Das Recht auf Abtreibung war für mich immer ein selbstverständliches Freiheitsrecht und es ist für mich kaum vorstellbar, dass Frauen in der Bundesrepublik dieses Recht noch gar nicht so lange haben. Bis ich 30 Jahre alt wurde hatte ich für mich entschieden, dass ich abgetrieben hätte wenn ich schwanger geworden wäre. Ich hatte noch Pläne, war nicht bereit für Kinder. Da ich mich entschieden hatte, wäre es mir völlig egal gewesen, ob in meinem Bauch ein Kind mit oder ohne Behinderung oder sonstwas herangewachsen wäre. Ich stellte mein eigenes Leben an erster Stelle, ich wollte frei und unabhängig sein.
Dann bekam ich mit 30 und mit 33 Jahren zwei absolute Wunschkinder. Seit der Geburt unseres zweiten Kindes wird mir nun häufig ein Gespräch über Pränataldiagnostik aufgedrängt. Damit hatte ich mich vorher nie beschäftigt. In den Schwangerschaften kümmerte ich mich nicht darum. Ich machte immer nur die nötisten Untersuchungen, ich brauchte keine Fotos, 3D und tamtam. Ich habe die Kinder nicht in Deutschland bekommen und weiß von daher nicht, inwiefern mir hier pränatale Diagnostik mehr aufgedrängt worden wäre als dort wo ich war; dazu kann ich nichts sagen. Das interessierte mich jedenfalls wenig. Aber ich hatte damals keine bewusste Haltung der Bejahung eines jeden Lebewesens. An die Möglichkeit der Behinderung bei unseren Babies dachte ich zwar, aber diese Gedanken waren eher abstrakt. Meine Ablehnung aller zusätzlichen Tests resultierte aus einem unbeugsamem Optimismus heraus und aus einem starken Glauben an meine eigene Kraft und Intuition. Auch, dass Sascha betonte, er wolle jede „Möhre“ lieb haben, gab mir den Mut, alles einfach auf uns zukommen zu lassen und dann gemeinsam anzupacken.
Da unser zweites Kind Down Syndrom hat, verstärkte sich nach seiner Geburt in meinem Umfeld die Diskussion über Pränataldiagnostik. Bekannte oder Freunde fragten mich plötzlich, ob ich „es“ in der Schwangerschaft schon gewusst oder getestet hatte. Gleichzeitig hatte ich plötzlich mit Leuten aus der Behinderten-Szene zu tun, die Frauen verurteilen, wenn sie ein Kind mit DS abtrieben. Das sei Mord, das sei Selektion, das sei menschenverachtend. „Die Frauen bräuchten dringend mehr Beratung und Aufklärung über das Down Syndrom, dann würden sie nicht alle abtreiben“, hieß es von einigen. Ich fühlte mich immer unwohl bei diesen Diskussionen. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung und auf Abtreibung, dachte ich. Warum also kein Kind mit Behinderung abtreiben? Ich sah diverse Gemeinsamkeiten aber auch Konflikte zwischen der Frauen- und der Behindertenbewegung, konnte sie jedoch nie wirklich fassen.
Und jetzt hat Kirsten Achtelik ein lesenswertes Buch veröffentlicht, in dem sie sich genau mit diesem Problem auseinandersetzt. Das Buch heißt „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ und es machte mir die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Themas erst richtig bewusst. Ich greife hier nur ein paar spannende Gedanken aus dem Buch auf:
Ein entscheidendes Zitat war für mich z.B. das Folgende von Theresia Degener: „Nicht die Frauenbewegung ist für die Zunahme von Humangenetik und pränataler Diagnostik verantwortlich […] . Eine Veränderung der Zustände sei aber nicht durch mehr Fremdbestimmung, also Verbote, zu erreichen, sondern dadurch, dass Betroffene ihre Lage kollektiv zu ändern versuchen.“ (in: Degener/Köbsell (1992): Hauptsache, es ist gesund? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle.)
Interessant fand ich auch, dass Achtelik die immer wieder vorgebrachte Forderung einer Verbesserung und Ausweitung von Beratung als problematisch betrachtet: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Stattdessen sollte vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen. Es folgt der m.E. schönste Satz des Buches: „Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden!“
Im letzten Teil des Buches macht Achtelik einige Vorschläge, was getan werden könne, um der Tendenz zu einer immer weiteren Normalisierung von selektiver Diagnostik und anschließenden Abtreibungen entgegen zu wirken, u.a.: „Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes! Es ist wichtig […] Teilhabe für alle an allem zu ermöglichen und Normen, Vorurteile und Diskurse zu verändern. […] Wir alle sind auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Sowohl Feministinnen als auch Behindertenrechtsaktivistinnen haben ein Interesse daran, diese scheinbar privaten Bedürfnisse zu politisieren und zu einem zentralen Bestandteil gemeinsamer politischer Auseinandersetzungen zu machen.“
Selbstbestimmung ohne Selektion. Tolles Buch! Unbedingt lesen!
Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Verbrecher Verlag Berlin