my own song

Ich will nicht sein,
so wie ihr mich wollt
ich will nicht ihr sein
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr seid
so wie ihr mich wollt
ich will nicht sein wie ihr sein wollt

nicht wie ihr mich wollt
wie ich sein will will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich bin will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
wie ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt
ich will ich sein
nicht wie ihr mich wollt will ich sein
ich will sein

[Ernst Jandl]

 

Dauerregen

Am 28. Juni ist Sascha ausgezogen. Er braucht Abstand, sagt er.

Seitdem ist Lili unerträglich. Alles nervt sie, sie hat kaum Spaß an etwas, meckert die ganze Zeit, schlägt und ärgert Anatol, hilft nicht, will ständig etwas gekauft haben und schreit mich andauernd an. Die Situation macht auch sie sehr traurig. Ich selbst bin zu müde, um mit ihr immer zu schimpfen. Es tut mir auch leid, dass ihr geliebter Papa derzeit nicht da ist.

Dann hatte auch noch beim letzten Arztbesuch im Juni der Kinderarzt bei Anatol ein Herzgeräusch gehört. Er wollte aber erst einmal abwarten. Letzte Woche hat ein anderer Arzt ein deutliches Herzgeräusch bestätigt. Wir müssen wieder zum Kardiologen. Ich mache mir Sorgen und hoffe sehr, dass es nichts Schlimmes ist.

Vor einer Woche bin ich mit den Kindern endlich in den lang ersehnten Zelturlaub nach Dierhagen an die Ostsee gefahren. Ursprünglich wollten wir zu viert fahren, nun war ich mit den beiden Kindern allein. Leider hatten wir fast die gesamte Zeit Regen und Sturm. Ich bin überrascht, dass das Zelt durchgehalten hat. Aber es war alles feucht und klamm und ich zum Schluss ziemlich erschöpft. Heute auf der Heimfahrt kam die Sonne raus. Da musste ich erst einmal Heulen. Es geht mir nicht gut.

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Dilemma Dankbarkeit

Ich empfehle jedem unbedingt das neue Buch von Udo Sierck und Nati Radtke „Dilemma Dankbarkeit„. Es ist einfach großartig. Es geht hierin um die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. „Dieser Aspekt des Zeitgeistes fordert die Renaissance der Demut“, heisst es im Klappentext.

Die beiden Autoren, die seit vielen Jahren in der politischen Behindertenbewegung aktiv sind, meinen, dass Behinderte mehr denn je als Dankbarkeits-Apostel gelten, die der Aufwertung jener dienen, die sich mit ihnen abgeben.

Das Buch nähert sich dem Phänomen Dankbarkeit historisch und aktuell aus verschiedenen Perspektiven: Dankbarkeit in Philosophie und Literatur, Dankbarkeit als christliches Rituale, Dankbarkeit und Esoterik, Dankbarkeit kontra Emanzipation, Dankbarkeit und Wissenschaft sowie Dankbarkeit und Gerechtigkeit.

An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel aus dem Kapitel ‚Dankbarkeit als christliches Ritual‘ zitieren: Die Schriftstellerin Christa Schlett beschreibt ironisch distanziert ihre Erfahrungen mit christlicher Nächstenliebe: „Wenn ich mein Leben betrachte, so sind es bald 24 Jahre, die ich damit verbrachte, erst Behinderter zu sein und dann erst Mensch. Das hört sich hart an und ein wenig bitter aber man macht so seine Erfahrungen: Als ‚Nehmender‘ sei man doch immer wieder zu unterwürfiger Dankbarkeit und Katzbuckedienerei verurteilt. Erklärte mir vor wenigen Wochen doch erst wieder ein Verwandter mit gerechtem Ernst, dass wohl jedermann in den sogenannten Himmel komme, welcher an meiner Person Christenpflicht übe. Ja, nun weiß ich endlich, zu was ich in der Welt nützlich bin. Ist es nicht eine feine Sache, wenn man so vielen Menschen zur Seligkeit verhelfen kann…?“ [aus: Schlett, Chr.: …Krüppel sein dagegen sehr. Wuppertal 1970. zit.in: Ernst Klee, Behindertenreport, Frankfurt a.M.]

Wunderbar nachvollziehbar ist für mich das Kapitel ‚Dankbarkeit und Esoterik‘, denn es beschreibt mehrere Phänomene, die ich derzeit beobachte und noch nicht ordnen konnte. Zum Beispiel der allgegenwärtige Trend der Ratgeberliteratur, die nicht selten mit einer Behauptung beginnen, die bedenkenlos bekanntes sozialdarwinistisches Gedankengut „für ein Leben in Fülle“ aufgreift. Dankbarkeit, heißt es da, „sei ganz wichtig in unserem Leben; tiefe Dankbarkeit schafft innere Zufriedenheit und ein starkes Immunsystem – denn in einem gesunden Körper befindet sich ein gesunder Geist.“ Dazu führen Sierck und Radtdke einen Sinnspruch an, der Behinderung als Abschreckungsmodell nutzt: „Ich weinte, dass ich keine Schuhe mehr hatte, bis ich jemanden traf, der keine Füße mehr hatte.“

Dankbarkeit gilt einerseits als positives Lebensgefühl, andererseits kann sie in Selbsterniedrigung enden. Die Autoren fordern mit dem Buch die Reflexion über das Dilemma der Dankbarkeit.

Nati Radtke / Udo Sierck
Dilemma Dankbarkeit
ISBN 978-3-940865-92-2 I 2015
148 Seiten I 16 €

Medizinische Experimente und Kinder-Euthanasie in meiner Geburtsstadt Brandenburg an der Havel

Bereits 1929 erklärte Adolf Hitler auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg, dass die „Beseitigung von 700.000 bis 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeborenen jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute“. 1933 wurde Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Ein Jahr später kündigte Hitler ebenfalls auf dem Nürnberger Reichsparteitag gegenüber dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner an, dass er die „unheilbar Geisteskranken zu beseitigen“ suche und zwar spätestens im Falle eines künftigen Krieges. Als äußerer Anlass und rechtfertigender Vorwand wurden dann Bittschriften von Eltern an die Kanzlei des Führers (KdF) herangezogen, die um die Gewährung des „Gnadentodes“ für ihre behinderten Kinder baten.

Gleichzeitig wurde genau berechnet, was psychische Kranke und Behinderte dem deutschen Reich kosteten. Menschen, die weder therapierbar noch für eine Arbeit einsetzbar waren,würden unnötig Geld kosten. Es bestünde kein Grund sie am Leben zu lassen. Am 22. Februar 1935 verkündete Propagandaminister Joseph Goebbels in der Aachener Westparkhalle unter „dröhnendem und durchbrausendem Beifall“:

„Man sagt: Es ist wider den Willen Gottes, daß man erbkranken Nachwuchs vernichtet. Ist es vielleicht für den Willen Gottes, daß Deutschland für Idioten und Epileptiker, die niemals geheilt werden können, im Jahr über 100 Millionen ausgibt und für gesunde Kinder nur 4½ Millionen? Ist es unchristlich, dafür zu sorgen, daß diese Unglücklichen sich nicht vermehren? Ist es unchristlich, wenn man diesen Nachwuchs nicht duldet, dafür aber der gesunden Jugend die Möglichkeit gibt, zu gedeihen und sich zu entwickeln? Wenn beispielsweise die Konfessionen, die auf dem Standort stehen, daß niemand das Recht hat, Epileptikernachwuchs zu verhindern, sich bereit erklären, dafür die Kosten zu tragen – immerhin, bitte schön!“

Rassenhygienisches Bewusstsein und eine von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen diktierte Sozialpolitik wurden in Schulbüchern propagiert, wie im folgenden Beispiel. Es zeigt anschaulich, wie durch den Appell an Mitleidsgefühlen Mord legitimiert werden sollte:

„Zu der fortschreitenden Verdummung kommt noch die Belastung des Volkskörpers mit unbrauchbaren, verbrecherischen Elementen, mit körperlich Kranken, denen das Leben zur Qual wird, mit Epileptikern, Irrsinnigen, Säufern usw. Der jährliche Gesamtaufwand für die erblich Minderwertigen beträgt in Deutschland zur Zeit etwa 350 Millionen Reichsmark. Eigentlich sollte man annehmen, daß diese erblich Belasteten durch die Stimme des Gewissens davon abgehalten werden sollten, ihre Krankheiten in ungezählten Generation fortleben zu lassen. Wenn sie eine Empfindung dafür hätten, wieviel Elend und Not, wieviel Schmerz und Jammer sie über ihre Kinder und Kindeskinder bringen können, müßten sie aus freiem Entschluß auf Nachkommenschaft verzichten. Für die erbliche Belastung kann der Einzelmensch nichts – er ist unschuldig daran, daß ihm das Vererbungsschicksal größere Lasten auferlegte als den Gesunden; er verdient dafür das Mitgefühl und die hilfsbereite Unterstützung der Glücklicheren. Es liegt in seinem Entschluß, die krankhafte Anlage durch freiwilligen Verzicht auf Nachkommenschaft zum Verschwinden zu bringen oder sie in alle Ewigkeit fortzupflanzen. Das Letztere ist eine sittliche Schuld von ungeheurem Ausmaß, die der Staat mit größerem Recht bestrafen könnte als manche belanglose Vergehen, über die in den Gerichtshöfen verhandelt wird. Wer einen andern lahmschlägt, kommt mit Recht ins Gefängnis; wenn aber ein erblich Belasteter seine Lähmung, seine Blindheit, seinen Irrsinn, seine Taubstummheit oder sonst ein schweres Leiden mehrfach fortpflanzt und damit nicht nur einen einzelnen Menschen, sondern Dutzende, ja Hunderte von künftigen Geschlechtern unglücklich macht, findet man daran nichts Besonderes! Noch vor wenigen Jahren konnte es z.B. vorkommen, daß gerichtlich für unzurechnungsfähig erklärte Geisteskranke und Verbrecher ohne weiteres heiraten und damit ihre nachteiligen Anlagen vermehren konnten. Solche Fälle müssen, künftig unter allen Umständen verhindert werden! Es ist sehr erfreulich, daß hier durch eine entschlossene Änderung der Gesetze Wandel geschaffen wird. Die deutsche Jugend hat wahrlich kein Interesse daran, ihren knappen Lebensraum auch noch mit Schwachsinnigen, Irren, Säufern und Halunken zu teilen. Es ist eine nationale Pflicht von größtem Ausmaß, Deutschland von der überhandnehmenden Minderwertigkeit, von Erbkrankheit und unabsehbarem Elend zu befreien. Diese Aufgabe geht alle Deutschen an, den Arbeiter, den Bauern, den Bürger – alle Volksgenossen, die ernstlich gewillt sind, das Elend zu mindern und die Hemmnisse zu beseitigen, die sich dem Aufschwung unseres deutschen Volkes entgegenstellen.“ Entnommen aus: Hermann Römpp: Lebenserscheinungen. Eine allgemeine Biologie für die Oberstufe höherer Lehranstalten und zum Selbstunterricht, Stuttgart 1933, S. 150.

Zum Zwecke der Tötung von „unnützen Kindern“ wurde die erste von 40 „Kinderfachabteilungen“ bereits im Oktober 1939 in der Landesanstalt Görden bei Brandenburg an der Havel eingerichtet. Leiter dieser Anstalt war der „Reichsausschuß“-Gutachter Hans Heinze. Mit Runderlass vom 1. Juli 1940 teilte das Ministerium mit, dass der „Reichsausschuß nunmehr in der Landesanstalt Görden bei Brandenburg a.H. eine Jugend-Psychiatrische Fachabteilung eingerichtet hat, die unter fachwissenschaftlicher Leitung sämtliche therapeutischen Möglichkeiten, die auf Grund letzter wissenschaftlicher Erkenntnisse vorliegen, wahrnimmt.“

Die 60 bis 80 Betten umfassende, großzügig ausgestattete Abteilung auf dem Görden in Brandenburg an der Havel diente ab 1940 auch als „Reichsschulstation“ zur Ausbildung der Ärzte, die als Leiter weiterer „Kinderfachabteilungen“ vorgesehen waren. Die Vorreiter-Funktion Brandenburg-Gördens bei der Kinder-„Euthanasie“ kam nicht von ungefähr: Heinze gehörte dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung schwerer erb- und anlagebedingter Leiden“ an und war somit an den Beratungen zur Planung der Kinder-„Euthanasie“ unmittelbar beteiligt. Ferner war er Mitglied des dreiköpfigen Gutachtergremiums, das über Leben und Tod der angezeigten Kinder entschied. Wie viele Kinder und Jugendliche in Görden getötet wurden, ist ungewiss.

Einem Teil der Kinderfachabteilungen waren Forschungsabteilungen angeschlossen, wo klinische Versuche, diagnostische Experimente und anatomische Forschungen betrieben wurden. Die eingewiesenen Kinder wurden demnach in der Regel nicht sofort getötet, sondern dienten noch für Monate der wissenschaftlichen Forschung. Die Kinder wurden unter anderem für Impfexperimente benutzt.

Es ist ein Irrglaube zu denken, Ärzte bzw. Psychiater wären von den Nazis gezwungen worden, den Mord an psychisch Kranken und Behinderten zu begehen. Sie seien keineswegs „von einem diktatorischen System getrieben worden“, sondern „eher davon, die unbegrenzten Möglichkeiten in diesem neuen „Dritten Reich“ auszunutzen“, sagt der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl, der die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) untersucht.

Die „Euthanasie“-Zentrale unterhielt von 1942 an zwei Forschungsabteilungen: die eine in der Anstalt Brandenburg-Görden, die andere in der badischen Anstalt Wiesloch beziehungsweise in der Universitätsklinik Heidelberg (seit August 1943). Zu den Nutznießern der Kinder-„Euthanasie“ gehörte z.B. das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Hirnforschung in Berlin-Buch (Nachfolger ist heute das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main). Der Abteilungsleiter für Hirnhistopathologie, Professor Julius Hallervorden, sammelte im KWI die Gehirne der„Euthanasie“-Opfer.

Das KWI für Hirnforschung, eine Schöpfung des Forscherehepaares Oskar und Cécile Vogt, hatte sich zuvor schon über Jahrzehnte hinweg mit Fragen der Hirnarchitektonik befasst. Die Vogts bemühten sich darum, den vielen von ihnen entdeckten Rindenfeldern bestimmte Hirnfunktionen zuzuordnen, wobei sie auf eine Feinanalyse der individuellen Physiognomie der Hirnrinde abzielten. Der Königsweg dahin schien im Vergleich zu liegen, in der Untersuchung der Gehirne von Menschen, die in irgendeiner Form von der Norm abwichen, Gehirnen von „Ausnahmemenschen“, Verbrechern, Hirnkranken und „Schwachsinnigen“ und von Angehörigen „kulturell zurückgebliebener“ Menschenrassen. Es ging um eine typologisierende Untersuchung der Extreme: Die Erforschung neurologischer Erkrankungen stand immer im Zusammenhang mit den Forschungen zu den „Elitegehirnen“. Praktische Probleme der Neurologie und Psychiatrie spielten im Forschungskonzept der Vogts kaum eine Rolle – und auch die Eugenik lag am Rande ihres Blickfeldes. 1937 mussten Oskar und Cécile Vogt das Institut unter dem Druck der braunen Machthaber verlasund Prof. Hugo Spatz, bis dahin Leiter des neuropathologischen Labors an der Psychiatrischen und Nervenklinik in München, übernahm den Direktorenposten. Spatz, der ausgeprägt pathologische Interessen verfolgte, verlagerte den Forschungsschwerpunkt des Instituts vom gesunden zum kranken Gehirn, wobei die Pathogenese einzelner Krankheiten und Behinderungen in den Vordergrund rückte und auch die Frage nach Anlage und Vererbung merklich an Bedeutung gewann.

Schon 1940 wurde das KWI für Hirnforschung unmittelbar in die Begleitforschung zur „Euthanasie“ eingebunden. Am 29. April 1940 wurde Julius Hallervorden – zusammen mit anderen Professoren – über die „Aktion T4“ offiziell in Kenntnis gesetzt. Bereits am 15. Mai 1940 erhielt er – im Rahmen der Kinder-„Euthanasie“ – die ersten Gehirne von im Zuchthaus Brandenburg getöteten Kindern. Bis in den Herbst hinein gingen diese Lieferungen weiter. Etwa 100 Kinder wurden aus Görden – vermutlich in zwei Transporten – in das Zuchthaus Brandenburg verlegt und dort vergast. Dies waren die „Probevergasungen“ für den späteren Massenmord durch Gas in den Konzentrationslagern. Nach Zeugenaussagen beaufsichtigte August Becker diese „Probevergasungen“ in der NS-Tötungsanstalt Brandenburg. Die allererste „Test“-Vergasung von 18 bis 20 geisteskranken Zuchthäuslern in der „Landesanstalt Brandenburg a.H.“, dem ehemaligen Zuchthaus, schilderte Becker wie folgt:

„Zu dem Start des ersten Euthanasie-Experiments in der Heilanstalt Brandenburg bei Berlin wurde ich von Brack hinbefohlen. Es war in der ersten Hälfte des Monats Januar 1940, als ich zur Heilanstalt fuhr. Baulichkeiten der Heilanstalt waren extra für diesen Zweck hergerichtet worden. Ein Raum, ähnlich einem Duschraum und mit Platten ausgelegt, in der Größe von etwa drei mal fünf Meter und drei Meter hoch. Ringsherum standen Bänke und am Boden, etwa 10 cm hoch, lief an der Wand entlang ein Wasserleitungsrohr etwa 1“ Ø. In diesem Rohr befanden sich kleine Löcher, aus denen das Kohlenoxydgas strömte. Die Gasflaschen standen außerhalb des Raumes und waren bereits an das Zuführungsrohr angeschlossen. Die Montage der Anlage wurde durch einen Monteur vom SS-Hauptamt Berlin durchgeführt […] An der Eingangstür, die ähnlich einer Luftschutztür konstruiert war, befand sich ein rechteckiges Guckloch, durch das das Verhalten der Delinquenten beobachtet werden konnte.

Die erste Vergasung wurde durch den Dr. Widmann persönlich durchgeführt Er bediente den Gashebel und regulierte die Gasmenge. Dabei unterrichtete er gleichzeitig den Anstaltsarzt Dr. Eberl und Dr. Baumhart, der später die Vernichtung in Grafeneck und Hadamar übernommen hatte […]

Bei dieser ersten Vergasung wurden etwa 18 – 20 Personen in diesen ‚Duschraum‘ geführt vom Pflegepersonal. Diese Männer mußten sich in einem Vorraum ausziehen, so dass sie vollkommen nackt waren. Die Türe wurde hinter ihnen verschlossen. Diese Menschen gingen ruhig in den Raum und zeigten keinerlei Anzeichen von Erregung. Dr. Widmann bediente die Gasanlage, durch das Guckloch konnte ich beobachten, dass nach etwa einer Minute die Menschen umkippten und auf Bänken lagen. Es haben sich keinerlei Szenen oder Tumulte abgespielt. Nach weiteren fünf Minuten wurde der Raum entlüftet. Besonders dazu bestimmte SS-Leute holten auf Spezialtragbahren die Toten aus dem Raum und brachten sie an die Verbrennungsöfen.

Wenn ich sage Spezialtragbahren, dann meine ich die für diesen Zweck eigens konstruierten Tragbahren. Diese konnten vorne direkt auf die Verbrennungsöfen aufgesetzt und mittels einer Vorrichtung konnten die Leichen mechanisch in die Öfen befördert werden, ohne daß die Träger mit der Leiche in Berührung kamen. Diese Öfen und die Tragbahren wurden ebenfalls in dem Amt Brack konstruiert. Wer dafür verantwortlich zeichnete, kann ich aber nicht sagen. Der zweite Versuch und die weiteren Vernichtungsmaßnahmen wurden dann von Dr. Eberl alleine und in eigener Zuständigkeit durchgeführt.

In Anschluß an diesen gelungenen Versuch sprach Viktor Brack, der selbstverständlich auch anwesend war und den ich vorhin vergessen habe, einige Worte. Er zeigte sich befriedigt über den Versuch und betonte nochmals, dass diese Aktion nur von den Ärzten durchgeführt werden sollte, nach dem Motto, die Spritze gehört in die Hand des Arztes. Anschließend sprach Professor Dr. Brandt und betonte ebenfalls, dass nur Ärzte diese Vergasungen durchführen sollten. Damit war der Start in Brandenburg als gelungen zu bezeichnen und die Sache lief unter Dr. Eberl laufend weiter.“[…]
[aus: Heyde-Akte Seiten 293 ff., Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. Ks 2/63, zitiert nach Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat, Seiten 110/111.]

Am 28. Oktober 1940 ging der letzte Transport mit 56 Kindern und Jugendlichen aus Görden in die Gaskammer von Brandenburg. Die Gehirne von etwa 40 Kindern aus diesem Transport finden sich in der Sammlung Hallervorden. Heinze und Hallervorden waren an Ort und Stelle an der Sektion dieser Kinder beteiligt.

Hallervorden und Spatz erhielten auch nach dem Herbst 1940 Gehirne von „Euthanasie“-Opfern, teils aus der Prosektur in Brandenburg-Görden, teils aus den Tötungsanstalten Bernburg und Sonnenstein, teils aus der Anstalt Leipzig-Dösen und anderen Anstalten, seit Anlaufen der „Aktion T4“ auch von Erwachsenen.

In der neueren Forschung setzt sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass die Gehirnlieferungen, die an das KWI für Hirnforschung gingen, nur in geringem Maße zentral gesteuert waren, sondern über die persönlichen Netzwerke liefen, in die das Institut und seine Mitarbeiter eingebunden waren, sei es, dass T4-Ärzte, die am KWI oder in Brandenburg-Görden dafür geschult worden waren, in den Tötungsanstalten von sich aus Gehirne entnahmen und nach Berlin schickten, sei es, dass Ärzte in den Stammanstalten, die mit dem KWI in Verbindung standen, die Sektion in der Tötungsanstalt veranlassten. Das KWI für Hirnforschung hatte es gar nicht nötig, sich Gehirne „auf Bestellung“ liefern zu lassen – ein kollegiales Beziehungsnetz sorgte von sich aus dafür, dass der Nachschub an Gehirnen nach Berlin nicht abriss, ohne dass die Berliner Hirnforscher ihre Wünsche noch eigens hätten anmelden müssen.

Zur Finanzierung der Hirnforschung flossen auch Mittel der DFG in die Prosektur in Brandenburg-Görden. Am 8. Mai 1944 wurde die Abteilung Hallervorden wegen der Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt von Berlin-Buch nach Dillenburg verlegt. Nach eigenen Angaben hatte Hallervorden bis zu diesem Zeitpunkt 697 Gehirne erhalten einschließlich derer, die er in Brandenburg selbst herausgenommen hatte. Jürgen Peiffer gelangt zu dem Ergebnis, dass von den 1 179 von 1939 bis 1944 in den Abteilungen Hallervorden und Spatz untersuchten Gehirnen 707 sicher oder wahrscheinlich von „Euthanasie“-Opfern stammten. Aus einem Aktenvermerk aus der Landesanstalt Görden vom Juli 1945 geht hervor, dass Hallervorden noch zu diesem Zeitpunkt – die Rote Armee hatte die Anstalt längst besetzt – Material aus der Prosektur in Brandenburg-Görden erhielt.

Nach den Probevergasungen erfolgte die weitere Tötung der kranken oder behinderten Kinder durch zeitlich gestaffelte und überdosierte Barbituratgaben wie Luminal, Veronal, Trional oder Morphin, die unter das Essen gemischt oder gespritzt wurden. Diese führten zu Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen. So konnte immer eine scheinbar natürliche, unmittelbare Todesursache attestiert werden. Das Verfahren war als sogenanntes „Luminalschema“ vom späteren medizinischen Leiter der „Aktion T4“, Professor Hermann Paul Nitsche, Anfang 1940 entwickelt worden. In Kombination mit einer systematischen Unterernährung und Unterbringung in unzureichend geheizten Räumen, konnte die angestrebte Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ durch derart provozierte Lungenentzündungen, Tuberkulose oder Typhus auf scheinbar natürliche und unauffällige Weise realisiert werden.

Die staatlichen Gesundheitsämter stellten den bürokratischen Motor in der Umsetzung der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ dar. Die Amtsärzte selektierten die damalige Bevölkerung nach „wertvoll“ und „wertlos“ bzw. „gefährlich“ für den „Volkskörper“ – und waren noch bei der bürokratischen Zuarbeit zum Massenmord an chronisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen beteiligt, wie der Schriftverkehr zwischen damaligem Reichsinnenministerium und den Staatl. Gesundheitsämtern aus dem ehemaligen Gesundheitsamt Schrobenhausen belegt. Denn ohne Einweisung eines Kindes in eine „Kinderfachabteilung“, wie sich die Mordstationen im Nazijargon nannten, gelangte in der Regel kein Kind in die Tötungseinrichtungen.

Die Opfer der Kinder-„Euthanasie“ werden auf mindestens 5.000 geschätzt. Da jedoch vor allem ältere Kinder und Jugendliche auch im Rahmen der Aktion T4 umgebracht wurden und in einigen Anstalten auch ohne Meldung an die T4-Zentrale durch Medikamente und systematische Unterernährung getötet wurden, dürfte sich die Zahl der Gesamtopfer zwischen 5.000 und 10.000 bewegen.

Es wird vermutet, dass die Kinder-Euthanasie nicht bloß für die Dauer des Krieges geplant war, sondern als langfristige Maßnahme eine stetige Vernichtung der „Unbrauchbaren“ stattfinden sollte.

Von 1939 bis 1945 fielen insgesamt 250 000 bis 300 000 psychisch, geistig und körperlich kranke Menschen der Euthanasie zum Opfer. Mit dem anfangs erwähnten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde zudem dafür gesorgt, dass etwa 360 000 bis 400 000 Menschen von 1934 bis1945 im Deutschen Reich zwangssterilisiert wurden. Hausärzte, Pfleger, Fachärzte und Hebammen waren verpflichtet, sogenannte erbkranke Menschen zu melden. Zahlreiche Ärzte, Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal machten sich mit schuldig. Kaum einer der Beteiligten wurde im Nachhinein gerichtlich belangt.

Die Wurzeln dieses Denkens gehen weit zurück. Schon um 1900 wird in Deutschland und auch in der Schweiz darüber diskutiert, ob es nicht sinnvoll sei, dass erbkranke Menschen sich nicht mehr vermehren sollten. Das fordert etwa der Psychiater und Rassenhygieniker Ernst Rüdin schon 1903. Rüdin prägte maßgeblich die neu entstehende Bewegung der sogenannten Rassenhygiene. Er fordert beispielsweise auch, dass Alkoholiker sterilisiert werden. Und er betonte, es sei zu überprüfen, ob es sinnvoll sei, dass der Staat Behinderte finanziere. Gleichzeitig war es Rüdins Motivation, sagt der Medizinhistoriker Volker Roelcke, „gute Wissenschaft zu machen. Mithilfe von wissenschaftlichem Wissen sollte der Volkskörper, der Staat, gestärkt werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben.“ Diese Menschenversuche, sagt Roelcke, entsprangen aber nicht irgendwelchen sadistischen oder kranken Gehirnen von Psychiatern oder anderen Medizinern, die nun glaubten, alles machen zu dürfen. „Das Brutale und völlig Unakzeptable an dieser Forschung ist, so Roelcke, dass hier für vermeintlich relevante und drängende Fragestellungen Versuchspersonen benutzt worden sind wie Tiere. Es war keineswegs das Anliegen, die Menschen zu quälen, wie das manchmal dargestellt wird. Damit kann man die Täter pathologisieren, sie sind dann selbst pervers oder psychisch krank, aber das stimmt nicht.“ Mit manchen Ergebnissen dieser Menschenversuche glänzten deutsche Psychiater und Neuropathologen nach dem Krieg im In- und Ausland. Viele der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen machten nach 1945 Karrieren, auch ehemalige T4 Gutachter, einige von ihnen werden sogar Präsidenten der DGPPN. Noch heute haben Institutionen wie die DGPPN große Schwierigkeiten damit, sich ihrer NS-Vergangenheit zu stellen.

Übergang zur heutigen „Eugenik von unten“

Bei der heutigen Diskussion um Pränataldiagnostik, handelt es sich nicht um eine Kollektiventscheidung zur Tötung von bereits geborenen behinderten Menschen, sondern um die Entscheidung einzelner freier Menschen, die die Diagnose bereits während der Schwangerschaft erhalten und dann die freie Wahl haben, ein nicht perfektes Embryo abzutreiben. Diese freie Entscheidung führte seit Mitte der 70er Jahre dazu, dass die Neugeborenenrate von Down-Syndrom-Kindern um zwei Drittel zurück ging. Natürlich verbietet es sich moralisch absolut, den Stab über der Entscheidung einer einzelnen Frau zu brechen und ihr bevölkerungspolitische oder eugenische Motive zu unterstellen. „Aber man muss auch sehen, dass die Wirkung von vielen Entscheidungen dennoch eine eugenische Auswirkung auf die Gesellschaft haben.“, sagt Michael Wunder, Mitglied im Kuratorium des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft und des Deutschen Ethikrats.

„Der blinde Maulwurf“ – Eine Fabel von Ursula Eggli

Auf seinem Weg, die Welt zu erkunden, lehnte der Maulwurf gemütlich an einem warmen Baumstamm. Plötzlich packte ihn jemand unsanft am Pelz und eine Stimme schrie ihm ins Ohr: „Kommen Sie, ich führe Sie zu Ihrer Höhle.“ Ich will gar nicht zu meiner Höhle, sagte der Maulwurf ärgerlich und riss sich los. Ein paar Grashalme weiter hörte er zwei flüsternde Schmetterlingsstimmen: „Sehen Sie mal den Ärmsten“, wisperte die erste. „Oh, oh, oh, wenn ich so wäre, würde ich mich einem Vogel vor den Schnabel legen!“, die zweite. Paperlapapp, dummes Gerede, brummte der Maulwurf noch ärgerlicher und trottete davon. Als nächstes hörte er eine aufgeblasene Froschstimme: „Mein Lieber, Sie sind ja schlecht rehabilitiert. Sehr schlecht. Es gibt doch heute Therapien für blinde Tiere, damit sie sich in unserer Gesellschaft besser zurecht finden. Soll ich Sie hin….“ Jetzt langt es mir aber!, schrie der Maulwurf böse und stieß in seinem Ärger mit der Nase gegen einen Stein. „Sehen Sie, ich hab’s ja gesagt“, quakte hinter ihm der Frosch zufrieden, während dem Maulwurf von vorne jemand über den Kopf streichelte. Eine salbungsvolle Mäusestimme flötete: „Lieber Freund, was tun Sie für Ihre Seele?“ Da biss der Maulwurf der frommen Maus in den Schwanz, machte rechtsumkehrt und verschwand in seiner Höhle. Seither steht der Maulwurf im Ruf, ein mürrischer, undankbarer und ungläubiger Geselle zu sein.

Behinderung ist kein schweres Schicksal!

Da schickte mir also eine Freundin den link zu einem facebook-Post von Veit Lindau, einem dieser „Lebe bewußter!- Gurus“, die ihre Weisheiten in banalen Lebenssprüchen von sich geben, für die sie tagtäglich über hunderttausend Likes bekommen und deren Bücher in Deutschland weggehen wie warme Semmeln. In diesem Fall teilte Herr Lindau mit allen Facebook-Fans sein Toilettenerlebnis mit einem Vater und seinem behinderten Kind:
„Gerade habe ich auf einer öffentlichen Toilette beobachtet, wie ein Vater seinem ca. 18jährigem gehandicapten Sohn auf eine berührende und zarte Weise half. Ich musste an all die Träume denken, die er als Vater vor der Geburt seines Sohnes wahrscheinlich hatte und die er hingeben musste, weil das Leben es anders wollte. Gerade eben fühle ich einen tiefen und stillen Respekt für all die Menschen da draußen, die ihren in irgendeiner Form gehandicapten Kindern und Angehörigen dienen – jeden Tag. Was ihr an selbstloser Liebe in die Welt bringt ist so, so, so kostbar. Ich verneige mich aufrichtig.“

114000 Likes. Wahnsinn.

Ich antworte meiner Freundin daraufhin:
Liebe […], ich freue mich wenn du ab und zu an mich denkst. Meine Träume die ich vor Anatols Geburt hatte, kann ich aber auch ganz gut MIT ihm verwirklichen. Ich teile auch nicht die Vorstellung, dass man einem behinderten Angehörigen sein Leben lang „dient“. Sicherlich mag das bei schwerst mehrfach behinderten Kindern noch etwas anderes sein als beim Down Syndrom. Das weiß ich nicht. Menschen, die behinderten Angehörigen in Situationen helfen, die sie nicht allein schaffen, sind für mich keine Helden, sondern ganz normale Leute. Eventuell können manche einige Dinge nicht mehr tun oder haben weniger Zeit dazu. Dafür gewinnen sie aber auch ganz viel dazu. Erst durch den behinderten Angehörigen lernen sie häufig sehr nette Leute kennen, neue Aktivitäten auszuprobieren, teilen ihre Zeit manchmal besser ein und leben ab und zu ein bisschen aufmerksamer. Sie setzen sich oft etwas mehr mit bestimmten Themen auseinander und haben deshalb oft einen anderen Umgang mit Behinderung entwickelt: für viele ist Behinderung etwas völlig Normales, also weder Schlimmes noch Großartiges, weder etwas Heldenhaftes noch etwas Minderwertiges. Wenn man sich vor ihnen „aufrichtig verneigt“ kommt das eher wie Mitleid rüber. Lieben Gruß, […]

Erinnert hat mich das auch an die wunderbare TED-Speech von Stella Young, die mit der Glasknochenkrankheit geboren wurde und den Begriff „Inspiration Porn“ bekannt gemacht hat, in der sie sagte „I’m not your inspiration, thank you very much.“.

Hm. Natürlich meinen Mitmenschen, die dieses tiefe Mitleid mit oder diesen Respekt vor Behinderten oder ihren Angehörigen empfinden, es wirklich ernst. Sie wollen einem damit etwas Gutes tun, etwas Nettes sagen, Empathie zeigen, Anteilnahme aussprechen usw. Noch immer weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Denn ich brauche das nicht und finde das ziemlich doof. Weiß aber, dass viele Behinderte oder Angehörige von Behinderten das sehr wohl brauchen. Außerdem brauchen das wahrscheinlich die Leute selbst, die dieses tiefe Mitleid haben, weil sie sich in dieser Form mit diesem Thema erst einmal auseinandersetzen.

Ähnlich unverständlich bleibt mir das folgende vergleichbare und ebenfalls sehr verbreitete Phänomen: am 26. April wird z.B. auf ARD der Beitrag „Sophie findet ihren Weg“ gezeigt. Hier wird das Leben eines 20-jährigen Mädchens mit Down Syndrom vorgestellt. 2006 gab es schon einmal eine Reportage über dieses damals 6jährige Mädchen, die man sich in der Mediathek anschauen kann. Sophies Mutter beschrieb damals ihre Tochter als „göttliches Geschenk“, als Aufgabe, die ihr Gott mit auf den Weg gegeben hat. Bei solchen Äußerungen stehen mir auch immer die Häärchen zu Berge. Es wird hier von einem schweren Schicksal ausgegangen, das einen getroffen hat und das man bewältigt, indem man es als gottgewollte Lebensaufgabe ansieht, die nur „auserwählten, starken Eltern“ auferlegt wird und die letztendlich ihren tiefen Sinn irgendwann haben wird.

Es gibt scheinbar wirklich sehr wenig Behinderte und sehr wenig Angehörige, die diesen Schicksals-Unsinn nicht glauben. Wenige auch, die dieses weit verbreitete, romantische Mitleids-Gedöns ziemlich nervt.

Mich nervt es. Menschen mit Behinderung sind für mich ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und nichts Besonderes. Sie wollen nicht gleich behandelt werden wie alle, sondern die gleichen Rechte wie alle. Auch Menschen mit Behinderung oder ihre Angehörigen können Arschlöcher sein. Eine Behinderung ist kein schweres Schicksal. Stattdessen ist eine schwerst mehrfach behindernde Umgebung unerträglich.

*update:

Gerade habe ich erfahren, dass Veit Lindau nun auch noch ein Buch („Zauberbuch“) mit den Bildern der behinderten „Engelein“ plant, die derzeit tausende von Eltern stolz unter seinen facebook-Post als Kommentar hoch laden. Der Erlös des Buches soll gespendet werden, damit man dem Vorzeige-Geschäftsmann nicht vorwerfen kann, er wolle mit dieser „kreativen Idee“ jetzt ordentlich Kohle machen. Macht er trotzdem damit. Und das tatsächlich so unglaublich viele Eltern bereit sind, ihre Kinder als Aushängeschild für eine gute moralische Aktion des verherrlichten Gurus zu missbrauchen, macht mich sprachlos. In einem der wenigen kritischen Kommentare auf facebook heißt es: „Ich kann mir natürlich vorstellen, dass es für die Eltern schön ist und ein Gefühl gesehen zu werden. Aber das was ich sehe ist ein Gewinn-orientierter Typ der versucht, an jeder Straßenecke und auf jedem öffentlichen Klo ’n Euro zu machen.“ Oder auch dieser Kommentar: „Leute, welche mir erzählen wie toll ich was eigentlich total Normales mache, unterstellen mir dadurch, dass mein Leben erstmal grundsätzlich weniger gut wäre als von jemandem ohne Einschränkung und ich das dadurch, dass ich das „alles so toll mache“ erstmal kompensieren müsste. Diese Dreistigkeit nervt mich!“

Mein Egozentrismus

Nach der Geburt unseres Sohnes schwankte meine Laune immer von der Enttäuschung darüber, dass unsere ganze Familie den Rest des Lebens unter den Bedingungen seiner Trisomie 21 leben müsse (damals assoziierte ich diese Bedingungen zum großen Teil mit Belastung) und der Euphorie darüber, dass wir ein ganz besonderes Kind bekommen hatten. Ein normales Leben wollte ich sowieso nie. Ich sagte sogar damals einmal zu Sascha, dass ich es gerade ganz toll finde, dass Anatol das Down Syndrom hat. Ich begründete das damit, dass ich es so spannend finde, mit zu erleben, wie gerade er sich mit diesem zusätzlichen Chromosom entwickeln wird. Sascha fand das damals sehr eigenartig, konnte diesen Gedanken jedenfalls nicht nachvollziehen.

Mich nervt immer mal wieder, dass das Down Syndrom oft als etwas absolut Furchtbares betrachtet wird. Etwas, dass sich keiner wünscht und ein solches Leben möglichst vermieden werden sollte. Da möchte ich dann immer ganz laut brüllen: „Hey Leute, das Down Syndrom ist nicht schlimm! Keine Panik!“

Für die letzte KIDS aktuell hatte ich dann ein Interview mit Carina Kühne, in dem ich sie fragte, ob sie es gut findet, dass sie das Down Syndrom hat? Sie antwortete: „Nein, natürlich nicht. Selbstverständlich hätte ich lieber kein Down Syndrom. […]“ Über diese Antwort war ich zutiefst enttäuscht und traurig. Ich hatte etwas anderes erwartet. Ich nahm an (denn ich kannte Carina Kühne ein bisschen persönlich, weil sie mal bei uns übernachtet hatte und weiß deshalb, was für ein lebensfroher Mensch sie ist), dass sie nicht so absolut antworten würde. Ich dachte, dass sie sowas antwortet wie: „Manchmal stört es mich, aber meist habe ich kein Problem damit.“ Gefreut hätte ich mich auch, wenn sie die Frage lächerlich gemacht hätte, in etwa so: „Finden Sie gut, dass Sie zwei Beine und zwei Arme haben?“
Aber so antwortete sie nicht. Nein. Stattdessen hätte sie viel lieber keine Trisomie 21 und ein ganz normales Leben.