Ich bin unruhig. Nachdem ich mich ein paar Tage mit Hartmut Rosa beschäftigt hatte und verstand, dass eine dauerhafte Entschleunigung meines Lebens unmöglich ist und ich stattdessen lieber ab und an meine persönlichen „Resonanzräume“ schaffen und erhalten sollte, warf mich der Wahlerfolg der AFD in Sachsen-Anhalt gestern Abend ziemlich aus der Bahn. Es gibt etwas viel grundsätzlicheres als meine persönliche Lebenszeit.
Ich spüre Angst.
Die gleiche Angst, die ich spüre, wenn ich Menschen über das Gelände der ehemaligen Alsterdorfer Anstalten führe und ihnen aus der Geschichte dieses Ortes erzähle. Vorauseilender Gehorsam hatte das damalige medizinische Personal der christlichen Anstalt für Menschen mit Behinderung veranlasst, die dort lebenden jüdischen Bewohner schon lange vor der offiziellen Aktion T4 an die Nazis auszuliefern und für Probe-Vergasungen nach Brandenburg an der Havel zu schicken. Insgesamt wurden später mehr als 600 Personen aus Alsterdorf Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen. Es waren Mediziner, es waren Christen, die sie in den Tod schickten. Es verbanden sie christlich-humanistische Werte, die noch bis vor einem Jahr Voraussetzung für eine Mitarbeit bei der heutigen Evangelischen Stiftung Alsterdorf waren. Die Geschichte dieser christlichen Wertegemeinschaft in Alsterdorf, eine Wertegemeinschaft, die uns ja angeblich in ganz Deutschland eint und ausmacht, ist wie ich finde symbolisch für das auseinanderdriften von theoretischen Moralvorstellungen und praktischem Handeln. Erst kürzlich wurde übrigens in einer Studie festgestellt, dass Kinder aus religiösen Familien weniger teilen als andere Kinder und härtere Strafen für Fehlverhalten forderten. Die Ergebnisse dieser Studie fand ich sehr spannend.
Die gleiche Angst spüre ich, wenn ich mit Lehrerinnen und Lehrern über die Selbstverständlichkeit von gemeinsamem Lernen diskutiere. „Es gibt nun mal Kinder, die nicht so klug sind. Das muss man akzeptieren. Da sollen doch dann nicht alle anderen in der Klasse drunter leiden.“, höre ich dann immer mal wieder. Nicht umsonst trägt das Jahrbuch für Pädagogik 2015 den unfassbaren Titel „Inklusion als Ideologie“. Ein Menschenrecht als Ideologie? Nein, es geht den meisten Pädagogen noch lange nicht ums Wie. Stattdessen geht es vielen auch noch 2016 ums Ob überhaupt. „Erst wenn die Bedingungen stimmen, können wir darüber reden.“, heisst es oft und insgeheim hoffen viele, dass sich die Diskussion mit zunehmender Pränataldiagnostik und immer weniger werdenden Schülern mit Behinderung von alleine löst. Für die paar Hanseln brauchen wir dann ja keine Extra-Wurst mehr, ne?
Angst bekomme ich, wenn Marc Jongen, der das Parteiprogramm der AFD verfasst hat, sagt „Es gibt nichts Gefährlicheres als eine Utopie, die man entgegen der Realität umzusetzen versucht.“ und damit die in seinen Augen „hysterischen, hypermoralischen Eliten“ ins Lächerliche zieht.
Mit dieser modernen „Anti-Ideologie“ werden alle gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen als wahr und ehrlich legitimiert. Der Philosoph Herbert Schnädelbach sagt: Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart. Slavoj Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in Diktaturen. Ich stimme ihm zu.
Ich habe Angst, dass immer mehr Menschen sich vor Pluralismus fürchten und lieber einfache Lösungen suchen anstatt einen Konsens der gesamten Gesellschaft anzustreben, auch wenn dieser länger dauert, auch wenn dieser anstrengend ist. Ich habe Angst davor, dass auch unser Sohn mit Trisomie 21 irgendwann direkt mit einer rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung konfrontiert wird, bei der sein Leben auf den Aspekt des Wertes für die Gesellschaft reduziert und eventuell von einer kalten Mehrheit als unwert kategorisiert wird.
Die Geschichte neigt sich zu wiederholen. Mich zurück lehnen und entschleunigen ist unmöglich. Die Angst treibt mich an.
Just in case. This one is for You, my son: Never mind the Darkness Baby you will be save by Rock ´n´ Roll!