Inklusion stellt die Machtfrage

Seit November 2015 formiert sich eine neue „Krüppelbewegung“ in Deutschland, meinte kürzlich Andreas Vega in dem Artikel Aufstand der Behinderten.
Das wäre ja fast zu schön um wahr zu sein.

Die Kritik an der derzeitigen Politik wird tatsächlich immer schärfer. Matthias Vernaldi, seit Jahrzehnten großer Berliner Behinderten-Aktivist, sieht das lange Engagement behinderter Menschen für ihre gesellschaftliche Teilhabe verhöhnt: „Vielleicht sollten wir weniger freundlich sein. Dieses ganze Sich-mit-Politikern-Filmen-lassen, diese Tralala-Inklusions-Schlager und Fackelübergaben sind und waren ja auch schon immer zum Fremdschämen. Ich finde, wir müssen sagen, wo es weh tut, wo wir nicht dazu gehören, wo wir zu Menschen 2. Klasse degradiert werden. Mein ganzer Alltag ist voll davon. Den Politikern sollten vielmehr die Stresshormone einschießen, wenn sie uns auch nur von weitem sehen.“

Selbst Raúl Krauthausen vom Berliner Verein „Sozialhelden“ wird deutlicher: „Vielleicht müssen wir in Zukunft radikaler und unbequemer werden, um Veränderungen zu erreichen. […] Inklusion stellt die Machtfrage. Nichtbehinderte Menschen müssen Macht an Menschen mit Behinderung abgeben. Freiwillig macht das niemand.“

Auf die Frage, was eine emanzipatorische Behindertenbewegung an diesem Punkt bewirken kann, antwortete Vernaldi:
„Es gibt hier die selben Probleme wie bei anderen emanzipatorischen Bewegungen auch: Die Aktionsformen von damals passen nicht mehr so richtig und die kreativen (oder ehemals kreativen) und verantwortungsvollen Positionen sind von den alten Säcken besetzt. Viele der „alten Kämpfer“ sind ja selbst Teile des Systems geworden und arbeiten jetzt mehr oder minder gut bezahlt in Vorständen, Beratungsstellen oder Ministerien. […] Die heute 30- bis 40-jährigen nutzen ganz selbstverständlich die neue Netzöffentlichkeit. Daraus ergeben sich neue Formen der Teilhabe und des Einforderns von Rechten. Allerdings ist noch nicht klar, was das bezüglich der politischen Kultur bedeutet. Die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes bestätigt: die Krüppel bloggen zwar mehr oder weniger originell, stellen Selfies von sich, ihren Katzen und Rollstühlen ein und betonen, dass sie genauso gern vögeln wie alle anderen und dabei auch genauso wählerisch sind; aber die Politiker machen eben einfach ein Gesetz, das selbst die stärksten Kerle aus ihren aufgepimpten Rollstühlen haut. […] Jetzt erst kommt man wieder zu Aktionsformen ohne Schlagermusik und Luftballons.“

Kein Musterkruppelchen

Lili malt Behinderte

Neulich im Auto.
Lili (6): Mama, wenn wir zuhause sind, dann male ich einen Behinderten.
Ich: Mach doch.
Lili: Ich kann gut Behinderte malen!
Ich: Willst du einen Menschen im Rollstuhl malen oder was?
Lili: Nein, einen Behinderten der gehen kann.
Ich: Und woran erkennt man dann, dass es ein Behinderter ist?
Lili: Das erkennt man. Ich kann ja einen Behinderten neben einem Normalen malen. Dann kannst du den Unterschied sehen.

Zuhause malte sie drauf los. Das hier sind ihre zwei Behinderten:

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Und das ist ein Normaler und ein Behinderter (damit man den Unterschied sieht):

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Ich: Aber Anatol ist doch auch behindert und er hat nicht nur ein Auge?
Lili: Ja Mama. Aber das ist doch nur meine Fantasie. So sehen Behinderte in meiner Vorstellung aus.

Die Angst überwinden

Letzte Woche war in Anatols Kita eine Gruppenübernachtung geplant. Da er mittlerweile seit zweieinhalb Jahren in dieser Kita ist, hatte er schon zwei oder drei Übernachtungen problemlos mitgemacht. Ich bin auch keine besonders ängstliche Mutter und freue mich immer eher, wenn die Kinder mal nicht da sind.
Diesmal war es etwas anders.

Denn die Gruppe hatte sich entschieden vor der Übernachtung in die XXL-Spielestadt zu gehen. Das ist ein Spiele-Kletter-Gelände, in dem die Kinder nach zwei Stunden so k.o. getobt sind, dass sie nur noch ins Bett fallen und sofort schlafen. Ich persönlich habe solche riesigen Indoor-Spielplätze mit den Kindern bisher erfolgreich gemieden, weil sie mir einfach zu anstrengend sind.

Jedenfalls versuchte ich Anatol morgens im Auto zu erklären, dass er heute in der Kita übernachtet. Er lächelte und nickte, ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Dann übergab ich ihn mit etwas bebenden Lippen der Erzieherin und sagte, sie solle mich anrufen, wenn er sich zurück zieht, sich anziehen geht und nach Hause will. Sie erwiderte, dass sie ihn in diesem Fall aus der Gruppe nehmen und sich jemand mit ihm hinlegt und ausruht. Dann weinte ich auf dem Weg nach Hause.

Ich schrieb Sascha eine SMS: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Erzieherinnen können die Signale von Anatol noch nicht so gut deuten, wissen nicht, wann es zu viel für ihn ist.“ Er antwortete: „Lass den Erzieherinnen die Möglichkeit diese Signale kennenzulernen, um selbst darauf reagieren zu können.“ Ich weinte noch mehr. Warum hat der Mann nicht diese furchtbare Angst, die ich habe?

Den gesamten Tag ging mir durch den Kopf wie dieser Vierjährige, der die Statur eines Zweijährigen hat und seine Bedürfnisse sprachlich nicht äußern kann, auf einem großen Trambolin sitzt während 5 Kinder wie wild um ihn herum springen, ihn so richtig durchschütteln und er nicht versteht was abgeht. Ich stellte mir vor wie er die Rutschen herunter heizt ohne darauf zu achten, ob jemand vor ihm auf der Rutsche ist, dem er ordentlich in den Nacken stürzt. Ich stellte mir vor, wie er die coolen Kletternetze hoch wurschtelt und dann von ganz oben durch ein Loch nach ganz unten fällt…..

Es war ein schlimmer Tag. Ich verfluchte die Kinder in seiner Gruppe. Konnten sie sich nicht einfach für einen Zoobesuch entscheiden? Ich verfluchte die Erzieher. Sie müssen doch bei einem solchen Ausflugsplan die Schwächsten mit einbeziehen? Ich verfluchte meinen Mann. Warum habe nur ich Sorgen und kann sie mit ihm nicht „teilen“?

Am nächsten Tag holten wir das strahlende Kind aus der Kita ab. Es sei alles bestens verlaufen, Anatol habe riesigen Spaß gehabt.