Das sogenannte Elternwahlrecht

Anatol ist im März sechs Jahre alt geworden und wird im Sommer schulpflichtig. Im November 2017 hatten wir einen Rückstellungsantrag gestellt, weil wir meinen, dass folgende Punkte Anatol und allen Beteiligten den ein Jahr späteren Schulanfang und -besuch wahrscheinlich erheblich erleichtern würden:
– Anzeichen eines selbständigen Toilettengangs
– bessere (Aus-) Sprache
– besseres Regelverständnis und Verständnis der Bedürfnisse von Anderen

Zur Sauberkeit
Anatol ist nach wie vor auf Windeln angewiesen und macht kaum Anzeichen eines eigenständigen Toilettengangs. Wir Eltern wissen nicht genau, ob er den Toilettendrang zuvor noch nicht ausreichend spürt, ob er ihn zu spät spürt, ob er oft zu beschäftigt ist, um auf die Toilette zu gehen oder, ob es ihm unangenehm auf der Toilette ist. Wir gehen davon, dass er in den kommenden 15 Monaten hier Fortschritte machen wird.

Zur Sprachentwicklung
Anatols Wortschatz und Sprechfähigkeit hat sich in den letzten 12 Monaten verbessert. Das bedeutet, dass er in diesem Zeitraum nicht nur einige wenige Zwei- und Dreiwortsätze (z.B. „Geht nicht mehr.“ „Ich bin dran.“ „Weiß ich nicht.“) sowie das Zählen bis drei gelernt hat, sondern auch, dass seine Aussprache etwas klarer und deutlicher geworden ist. Wenn Anatol nicht müde oder unkonzentriert ist, dann versteht er Vieles. Das Sprechen ist aber die größte Baustelle, die unseres Erachtens einen Schuleintritt in diesem Jahr und die Kommunikation mit Mitschülern und Lehrern sehr behindern würde. Wir gehen jedoch auch hier davon aus, dass er in den kommenden 15 Monaten Fortschritte machen wird.

Zum Regelverständnis
Anatol hält sich oft nicht an Regeln (er läuft z.B. immer auf dem Fahrradweg, bewirft oft Autos mit Steinen oder Stöcken, haut oft Passanten beim Vorbeigehen, behauptet vor dem Essen immer er hätte sich die Hände gewaschen, beschuldigt seine Schwester oder andere wenn er etwas kaputt gemacht hat, rupft Blumen ab, tötet Ameisen oder kleine Käfer, schnallt sich im Auto während der Fahrt ab, usw.) Manchmal verstößt er bewusst gegen Regeln oder deutet es nur an, um daraus einen Spaß zu machen, denn er ist auch ein großer Komiker. Lautes und/oder wiederholtes Schimpfen führt meist nicht dazu, dass Anatol ein unerwünschtes oder gefährliches Verhalten unterlässt. Er testet alles und Jeden aus und ist dabei unglaublich kreativ.
Oft hält er sich aber auch nicht an Regeln, weil er sie nicht kennt oder, weil er sie schlicht wieder vergessen hat. Er ist aber immer auf ein harmonisches Miteinander bedacht, will von allen gemocht werden und tröstet jeden der traurig ist. Auch „schimpft“ er mit Anderen, die sich nicht an Regeln halten. Wir gehen davon aus, dass Anatol im kommenden Jahr mehr Regeln verinnerlicht hat und Grenzen besser einhält.

Zum Verständnis der Bedürfnisse von Anderen
Anatol stellt noch seine eigenen und momentanen Bedürfnisse in den Vordergrund. Er muss noch lernen, dass andere Menschen andere Bedürfnisse und Vorlieben haben als er. Vielleicht lernt er in den kommenden Monaten, andere Bedürfnisse besser wahrzunehmen und zu respektieren. Dazu gehört unter anderem auch, dass er seinen eigenen Körper und seine Kräfte wahrnimmt und einschätzen kann.

Bisher (wir haben jetzt Ende Mai) haben wir keine Antwort der Schulbehörde auf unseren Rückstellungsantrag bekommen. Im August würde die erste Klasse schon losgehen, ein Fakt, den wir derzeit noch verdrängen, weil wir uns einen Schulbesuch einfach noch nicht so richtig vorstellen können.

Im Zuge der Rückstellung bzw. der anstehenden Schulpflicht durften wir wieder viele Berichte über unseren Sohn lesen: von der Kita, vom Logopäden, vom Jugendpsychiatrischen Dienst und das sonderpädagogische Gutachten, das ein Sonderpädagoge der nahe gelegenen Schule für Kinder mit dem sogenannten Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erstellt hatte. Berichte über Anatol zu lesen ist immer sehr komisch. Wie all diese Leute unser Kind beschreiben…

Keine einzige Ermutigung, das Kind würde seinen Weg auch in der Inklusion gehen

All diese Leute sagten uns, dass eine Rückstellung für Anatol sehr unwahrscheinlich ist, weil „eine Rückstellung nur dann genehmigt wird, wenn absehbar ist, dass das Kind sich in einem Jahr auf dem Entwicklungsstand eines durchschnittlichen Erstklässlers befindet.“ Selbstverständlich wird er, insbesondere bei den oben genannten Punkten, in einem Jahr nicht dem Entwicklungsstand der anderen Erstklässler entsprechen. Trotzdem wird er sich in einem Jahr weiter entwickeln und nach seinem Tempo Fortschritte machen. Dies scheint keine Rolle zu spielen. All diese Professionellen (die Kita-Erzieherin, der Leiter des Jugendpsychiatrischen Dienstes, der Sonderpädagoge, der die Diagnostik durchgeführt hat,…) haben uns die Sonderschule empfohlen und von der Regelschule abgeraten. Dr. Wistuba vom JPD sagte z.B., dass unser Sohn dann irgendwann weinend auf dem Schulhof stehen würde und wir ihm das doch nicht antun wollen, oder? Die Kita-Erzieherin sagte, dass sie sich eine Regelbeschulung bei Anatol nur vorstellen könne, wenn ihn immer jemand im Auge hätte, denn er sei ständig auf Erkundungstour und macht viel Blödsinn (die Kitaleitung nennt ihn sogar liebevoll den leisen Übeltäter). Der Sonderpädagoge sagte, dass er in der Regelschule nur dabei wäre aber niemand dort die Zeit hätte ihm in Ruhe Lesen und Schreiben beizubringen, dies wäre eher möglich an der speziellen Sonderschule.

Des weiteren sagte der Sonderpädagoge, dass man eine Rückstellung bei diesen Kindern auch deshalb nicht genehmigt, weil man davon überzeugt ist, dass sie in kleinen Schulklassen mit auf deren Bedürfnisse ausgerichtete Sonderpädagogen die Kinder besser fördern könne als in der Kita. Da diese Argumentation nur zutrifft, wenn man in die Sonderschule geht, scheint die Behörde hier eine inklusive Beschulung eines Kindes mit diesem Förderschwerpunkt nicht vorzusehen.

Neben den Professionellen im Schulsystem sind es die Eltern der nichtbehinderten Kinder, die uns verunsichern, indem sie erzählen, sie wollen lieber in die Privatschule, „weil da nicht so viele verhaltensauffällige Kinder sind, die ihr Kind ablenken und negativ beeinflussen“. Oder die Eltern, die wollen, dass ihr Nachwuchs sich am Nachmittag zum Spielen ruhig ab und zu mit unserem behinderten Kind verabredet für die „soziale Kompetenz“, aber gemeinsamer Unterricht muss doch nicht sein.

Dann sind da noch befreundete Eltern von Kindern mit Down Syndrom, die inklusiv beschult werden. Immer wieder erzählen sie, dass die Schulbegleitung ständig krank ist, die Lehrer sich kaum auf das Kind einlassen können, es häufig einfach unbeaufsichtigt den Schulhof verlässt, nicht zur Klassenfahrt mit darf, beim Musikprojekt nicht dabei sein kann, usw…

Sich trotz all dem für das gemeinsame Lernen in der Regelschule zu „entscheiden“, fällt unglaublich schwer. Wenn man nur ganz leise und verunsichert äußert, dass Ausgrenzung nicht sein darf und, dass sie unsere Demokratie gefährdet, wird man oft gleich als Ideologin beschimpft, die ihr Kind opfern will für eine verklärt-romantische Idee von Gemeinschaft Aller in Vielfalt.

Momentan bin ich oft sehr traurig.

Lange ärgerte mich, dass Anatol nun schon in die Schule gezwungen wird. Mittlerweile gehen wir aber davon aus, dass er nicht zurück gestellt wird und wägen schon den Aufwand eines Widerspruchs mit den Nachteilen der früheren Einschulung ab.

Unendlich traurig macht mich aber, dass wir diesen, für ihn von so vielen Anderen vorgesehenen, Sonderstrukturen so dermaßen ausgeliefert sind und, dass wirkliche Alternativen nicht existieren und auch, dass meine Wut und Traurigkeit darüber viel zu oft als Überforderung interpretiert werden. Sie werden zu meinem persönlichen Problem gemacht.

Die stabilen Parallelwelten für Behinderte sind aber das Problem dieser Gesellschaft und die schlecht ausgestattete schulische Inklusion. Sie bewirken, dass wir heute, im Mai 2018, noch immer keine Wahl haben: die nächste Schwerpunktschule (die wir in HH besuchen müssen wenn wir uns für Inklusion „entscheiden“) ist schrecklich, die Spezielle Sonderschule ist schrecklicher.

Schrecklich. Entsetzlich, beängstigend, furchtbar, grässlich, grausam, schaurig.

Was tun?

 

*update 21.06.2018

Wir haben endlich die Rückmeldung von der Behörde, dass Anatol ein Jahr zurück gestellt wird. Er wird nun ein weiteres Jahr die Kita besuchen, worüber wir uns sehr freuen. Die Entscheidung, welche Schule es dann in einem Jahr wird, schieben wir weiter hinaus.

Die Angst überwinden

Letzte Woche war in Anatols Kita eine Gruppenübernachtung geplant. Da er mittlerweile seit zweieinhalb Jahren in dieser Kita ist, hatte er schon zwei oder drei Übernachtungen problemlos mitgemacht. Ich bin auch keine besonders ängstliche Mutter und freue mich immer eher, wenn die Kinder mal nicht da sind.
Diesmal war es etwas anders.

Denn die Gruppe hatte sich entschieden vor der Übernachtung in die XXL-Spielestadt zu gehen. Das ist ein Spiele-Kletter-Gelände, in dem die Kinder nach zwei Stunden so k.o. getobt sind, dass sie nur noch ins Bett fallen und sofort schlafen. Ich persönlich habe solche riesigen Indoor-Spielplätze mit den Kindern bisher erfolgreich gemieden, weil sie mir einfach zu anstrengend sind.

Jedenfalls versuchte ich Anatol morgens im Auto zu erklären, dass er heute in der Kita übernachtet. Er lächelte und nickte, ich glaube nicht, dass er mich verstanden hat. Dann übergab ich ihn mit etwas bebenden Lippen der Erzieherin und sagte, sie solle mich anrufen, wenn er sich zurück zieht, sich anziehen geht und nach Hause will. Sie erwiderte, dass sie ihn in diesem Fall aus der Gruppe nehmen und sich jemand mit ihm hinlegt und ausruht. Dann weinte ich auf dem Weg nach Hause.

Ich schrieb Sascha eine SMS: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Erzieherinnen können die Signale von Anatol noch nicht so gut deuten, wissen nicht, wann es zu viel für ihn ist.“ Er antwortete: „Lass den Erzieherinnen die Möglichkeit diese Signale kennenzulernen, um selbst darauf reagieren zu können.“ Ich weinte noch mehr. Warum hat der Mann nicht diese furchtbare Angst, die ich habe?

Den gesamten Tag ging mir durch den Kopf wie dieser Vierjährige, der die Statur eines Zweijährigen hat und seine Bedürfnisse sprachlich nicht äußern kann, auf einem großen Trambolin sitzt während 5 Kinder wie wild um ihn herum springen, ihn so richtig durchschütteln und er nicht versteht was abgeht. Ich stellte mir vor wie er die Rutschen herunter heizt ohne darauf zu achten, ob jemand vor ihm auf der Rutsche ist, dem er ordentlich in den Nacken stürzt. Ich stellte mir vor, wie er die coolen Kletternetze hoch wurschtelt und dann von ganz oben durch ein Loch nach ganz unten fällt…..

Es war ein schlimmer Tag. Ich verfluchte die Kinder in seiner Gruppe. Konnten sie sich nicht einfach für einen Zoobesuch entscheiden? Ich verfluchte die Erzieher. Sie müssen doch bei einem solchen Ausflugsplan die Schwächsten mit einbeziehen? Ich verfluchte meinen Mann. Warum habe nur ich Sorgen und kann sie mit ihm nicht „teilen“?

Am nächsten Tag holten wir das strahlende Kind aus der Kita ab. Es sei alles bestens verlaufen, Anatol habe riesigen Spaß gehabt.

Arsch hoch! Inklusion gestalten!

„Inklusion ist doch nur eine leere Worthülse.“, höre ich immer und immer und immer wieder. Von enttäuschten Eltern behinderter Kinder, von enttäuschten Menschen mit Behinderung, von enttäuschten Pädagoginnen und Pädagogen. Ich kann es nicht mehr hören!

Was erwarten diese Menschen eigentlich? Jahrhunderte lang wurden Menschen mit Behinderung als Strafe Gottes gesehen und hauptsächlich als defizitär betrachtet. Lange wurden sie nur nach ihrem medizinischen und/oder gesellschaftlich relevanten Nutzen beurteilt. Es gab eine Zeit, in der sie systematisch in diesem Land, in den Einrichtungen, in denen wir noch immer tagtäglich ein- und ausgehen, diskriminert und getötet wurden. Zudem werden Menschen mit Behinderung in den Medien noch immer gern auf ihre Behinderung reduziert bzw. nur im medizinischen Kontext dargestellt. Das wirkt (nach). Fast alle heutigen Mediziner, Pädagogen, Medien und Behörden haben sich nicht mit der Geschichte ihrer Institution auseinander gesetzt.
Hinzu kommt außerdem, dass die Mehrheit der Mitarbeiter in den oberen Managementebenen der großen Behinderteneinrichtungen kurz vor der Rente sind. Sie haben Einrichtungen aufgebaut, die zu dieser Zeit gewollt und fortschrittlich waren. Sie haben Fördermöglichkeiten und Wohlfühlräume geschaffen. Leider hatten Nichtbehinderte dort oft nichts zu suchen und nun sind die Einrichtungen mühselig damit beschäftigt die homogenen Schonräume zu öffnen und zu mischen. Alle Seiten hätten es so viel bequemer, wenn alles so bleiben würde, wie es ist.

Was erwarten die Menschen? Dass alle ganz bereitwillig ihre eigenen Strukturen auflösen? Dass ihnen von heut auf morgen die Inklusion hübsch verpackt serviert wird und sie nur noch mitmachen brauchen? Erwarten sie, dass jeder Mitmensch weiß, was sie wirklich brauchen und wollen?

Ab gehts! Sag laut, was du willst! Gestalte mit, wo du kannst! Damit das Ganze eben nicht mehr so lange dauert!

Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Warum schulische Inklusion keine Gleichmacherei oder „Sozialromantik“ ist

Die drei häufigsten Argumente gegen schulische Inklusion sind meines Erachtens folgende:
1. Inklusion ist Gleichmacherei.
2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.

Zu 1. Inklusion ist Gleichmacherei.
Inklusiver Unterricht und inklusive Pädagogik ist das genaue Gegenteil von Gleichmacherei. Binnendifferenzierter Unterricht berücksichtigt gerade die Heterogenität der SchülerInnen. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Methoden, z.B. das Arbeiten mit Wochenplänen. In Lerngruppen müssen SchülerInnen beispielsweise ein Thema erarbeiten, das sie gemeinsam zu einem bestimmten Lernziel führt. Binnendifferenzierende Maßnahmen beziehen sich dabei auf die Zugänge zum Lerninhalt, auf die Qualität oder die Quantität der Lernaufgaben und -ziele oder auch auf die Medien. Das bedeutet, dass inklusiver Unterricht ALLEN SchülerInnen zu Gute kommt, sowohl sehr starken als auch sehr schwachen. Hochbegabte Kinder haben z.b. in der Quantität oder Qualität entsprechend andere Aufgaben als sie in herkömmlichen Unterrichtssettings hätten, um das gemeinsame Lernziel zu erreichen und profitieren gerade deshalb auch von dieser Unterrichtsform. Immer wieder hört man von bereits inklusiv arbeitenden Klassen, dass mehr SchülerInnen diese mit einer gymnasialen Empfehlung verlassen als die Regelklassen. Ein weit verbreiteteter Irrglaube ist, dass Kinder mit einer Behinderung automatisch immer die langsamsten, schlechtesten und verhaltensauffälligsten Kinder sind. Fakt ist jedoch, dass sehr viele dieser Kinder auf einer Förderschule völlig unterfordert sind.

Zu 2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
Viele Menschen sind der Meinung, dass Inklusionsbefürworter eine rosarote Brille aufhaben und mit verklärtem Blick eine soziale Utopie herbeisehnen.
Behinderung ist jedoch kein individuelles Problem. Viele Menschen mit Behinderung sind davon überzeugt, dass sie erst durch die Gesellschaft und durch Barrieren wie z.B. Treppenstufen, schwere Sprache, Ungleichbehandlung und Vorurteile behindert werden. Wird Inklusion als „Sozialromantik“ abgetan, werden Diskriminierungen als akzeptierte Normalität wahrgenommen. Es entsteht die Botschaft, dass ausgrenzendes Verhalten, egal ob von Menschen oder Institutionen ausgehend, in Ordnung ist.
Schulische Inklusion ist auch keine Illusion mehr, denn es gibt mittlerweile zahlreiche Beispiele dafür, dass gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern erfolgreich gelingen kann. Eine Illusion ist stattdessen das Warten vieler Schulen/PädagogInnen auf DIE optimalen Bedingungen bevor man sich überhaupt an Kinder mit Behinderungen „heranwagt“. Natürlich sind unbedingt genügend räumliche, sächliche und personelle Ressourcen notwendig. Wichtig sind aber vor allem Fort- und Weiterbildungen. LehrerInnen müssen Formen der inneren Differenzierung, inklusive Didaktik und individualisierte Lernformen kennen. Denn ohne dieses Wissen nutzen auch kleinere Klassen nichts. Das Fundament inklusiven Unterrichtens bildet jedoch die Haltung. Inklusive Lern- und Lehrprozesse müssen reflektiert werden. Wer mit jungen Menschen arbeitet, bringt immer auch seine eigenen Prägungen, Positionen und Vorstellungen mit ein. Eine demokratische Grundhaltung sowie die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt ist für die Umsetzung eines erfolgreichen gemeinsamen Unterrichtes elementar.

Zu 3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.
Wie in Punkt 1. bereits erwähnt, kommt inklusiver Unterricht auch hochbegabten Kindern zu Gute. Die Lehrergewerkschaft GEW stellte schon 2006 fest: Ein Glaubenssatz deutscher Schulpolitik ist empirisch widerlegt, dass nämlich in Klassen mit gleich leistungsstarken Schülern mehr gelernt werde als in solchen mit einer großen Leistungsstreuung.
Viele Studien belegen, dass SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten in inklusiven Klassen vor allem ihre fachlichen Kompetenzen ausbauen, während leistungsstarke SchülerInnen vor allem im Bereich der sozialen Kompetenzen profitieren. Im Sinne eines demokratischen Bildungsverständnisses mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe Aller sind diese Ergebnisse als positiv zu bewerten. (weitere Infos dazu siehe: Inklusionsfakten)

Nähe und Distanz

Sind nicht andere Eltern behinderter Schüler, die ihre Sprösslinge an Sonderschulen schicken, auch daran „Schuld“, dass die Sonderschulen erhalten bleiben und der Prozess der Inklusion nicht voran kommt?

Diese Frage hatte ich beim Fachgespräch „Integration oder Inklusion“ am 19.3. in der Lebenshilfe Hamburg in die Runde gestellt und erntete zu Recht große Empörung. Denn natürlich sind sie nicht Schuld. Nur wenige wollen sich auf Experimente einlassen.Die Langsamkeit der flächendeckenden Umsetzung inklusiver Bildung an Regelschulen in Deutschland hat vielmehr rein ökonomische und rechtliche Ursachen, antwortete

Prof. Dr. Harm Paschen von der Universität Bielefeld. Das, was Eltern mit ihrer distanzlosen und emotional geprägten Haltung wollen, sei in diesem Prozess eher irrelevant.

Diese Antwort fand ich hart. Aber vollkommen korrekt. Bei der Lehrerbildung, den Kosten, den Schulformen und -abschlüsse, dem Einsatz von Schulbegleitern usw. hapert es ja nicht an Unwillen, sondern an den noch meist ungeklärten finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Erwähnt wurde im Gespräch, dass Schleswig-Holstein diesen Weg gegangen ist. Sie haben von heut auf morgen die Förderschulen abgeschafft und alle Kinder mit Behinderung sollen nun Hals über Kopf an Regelschulen gehen. Damit seien alle Beteiligten momentan dort enorm überfordert, sagte Paschen.

Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wäre Inklusion absurd

Inklusion hat nichts mit Menschen mit Behinderungen zu tun. In erster Linie hat sie mit den Menschen zu tun, die sich anmaßen, sich selbst und ihresgleichen zur Norm zu setzen. Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wären alle Menschen sowieso gleichberechtigt.

Inklusion wird meist mit Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht. Man sagt, dass nun auch ein autistisches Kind eine Regelschule besuchen „darf“. Aber ein Kind darf nicht „dürfen“, sondern geht selbstverständlich in eine Regelschule! Oft heißt es: Inklusion hilft den Schülern mit Behinderungen. Das stimmt nicht. Sie hilft vor allem den Schulen selbst. Das heillos veraltete deutsche Schulsystem ist so marode, dass ihm nichts besseres passieren kann, als auf diesem Weg Modernisierung einzuleiten. Jede Schule, die sich vor dieser grundlegenden Veränderung sträubt, wird wohl früher oder später nicht mehr existieren können. Allen voran wird die handvoll Schulleiter sein, die dies schon längst kapiert haben.

Aber, um dieses, seit Jahrtausenden zur-Norm-Gesetzte zu überwinden, reicht es nicht aus, sich mitten in die Norm hinein zu setzen und ein bisschen mitzumachen. Man braucht auch Mut und Souveränität, um die alten Strukturen zu sprengen. Es geht nicht darum, dass ein Kind sich in der Schule anpasst, alle Regeln befolgt und bloß nicht auffällt. Es muss die Schule sein, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden muss, wenn sie sie auf eine, für die Gesellschaft nützliche, zukünftige Arbeit vorbereiten will. Es muss immer Regeln geben, aber die müssen gemeinsam mit den Kindern im Klassenverband ausgehandelt werden. Und wer auffällt durch Stören muss die Möglichkeit einer Auszeit bekommen. Jeder von uns kann sich für ein anderes Lernen einsetzen. Nicht, weil es in Zeiten der Inklusion unser Recht wäre, sondern, weil die Zeit dafür gut ist, die Norm abzuschaffen.

 

Inklusion ist keine gute Sache, sie ist selbstverständlich

Das Erste, was mir nach der Geburt unseres Sohnes geraten wurde, war: „Nehme Kontakt auf zu anderen Eltern mit behinderten Kindern!“ Relativ häufig kann man auch Aussagen lesen wie „Ein Kind mit Behinderung erweitert den Horizont.“. Das sehe ich anders.

Obwohl es für mich nach Anatols Geburt in erster Linie wichtig war, ALLE (;-) Informationen zur Trisomie 21 zu bekommen, befolgte ich den gut gemeinten Rat. Da er in Irkutsk geboren wurde, nahm ich also Kontakt zu Irkutsker Müttern auf, von denen die meisten noch immer im „Schock über das behinderte Kind“ waren/sind. Obwohl diese Mütter schon ältere Kinder hatten, fand ich mich also nach der Geburt in der Rolle wieder, diese Mütter von der Normalität ihrer Situation zu überzeugen und stachelte sie auf, die Irkutsker Stadtverwaltung von der natürlichen Teilhabe ihrer Kinder am Bildungssystem zu überzeugen und damit für ihr Recht auf Arbeit zu kämpfen. Denn alle diese Mütter konnten nicht arbeiten gehen, weil es einfach keine „normale“ Kinderbetreuung für ihre Sprößlinge gab. Alle Mütter gingen davon aus, dass Deutschland das Paradies für Behinderte ist und, dass in Deutschland niemand, nach der Geburt eines behinderten Kindes, Grund dafür hat, traurig zu sein. Auch ich begann, die rechtliche Situation, die Gesundheitsversorgung und den Umgang mit Behinderten in Deutschland zu verherrlichen. Als ob es DIE einheitliche Gruppe von Behinderten gäbe. Und als ob es DEN einheitlichen Umgang mit ihnen gäbe. Doch so paradiesisch ist es hier gar nicht.

Dann las ich hunderte von Blogs von Eltern mit Kindern mit DS, in denen diese wie kleine Heilige beschrieben werden, die alle Mitmenschen glücklich machten, als ob sich Eltern nicht sowieso über jeden Schritt, den ein kleines Wesen macht, freuen würden. Und als ob, wie Birte Müller mal beschrieb, DS-Kindern die Sonne aus dem Arsch scheine.

Dann schickte mir ein befreundeter Sonderschullehrer, den ich im übrigen sehr schätze, viele links zu Dokus oder Artikeln, warum Kinder mit Behinderungen ihren geschützten Raum bräuchten und, warum man die Sonderschulen erhalten sollte. Das sehe ich anders. Menschenrechte und Inklusion sind unteilbar. Und hier noch weitere Argumente, warum ein gemeinsamer Unterricht selbstverständlich ist.

Wieso sollte es eigentlich so etwas wie eine Gruppenidentität von Eltern mit behinderten Kindern, von Sonderpädagogen oder von Behinderten geben? Ich identifiziere mich nicht mit Menschen, die eine Sonderschule befürworten, egal, ob sie Erfahrung mit Behinderten haben oder selbst behindert sind. Ich identifiziere mich auch nicht mit Eltern, die sich oder ihr Kind bemitleiden. Und schon gar nicht identifiziere ich mich mit Eltern, die aus Angst vor einem weiteren behinderten Kind, keine Kinder mehr bekommen wollen. Diese Eltern sprechen auch davon, dass ein Kind mit Behinderung den Horizont erweitere, als ob es Kinder gäbe, die den Horizont nicht erweitern würden. Soll diese Glorifizierung eines behinderten Kindes ein Schutz gegen die gesellschaftliche Ablehnung sein? Versteh ich nicht.

Ich bedaure sehr, dass in meiner Schule keine Schüler oder Lehrer mit auffälligen Behinderungen waren. Ich bedaure, dass es dort kaum Schüler oder Lehrer mit Migrationshintergrund gab. Dass niemand offen homosexuell sein konnte. Dass der Direktor und sein Stellvertreter männlich waren und, dass die Schule sich noch heute als Elitegymnasium brüstet. Eine solche Schule wünsche ich niemandem. Eine Elite-Schule kann für mich nur noch eine Schule für Alle sein.Und nun möchte ich, dass unsere Tochter in eine bunte Hamburger Schule kommt. Any suggestions?

Aber zurück zur Gruppenidentität. Ich finde es sehr schade, dass es noch so viele Menschen gibt, für die Inklusion nichts weiter als ein schönes Konstrukt ist. Es ist für mich ein ziemlich billiges Argument, zu behaupten, dass Inklusion theoretisch ja super toll ist, aber praktisch nicht funktioniert. Meist wird dann noch mit irgendwelchen Rahmenbedingungen, die nicht gegeben sind, argumentiert. Das ist genauso, wie, wenn sich mein Nachbar über DAS System beschwert. Jeder von uns hat in seinem Leben Spielräume, in denen er bewusst Entscheidungen treffen kann. Inklusion ist keine gute Sache, die eingeführt werden muss. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft, in der kein einziger Mensch fremdbestimmt werden darf und, der auch ich mich zugehörig fühlen möchte.

Würde man nur mit halb so viel Energie wie man die Selektion in Deutschland perfektioniert, Diversität perfektionieren wollen, dann wäre die Umsetzung von Inklusion auf politischer Ebene ein Kinderspiel.

 

Inklusion exklusiv

2008 hat die UN-Behindertenrechtskonvention „Inklusion“ als Menschenrecht für Menschen mit Behinderungen erklärt. Inklusion (lat. Enthaltensein) soll bedeuten, dass alle Menschen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Menschen sollen sich nicht integrieren oder an ihre Umwelt anpassen müssen, sondern die Umwelt sollte von Anfang an so geschaffen sein, dass alle Menschen gleichberechtigt in ihr leben können. Der Begriff „Inklusion“ wurde von Mitgliedern der Behindertenbewegung in den USA in den 70er-Jahren geprägt, die eine volle gesellschaftliche Teilhabe einforderten.

In Deutschland ist Inklusion bislang hauptsächlich im Bereich Schulbildung ein Thema. Nach und nach wird das Modell „inklusive Schule“ eingeführt, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen sollen. Bisher nimmt Deutschland jedoch immer noch einen hinteren Rang ein in Europa, was die Umsetzung solcher Schulmodelle betrifft.

Die Vorstellung von Inklusion soll nicht sein, dass Menschen „in etwas hinein inkludiert werden“ (so wie das ja bei dem Integrationsmodell war und wie der Begriff fälschlicherweise verstanden werden könnte). Schwerst behinderte Menschen sollen nicht einfach in eine „normale“ Umwelt gepackt werden und dann sehen müssen, wie sie zurechtkommen. Idealerweise sollten die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen berücksichtigt werden, damit eben auch endlich Menschen mit Behinderungen ganz normal teilhaben können. Inklusion heißt dann, dass sie ausreichend Unterstützung (z.B. Assistenten oder Schulhelfer) bekommen. Einige bezweifeln, dass dieses Gesellschaftsmodell finanzierbar ist. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern eine Gesellschaft etwas verändern will und welche Werte und Ziele ihr wichtig sind.

Trotz dieser wirklich tollen Idee einer inklusiven Umwelt, hat der Begriff „Inklusion“ für mich immer noch einen komischen Beigeschmack. Er erinnert mich an einen Satz von Kübra Yücel in dem Artikel Mesut Özil ist deutsch, ich bin es nicht, der im Oktober 2010 nach dem Sarrazin-Skandal in der TAZ erschien: Selbstverständlich ist Wulff auch ihr Bundespräsident. Sie wollen, dass man es ausspricht. […] Er tut es. Und plötzlich wird eine Selbstverständlichkeit so ad absurdum diskutiert.

Im Inklusionsblog der Aktion Mensch stellt sich Raúl Krauthausen die gleichen Fragen wie ich mir: Ist Inklusion nicht dann erfolgreich, wenn man sie nicht mehr benennt? Und führen manche gut gemeinte Inklusions-Aktionen nicht sogar zur Exklusivität?

Heute war ich in der Städtischen Kinderbibliothek, in der eine Fotoausstellung mit Irkutsker Kindern mit Down Syndrom gezeigt wird. Unter den Bildern stand jeweils der Name des Kindes und, was es gerne macht. z.B. sowas wie „Daniil puzzled gerne und ist ein Bücherwurm. Seine Familie erfreut sich jeden Tag an seinem sonnigen Gemüt.“

Im Englischen nennt man so etwas „inspiration porn“. Ein Inspirationsporno, so Stella Young, ist ein Bild, auf dem ein Mensch, meist ein Kind, mit einer Behinderung etwas vollkommen Normales tut, Laufen, Zeichnen, Tennis spielen z.B. und am Bild steht etwas wie „The only disability in life is a bad attitude.“, „Before you quit, try!“ oder ebend: „Trotz ihrer Behinderung lächelt sie oft und strahlt viel Lebensfreude aus“. Letzteres ist übrigens ein Beispielsatz von Leidmedien, der online-Ratgeber über Sprache und Behinderung, wie man nicht über Menschen mit Behinderungen berichten soll. Stella Young meint, diejenige, die diese Fotos oder auch Reklameplakate lesen, können dann meinen: „Also wenn dieser Mensch mit einer solchen Behinderung lachen und sich freuen kann, dann sollte ich mich wirklich nicht so schlecht fühlen. Und hey, es könnte schlimmer sein! Ich könnte selbst betroffen sein!“ Als Stella Young 15 Jahre alt war, wollte ihr eine Person aus der Stadtverwaltung irgendeinen „community achievement award“ verleihen. Für was denn?, fragten ihre Eltern. Sie tue doch nichts anderes als andere Kinder in ihrem Alter. Der Mensch aus der Verwaltung erwiderte „Yes, but she is such an inspiration!“.

Nun glaube ich, dass die Fotos in der Kinderbibliothek vom lokalen Verein für Eltern von Kindern mit DS „Raduga“ zeigen sollen, dass ihre Kinder ganz normale Kinder sind wie alle anderen auch. Die Normalität als Ideal finde ich allerdings ganz schön langweilig. Ich stelle mir gerade vor, dass alle Menschen auf der Welt die Trisomie 21 hätten und ich eine von wenigen Menschen mit 46 Chromosomen wäre. Dann sähe ich mein Bild in einer Ausstellung hängen, unter dem steht „Jenny hat 46 Chromosomen. Sie ist ein ernster Mensch, der sich und seine Umwelt immer unter Kontrolle haben will. Ihr Wesen ist eine Bereicherung für unsere Familie.“ He he.

Neulich schickte mir ein Kumpel ein Video, in dem begleitet von ergreifender Musik ein Hund versucht, mit einem kleinen DS-Jungen zu spielen, der ihn nicht wirklich ran lassen wollte. Zum Schluss wurde der Satz eingeblendet: „God doesn’t make mistakes.“ Was wollte mir der Kumpel damit sagen? Das ist in etwa genauso wie, wenn ich bei irgendwelchen Leuten in den Kinderwagen gucken würde und sagen würde „God doesn’t make mistakes.“. Hoffentlich findet der Vater oder die Mutter das dann auch witzig. Ich glaube allerdings, mein Kumpel hat es bitterernst gemeint.

Zurück zur inklusiven Gesellschaft. Natürlich wurden jahrhundertelang nicht die Bedürfnisse jedes Menschen berücksichtigt. Viele Menschen mit Behinderungen z.B. hatten in der Vergangenheit häufig weder die Möglichkeiten noch die Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse kund zu tun. Ich finde es super, dass es jetzt so viele tolle Projekte gibt wie wheelmap oder die Sozialhelden. Menschen mit Behinderungen werden langsam präsenter und lauter und wenn es nach mir ginge, könnten sie ruhig mal noch etwas lauterer werden und nicht immer so vorsichtig sein!