Wider die Therapiesucht!

Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sagten einige Bekannte, dass diese Kinder sich heutzutage mit den ganzen (Früh-)Fördermöglichkeiten doch recht gut entwickeln könnten. Ich war geschockt. Zum einen über die Entindividualisierung unseres Kindes (es war für sie kein einzigartiges Baby, sondern ein Down-Syndrom-Kind), zum anderen darüber, dass man mir statt Glückwünsche zur Geburt gleich mal den Tipp gibt, das unperfekte Kind bestmöglicht zu therapieren. Ein Verwandter meinte bei einem Familientreffen sogar ganz besonders eindringlich betonen zu müssen, dass wir uns unbedingt um gute Fördermöglichkeiten kümmern sollten. Damit täten wir uns und unserem Sohn einen riesigen Gefallen, das sei das A und O.

Ich reagierte immer recht wütend auf diese Aussagen. Schon bei unserer Tochter hatte mich genervt, wenn Freundinnen erzählten, dass sie mit ihrem Nachwuchs zur musikalischen Früherziehung oder zum Englisch für Neugeborene gingen. So etwas kam für uns nie in Frage. Und nun sollte ich mich bloß wegen eines zusätzlichen Chromosoms mit diesem ganzen Förderzeug beschäftigen? Das ärgerte mich, denn darauf hatte ich eigentlich keine Lust. Zum Glück ist unser Sohn in Russland geboren und wir sind erst nach Deutschland zurück gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. In Russland beschränkte sich die ärztlich empfohlene Frühförderung auf regelmäßige Massagen. Das war gut, damit konnten wir leben.

Als wir nach Hamburg kamen, schlugen die Therapeuten der Frühförderstelle die Hände über den Kopf zusammen. Anderhalb Jahre keine Frühförderung? Sie waren gespannt, wie das Kind sich da entwickeln konnte. Immer wieder sagten sie, dass die gesamte Entwicklung eines behinderten Kindes von den Eltern abhängig ist. In Russland geboren und keine Frühförderung – da sei ja alles klar.

Da ich neugieirig war, was eigentlich Heilpädagogen mit DS-Kindern machen (das DS kann ja schließlich nicht geheilt werden), war ich einverstanden, dass die Therapeutin abwechselnd zu uns und in die Kita geht. Und da DS-Kinder automatisch Physiotherapie verschrieben bekommen und ich weiß, dass Anatol gerne turnt, habe ich auch das beantragt, obwohl er motorisch sehr fit ist. Nach mittlerweile einem Jahr Heil- und Physiotherapie im Kindergarten würde ich frech behaupten, dass diese beiden Therapien für unseren Sohn nicht notwendig gewesen wären. Die Heilpädagogin hat den Kita-Erzieherinnen und mir ein paar nützliche Tipps gegeben, das wars dann eigentlich auch. Ich will keinesfalls eine Förderung über Therapien in Frage stellen. Ich sage nur, dass es für unseren Sohn vermutlich keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er diese 12 Monate nicht einmal die Woche daran teilgenommen hätte. Und ich bin davon überzeugt, dass seine Physiotherapeutin und seine Heilpädagogin das ebenso einschätzen.

Michael Wunder und Udo Sierck schrieben schon 1981 in ihrem Buch „Sie nennen es Fürsorge“: Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. […] Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. […] Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.

Was ist gegen dieses sich mit Allmacht durchsetzende Therapiedenken zu setzen, ohne in das fatale Fahrwasser zu geraten, notwendige Therapien, Hilfe und Förderung zu verweigern?
Wunder und Sierck forderten ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte.

Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders. Viele Therapeuten beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr Förderung verunsichern. Frühförderung und Sonderkindergärten können aber der Anfang einer lebenslangen Sonderbehandlung sein.

In erster Linie brauchen Kinder Liebe und Normalität. Egal, ob sie das Down Syndrom haben oder nicht. Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht könnte unser Sohn durch gezielteres Gebärdenlernen im Schwimmbad zeigen, wenn er einen Joghurt essen oder auf Elefanten reiten will. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns jedoch kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll, so wie er ist.

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