Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Ein Jahr Krippe – Erfahrungsbericht

Im August 2013 sind wir nach Hamburg gezogen. Schon ein Jahr zuvor hatte ich im Internet nach einer geeigneten Kita gesucht. Da Lili Russisch spricht, war uns eine zweisprachige Kita wichtig. Gleichzeitig wollten wir Anatol aber möglichst in der gleichen Kita unterbringen, die zudem idealerweise schon Erfahrungen mit Kindern mit Behinderungen hatte. Eine unmögliche Kombi, dachte ich zunächst. Aber nein. Wir fanden bald die deutsch-russische Integrationskita „Mucklas“ in Hamburg Lokstedt. Da wir damals in Russland lebten, konnte ich nur über E-Mail Kontakt mit der Kita-Leiterin Renate Rieger aufnehmen. Frau Rieger war unseren Kindern gegenüber von Anfang an aufgeschlossen, schrieb mir, dass regelmäßig eine Physiotherapeutin und eine Logopädin in ihren Kindergarten kommen, ermutigte mich, es zu versuchen und freute sich, uns kennenzulernen. Von Anfang an war mir diese Aufgeschlossenheit sympathisch. Und tatsächlich suchten wir dann auch eine Wohnung in Kita-Nähe und hofften, dass es dann auch wirklich dort so klappt, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Für mich war klar, dass Anatol in die Krippe gehen wird wie jedes andere Kind. Zum einen wollte ich arbeiten gehen, zum anderen bin ich davon überzeugt, dass die meisten Kleinkinder vom frühen Umgang mit anderen Kindern profitieren. Die Frage war für mich also nie, ob Anatol in die Krippe gehen wird, sondern wo und wie ich ihn guten Gewissens lassen kann. Bei ihm hatte ich wahrscheinlich aufgrund seiner Behinderung diesbezüglich mehr Ängste als zuvor bei seiner Schwester.

Die Kita Mucklas hatte einen von 33 Anträgen gestellt, die von August bis Dezember 2013 in der Hamburger Behörde für Kinder mit Behinderungen zwischen dem vollendeten ersten und dem vollendeten zweiten Lebensjahr eingereicht wurden. Bei uns zog sich die Bearbeitung leider sehr lange hin, da wir einige Unterlagen (z.B. die amtliche Feststellung der Trisomie 21, auch Arztberichte) nur in russischer Sprache hatten. Zudem waren wir zu diesem Zeitpunkt noch privat versichert, weswegen die Erstellung eines Behandlungsplans über die Frühförderstelle nicht möglich war, wie wir erfuhren. Schließlich bekamen wir im Februar 2014 zehn Stunden pro Woche bewilligt. Die Kita stellte sehr schnell eine zusätzliche Erzieherin ein, so dass sich Anatols Bezugsperson, die ihn als (Heil-)Erzieherin von Anfang an betreute, täglich zwei Stunden voll auf ihn konzentrieren kann. Da Anatol wie seine Schwester von 9 bis 15 Uhr in die Kita geht, einigten wir uns auf eine Intensivbetreuung während der Hauptaktivität von 10 bis 12 Uhr täglich.

Aber zurück zum Anfang. Die Eingewöhnung im August 2013 lief für Anatol problemlos. Ich als Mutter war nach den ersten Tagen jedoch fix und fertig. Ich erfuhr, dass 16 Kinder von einer Russisch sprechenden Erzieherin und einer Deutsch sprechenden Heilerzieherin betreut werden. Selbst für pflegeleichte Kinder ein unmöglicher Personalschlüssel, dachte ich. Zumal unsere Große in Russland in einem kleinen Privatkindergarten war, in dem 2 Erzieherinnen 8 Krippenkinder betreuten. Dort waren wir verwöhnt. Nun sollte gerade Anatol mit so vielen Kindern zurecht kommen? Ich war skeptisch. Ich saß am Rand und wusste, solange ich anwesend bin, ist er auf mich fixiert. Da er jedoch schon immer sehr kontaktfreudig war, dauerte es nicht lange, bis er sich unter die Kinder traute. Es herrschte ein großes Gewusel, es war für mich laut, es war für mich unübersichtlich. Irgendwo mittendrin krabbelte Anatol durch dreißig Kinderbeine. Und nach dem Frühstück aß er dann alle Essensreste vom Boden auf. Er war glücklich. Ich war geschockt. Meiner ernsthaften Überlegung, den armen Anatol in eine kleine kuschelige Privatgruppe zu geben, stand das Argument meines Mannes, ich würde meine eigenen Ängste und meine Überforderung auf das Kind übertragen und der Eingewöhnung nicht genug Zeit lassen, gegenüber. Und Anatol selbst fühlte sich tatsächlich wohl in der Gruppe, das musste ich zugeben. Ich ließ dem Ganzen also Zeit und entwickelte auch immer mehr vertrauen in seine Erzieherinnen, die ja auch die ersten Monate ohne pädagogische Zusatzkraft so viel getan hatten, dass der kleine Mensch sich wohl fühlt. Schon vier Wochen nach Eintritt in die Kita begann er zu laufen. Auch das selbstständige Essen und Trinken lernte er dort. Und vor einem Monat überraschte er mich in der Kita-Eingangshalle, als er problemlos auf einem kleinen Laufrad fuhr. Diese Fortschritte bestätigen mir, dass die Entscheidung für diese Kita in unserem Fall absolut richtig war.

Die Kita Mucklas kooperiert mit dem Haus Mignon, einer Frühförderstelle, bei der Kinder bis zum dritten Lebensjahr halbjährlich untersucht werden und ihren Betreuungs- und Behandlungsplan bekommen. Hier wurde eingeschätzt, dass Anatol einmal pro Woche Physiotherapie bekommen soll (was in der Kita stattfindet) und einmal pro Woche Heilpädagogische Betreuung (bei uns abwechselnd in Kita und Zuhause). Manchmal denke ich, ich hätte gerne gesehen, was die Physiotherapeutin mit dem Jungen macht, um Anregungen für zu Hause zu bekommen. Das ist der Nachteil einer Therapie in der Kita. Da er motorisch jedoch ziemlich gut aufgestellt ist, möchte ich mir auch zusätzlich keinen Stress machen. Ich denke, das Wichtigste ist eine gute Kommunikation zwischen Erzieherinnen, Therapeutinnen und Eltern. Und das funktioniert bei uns sehr gut.

Insgesamt hat sich Anatol nach nun neun Monaten super in der Gruppe eingelebt. Er freut sich jeden Morgen, wenn ich ihn in die Gruppe bringe, auch hat er dort Freunde, mit denen wir uns manchmal nach der Kita verabreden. Und die Heilpädagogin bestätigte mir, dass er in der Gruppe einen sehr ausgeglichenen Eindruck macht und überall dabei ist. Wenn es zu viel für ihn wird, dann setzt er sich irgendwo allein hin und guckt ein Buch an, macht etwas für sich oder sucht die Nähe zur Erzieherin.

Im Nachhinein bin ich davon überzeugt, dass wir ihn nicht schonen brauchen, sondern im Gegenteil, ihm sehr viel zutrauen können. Denn er entwickelt sich bislang genau so ganz prächtig.

Die Kita Mucklas würde sich übrigens über weitere Integrationskinder freuen.

Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol (rechts) mit seinen Kita_Freunden
Anatol (rechts) mit seinen Kita-Freunden Xavier und Younes

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