

Seit ein paar Wochen fährt Tolja (10) Fahrrad ohne Stützräder. Heute habe ich meiner Mutter ein Video gesendet, wie er sogar um Kurven fährt ohne abzusteigen oder anzuhalten. Ich bin sehr stolz auf ihn, ein weiterer Meilenstein ist geschafft.

M.: Das sieht super aus.
Ich: Finde ich auch. Er kommt gut damit klar.
[…] Aber er hält nicht lange durch. Nach spätestens 300 m ist er k.o. und kann nicht mehr.
M.: Oh.
Ich: Richtig mit einem Ziel sind wir noch nie gefahren. Immer nur die Straße rauf und runter.
M.: Geht das Treten bei dem Fahrrad vielleicht zu schwer?
Ich: Eigentlich nicht. Ich glaube es liegt daran, dass er grundsätzlich wenig Ausdauer hat.
M.: Na dann muss er trainieren. Das ist Übung.
Ich: Hier in der Nähe wohnt ein 15-jähriges Mädchen mit Down Syndrom, das in Anatols Schule geht und jeden Tag allein mit dem Fahrrad zur Schule fährt.
M.: Nee, ich fass es nicht. Toll.
Ich: Ja, man müsste sehr viel Üben. Aber nach dreimal die Straße rauf und runter fahren hat er keine Lust mehr.
M.: Vielleicht dreimal Treppen rauf und runter oder drei Runden um das Haus oder den Garten jeden Tag….
Ich: Du weißt ja wie es ist: er macht alles mit, wenn er dauerhaft einen persönlichen Motivationscoach an seiner Seite hat, der ihm wohl gesonnen und lieb zu ihm ist. Ich war die letzten 11 Jahre seine Animateurin. Aber ich habe glaube keine Kraft das die kommenden 20 Jahre in dieser Intensität so weiter zu machen.
M.: Ja, das kann ich verstehen und auch sehr gut nachvollziehen.
Wenn er das nächste Mal zu uns kommt, werde ich versuchen ihn bei meinem täglichen Gehtraining davon zu überzeugen mit zu machen. Mal sehen.

Ich: Danke Mama.

Das leichteste der Welt

Für die nächste KIDS aktuell werden persönliche Berichte von Eltern gesucht: man soll über die „Hindernisse auf dem Weg zur Annahme des behinderten Kindes“ berichten. Etwas wollte ich dazu schreiben.

Nie hatte ich besonders große Schwierigkeiten gehabt, unseren Sohn mit Down Syndrom anzunehmen. Eher hatte ich Schwierigkeiten meinen Egoismus und meine Selbstbezogenheit zu überwinden. Die habe ich heute noch. Mutterschaft an sich stellte ich mir schon immer aufwendig vor, das Leben mit einem behinderten Kind, so dachte ich, ist mir einfach viel zu anstrengend. Ich wollte Arbeiten gehen, Ausgehen, Reisen und Sport machen, mich gesellschafts-politisch engagieren, meine Kinder sollten nebenbei groß werden. Bloß keine Übermutter sein, die ständig um die Kinder schlawenzelt und nur noch von ihnen redet. Musikalische Frühförderung, stundenlange gemeinsame Gesellschaftsspiele oder selbst genähte Kleider kamen für mich nicht in Frage. Eigentlich wollte ich immer mein Ding machen und die Kinder einfach überall mit hinschleppen.

Dann kam zuerst unsere Tochter zu früh zur Welt. So ein Mist. „So nebenbei“ war nicht mehr drin nachdem mir meine Cousine einen wissenschaftlichen Artikel über mögliche psychische Beeinträchtigungen bei Frühgeburten schickte. „Nur so zur Info, falls es dich interessiert“, schrieb sie. Vor diesem Artikel hatte ich an sowas überhaupt niemals gedacht. Nun veränderte er mein ungezwungenes Muttersein. Ich versuchte also fortan das schlechte Gewissen über die Frühgeburt mit gaaanz viiieeel Nähe, Aufmerksamkeit und Verwöhnen auszugleichen. Dann war das Mädchen zwei Jahre alt, aus dem Gröbsten raus, entwickelte sich prächtig, erwies erst einmal keinerlei Anzeichen von Störungen und ich war wieder schwanger, so dass der ursprüngliche Plan „Die Kinder nebenbei.“ erneut von mir aufgenommen wurde.

Aber dann kam der Junge. Mit Überraschung. Mit Down Syndrom. Wieder Mist. Wieder alles anders als geplant. Diesmal zwar kein schlechtes Gewissen, aber das Kind müsse umfangreich gefördert werden, sagten sie alle. Ich glaubte es nicht. Was war mit meinem Ding? Eine gute Mutter ist doch eine zufriedene Mutter, oder?. Ich bin keine zufriedene Mutter wenn ich jeden Tag mich und das Kind mit einer Therapiestunde quäle. Erst traute ich mich nicht das durchzuziehen. Es ist hart entgegen aller Empfehlungen ohne Förderung leben zu wollen. Aber es musste sein und Sascha ermutigte mich dabei. Ich hatte schlicht keine Lust darauf, unsere schöne Mutter-Kind-Beziehung mit „Übungen“ zu verunsichern. Und mit der Behinderung bzw. Entwicklungsverzögerung an sich hatte ich ja kein Problem. Nur manchmal im Vergleich mit Gleichaltrigen bin ich ein bisschen neidisch. Aber ich selbst bin nie unter Leistungsdruck aufgewachsen, wurde immer bedingungslos geliebt. Das ist für mich auch selbstverständlich für unsere Kinder. Natürlich machte mir das Down Syndrom anfangs etwas Angst wie alles vollkommen Fremde. Aber wie mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur bei Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer war es auch damit so, dass die Angst immer kleiner wurde je näher das Down Syndrom kam und je mehr ich mich damit beschäftigt hatte. Viel viel mehr und länger ängstigten mich Gedanken an meine Freiheit bzw. mögliche Unfreiheit durch dieses Kind, so dass ich lange zwischen Über- und Rabenmutter hin- und hergerissen war bis auch der Junge endlich für mich aus dem Gröbsten raus war.

Geschafft!

Und als ich dann die Freiheit kommen spürte, zog der Mann aus. Und wieder alles anders. Er sagte plötzlich, dass ich IHN nicht so akzeptieren würde wie er ist. Er könne in meiner Nähe nicht mehr atmen, sagt er. Wie? Was? Wieso? Warum? Weshalb? Kapierte ich nicht. Bedingungslose Liebe galt doch erst recht immer für ihn. Meinem Traummann, dem Vater dieser wundervollen Kinder.

Mit den Kindern habe ich schließlich dann auch verstanden, wie schön es sein kann, von anderen Menschen abhängig zu sein, was eine neue Form des Vertrauens und Liebens ermöglicht, eine Freiheit in Bezogenheit wie Antje Schrupp so schön formuliert.

Unser Sohn hat auf mich eine therapeutische Wirkung: bei all den täglichen Zweifeln und dem Ringen ums gute und ums ÜberLeben ist der kleine Mensch mit dem zusätzlichen 21. Chromosom ein richtiges Zauberwesen, das mich extrem erdet und mir unglaublich gut tut…

…während unsere Tochter die Kluge ist, die mit dem starken Willen, die mir andauernd mit der Heugabel in die Seite piekt oder mit der Schippe voller Wucht auf den Kopf haut, wenn ich sie verbiegen will. Wie der Mann. Ihr seid alle drei wundervoll.

Ich muss…

euch einfach lieben <3 <3 <3

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Mehr Liebesgeschichten!

Habe gerade eine ganz wunderschöne Geschichte von Iren auf ihrem Blog Fairy Bread gelesen. Es geht um einen jungen Mann mit Down Syndrom, Beslim, der aus dem Kosovo mit seinen Eltern nach Österreich kam, dort die attraktive Remzie kennenlernte und mit ihr zwei tolle Kinder bekommen hat. Bin ganz gerührt. Möchte mehr solcher Liebesgeschichten!