Sichtbar werden

Die Hamburgerin Kübra Gümüşay hat Ende Januar ihr großartiges Buch „Sprache und Sein“ veröffentlicht. Im Klappentext heißt es, dass das Buch der Sehnsucht nach einer Sprache folgt, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Gümüşay zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden – und sich nur als solche äußern dürfen. Wie Fragen an sie nur so gestellt werden, dass jede Antwort die Kategorie bestätigen muss. Gümüşay fragt: „Wann wird es einer jungen Frau mit Migrationshintergrund, einem homosexuellen Mann, einer Transfrau oder einem Menschen mit Behinderung möglich sein, einfach nur sie selbst zu sein? Wann dürfen diese Menschen ich sagen und damit auch ich meinen? Wann werden sie auch so verstanden?“ Sie beschreibt junge Schwarze in Deutschland, die sich besonders bemühen, freundlich und zuvorkommend zu sein, höflich zu lächeln und akzentfrei Deutsch zu sprechen, um ungefährlich zu wirken. Oder junge kopftuchtragende Frauen, die überzogen zuvorkommend, frei und lässig tun, weil sie beweisen wollen, dass sie nicht unterdrückt sind, sondern klug und freundlich.

Auch viele Behinderte zeigen sich in Sozialen Medien wie z.B. bei Instagram in besonders schönen, coolen und sportlichen Posen. Menschen, die performen, um als Menschen überhaupt wahrgenommen zu werden. Wie anstrengend das ist, wird, so Gümüşay, erst im Kontrast erkennbar: in jenen Momenten, in denen sie unter vertrauten Menschen sind und nicht mehr dem Druck der Inspektion ausgesetzt sind: „Wenn sie erleichtert ausatmen, die Schutzschilde fallen lassen, wenn ihre Schultern entspannt nach unten fallen, ihre Gesichtsmuskeln sich entspannen und die mittig hoch gezogenen Augenbrauen.“

Menschen, die als Individuen unsichtbar werden

Genau das beobachte ich auch häufig bei Menschen mit Trisomie 21. Die Zuordnung zur Kategorie „Down Syndrom“ beginnt gleich nach der Geburt, z.B. bei diversen Therapeuten, die irgendetwas mit dem nur wenige Monate alten Baby tun, weil bestimmte Entwicklungsverzögerungen bei Kindern mit Down Syndrom üblich sind und nicht, weil sie bei diesem speziellen Kind einen individuellen Bedarf sehen. Spätestens mit Eintritt in die Schule erfolgt die Zuordnung zur Kategorie „geistig behindert“, womit dann für 10 Jahre das Lernangebot auf ein standartisiertes Minimum reduziert wird (das sich in Hamburg „Bildungsplan für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ nennt), unabhängig von individuellen Interessen und Fähigkeiten eines Kindes. Jede Lernverweigerung, jedes Nichtverstehen, alle kommunikativen Schwierigkeiten, jede körperliche Gegenwehr werden fortan mit der Kategorie „weil er geistig behindert ist“ begründet und damit jedes Angebot einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung vorenthalten und jede Anstrengung in diese Richtung als sinnlos erklärt.

Die Unsichtbarkeit von Menschen mit Trisomie 21 wird verstärkt durch die häufig gegebene Stellvertreterfunktion von uns Eltern. Da die Umgebung meist nur sprachlich oder schriftlich geäußerte Positionen akzeptiert und viele Menschen mit Trisomie 21 gerade mit (Schrift-)Sprache Schwierigkeiten haben, versuchen oft wir Eltern mit unserer Sprache die Rechte unseres Kindes einzufordern, um unser Kind als Mensch mit eigenen Bedürfnissen sichtbar zu machen. Die Rolle der Stellvertreter*innen ist fies. Die Unsichtbarkeit unserer Kinder allerdings noch fieser. Denn sie müssen oft nicht nur für ihre Menschenrechte kämpfen, sondern ihr Lebensrecht verteidigen. In vielen Situationen bräuchten sie eigentlich ihren ganz persönlichen Rechtsanwalt plus PR-Team.

Die Mehrheitsgesellschaft fordert eine angepasste Performance, wenn man mitmachen will, egal, ob mit oder ohne Kopftuch, ob behindert oder nicht. Bleibt die geforderte Performance aus, sieht man diese Menschen kaum noch in der Öffentlichkeit, auf Spielplätzen, in Schwimmbädern, in Supermärkten, in Unternehmen. Nicht nur sie, auch ihre Familien werden dann unsichtbar. Man will nicht immer angestarrt werden, man will nicht immer erklären müssen.

Rassismus und Sexismus sichtbar machen

2013 initiierte Kübra Gümüşay zusammen mit Bekannten auf Twitter den Hashtag gegen Alltagsrassismus #SchauHin. Seitdem teilen tausende Menschen wöchentlich eigene Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. Betroffene merken, dass sie nicht allein sind, andere sehen, wie viele Menschen Rassismus täglich erleben. Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 initiierte sie zusammen mit 21 anderen Feministinnen den Hashtag #Ausnahmslos gegen Sexismus und Rassismus.

Im Oktober 2017 verbreitete sich im Zuge des Weinstein-Skandals der Hashtag #meToo. Täglich twittern seitdem weltweit unter diesem Hashtag tausende Frauen, die sexuelle Übergriffe von Männern erleben.

Menschen, die in diesem Land geboren sind, fordern die gleichen Rechte wie alle anderen auch. Frauen trauen sich endlich, in der Öffentlichkeit über erlebte sexuelle Übergriffe zu reden. Das Unsichtbare sichtbar machen.

Behindertenfeindlichkeit sichtbar machen

2016 startete der Hashtag #behindernisse. Seitdem teilen viele Menschen ihre täglichen behindertenfeindlichen Erlebnisse und schreiben auch über Barrieren in Gebäuden, über misslungende Kommunikation mit Krankenkassen, Ausgrenzung in Schulen usw., um deutlich zu machen, wie unglaublich viel in Richtung Barrierenabbau und Bewusstsein für Barrieren noch in allen Lebensbereichen passieren muss.

Erst kürzlich haben die Berliner Sozialhelden ein neues Projekt gestartet: das online-Magazin „Die Neue Norm“. Auf der Webseite dieneuenorm.de beschreiben die Macher das Projekt wie folgt: „Dank der Deutschen Industrienorm (DIN) wissen wir, wie groß ein Blatt Papier ist, welche Steigung eine Rampe vor einem Gebäude haben darf und wie wir ein Haus bauen müssen, damit es gewisse Standards erfüllt. Doch Normen haben auch etwas einengendes, auch passen nicht alle Menschen in die Norm, die von der Mehrheitsgesellschaft als solche definiert wird. Wir wollen Normen hinterfragen und aufbrechen. Mit Texten, Beiträgen und einem monatlich erscheinenden Podcast.

Die Neue Norm ist ein Online-Magazin, das verschiedene Fragen und gesellschaftspolitische Mechanismen behandeln und infrage stellen wird. Besonders wollen wir das Thema Behinderung in einen neuen Kontext setzen; raus aus der Charity- und Wohlfahrtsecke, rein in den Mainstream, in die Mitte der Gesellschaft.“

ABER Menschen mit Trisomie 21 und ihre Eltern fehlen noch immer weitgehend im gesellschaftspolitischen Diskurs. In der Literatur, in der Kunst, in der Musik, in den Medien, in der Bildung, in der Öffentlichkeit. Das hat nicht nur persönliche Konsequenzen, sondern gesellschaftspolitische.

Inklusion heißt nicht Perfektion und Bequemlichkeit für alle

Unsere Familie ist ganz gut sichtbar, meine ich. Wir Eltern sind jeweils sichtbar, unsere Kinder sind sichtbar. Wir haben ein Gesicht in der Öffentlichkeit und in sozialen Medien. Meist geht es uns ganz gut, manchmal geht es uns Scheiße. Lange Zeit dachte ich, sichtbar sein reicht als politisches Statement. Aber neulich sagte die zehnjährige Freundin unserer Tochter, dass sie kein Kind mit Trisomie 21 bekommen möchte und das Kind wegmachen würde. Auch unsere ehemalige Nachbarin sagte mir während ihrer Schwangerschaft vor fünf Jahren, dass sie den Test gemacht hätte und ein Kind mit Trisomie 21 für sie nicht in Frage gekommen wäre. Ich fragte mich also, ob sichtbar sein ausreicht?

Es reicht nicht aus! 90 % aller Schüler*innen mit Trisomie 21 werden jährlich im Lernentwicklungsgespräch zum angeblich gemeinsamen Lernziel „sich mehr an die Regeln zu halten“ genötigt. Die Regelhierarchien und wer sie aufstellen darf scheinen dabei ganz klar. Wenn Schüler*innnen mit Trisomie 21 tatsächlich die Regeln mitbestimmen würden, dann würden diese wahrscheinlich lauten: mehr Spaß zulassen, mehr Scherze, mehr Spontanität, mehr Ablenkung, mehr Aus-der-Reihe-tanzen und mehr individuelle Interessen, weniger standartisierte Strukturen, weniger Gleichschritt. In Sonderschulen unmöglich, in Regelschulen noch unmöglicher. Der Preis für den „harmonischen“ schulischen Gleichschritt ist: eine gleichförmige Welt, eine langweilige Welt. Und vor allem das Unsichtbarwerden von Persönlichkeiten. Das Unsichtbarwerden unserer Kinder mit Trisomie 21.

Was können wir Eltern also tun? Vielleicht in erster Linie unsere Kinder ermutigen, nicht immer deren Regeln zu akzeptieren, sondern ich sagen zu lernen, eigene Bedürfnisse zu kennen und wenn nötig lautstark auszudrücken. Und unseren Kindern ermöglichen, noch sichtbarer zu werden, so wie sie sind, in Real Life und in Social Media.