Monat: September 2013
Lili
Юлия Зиганшина
Mit dieser wundervollen Dame hatte ich im Sommer 2002 in Kasan einen Monat lang die Ehre, russische Volkslieder zu lernen und zu singen.
„Власть„
Wegweiser
Station 17
Jeder Mensch braucht dann und wann ein bisschen Wüste
Warum Russland? Und warum war ich so verrückt, beide Kinder dort zu bekommen?
Diese beiden Fragen werden mir ziemlich häufig gestellt. Meist erzähle ich dann irgendeinen Quatsch, weil ich so genau über diese beiden Fragen nie nachgedacht hatte. Es hat sich alles einfach ergeben. Wir waren damals unzufrieden in unseren Jobs in Berlin, wir wollten beide noch mehr von der Welt sehen, wir hatten beide ein Jahr in russischsprachigen Ländern gelebt und wollten Russisch noch richtig beherrschen und wir wollten gemeinsam etwas erleben. Na und da Sascha dann den Job in Irkutsk bekommen hatte und ich bald auch dort was fand, landeten wir in Sibirien. Und das fühlte sich gut an.
Kinder wollten wir von Anfang an. Sie waren nicht in Russland eingeplant. Aber ich hatte auch nichts dagegen einzuwenden. Viele Kollegen und Freunde hatten in verschiedenen Irkutsker Geburtskliniken entbunden. Warum also nicht? Und abgesehen von der mangelnden Freundlichkeit und Herzlichkeit – die ich kannte und erwartete – war ja auch alles in Ordnung. Das Einzige, was ich damals unterschätzt hatte, war, dass medizinische Betreuung nicht alles ist in einem so wichtigen Lebensabschnitt. Der Austausch mit anderen Schwangeren und nach der Geburt mit jungen Muttis hat mir enorm dann in Sibirien gefehlt. Nach der Geburt von Anatol hatte ich ja Kontakt zu mehreren anderen Muttis, ich lud sie auch zu uns nach Hause ein. Aber irgendwie blieb ich immer die Ausländerin, die nur für einen begrenzten Zeitabschnitt da ist. Was ja auch klar ist.
Wie war es in Russland? Ist auch so eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Zum einen waren diese fünf Jahre für mich von zwei Schwangerschaften und zwei Geburten geprägt. Ich habe also zwei Entdeckungsreisen parallel erlebt: Sibirien und Mutterschaft. Wow. Wie schön. Und zum Teil natürlich auch unglaublich fremd und anstrengend. Auf jeden Fall so voll, dass ich das alles nicht in zwei drei kurzen Sätzen im smalltalk zusammenfassen kann. Zum Ende unserer Zeit dort war ich von all dem Entdecken ja auch etwas erschöpft. Momentan fühle ich mich in Deutschland wohl, weil alles vertraut ist und ich nichts entdecken muss. (Selbst das von so vielen Deutschen verinnerlichte Beamtentum hat sich um keinen Deut verbessert.) Genau wie Sascha hatte ich in Russland auch erst gezögert und wollte nicht nach Deutschland. Immer hatte ich das Gefühl, wir haben noch irgendetwas nicht erlebt oder irgendetwas wichtiges nicht verstanden. Selbst die Lebensgeschichten, die ich mir im Laufe des letzten Jahres von verschiedenen Freunden und Bekannten hab erzählen lassen, haben dieses Gefühl kaum geändert.
Jetzt beginnt etwas Neues. Ich bin 34 und habe die letzten 19 Jahre nie drei Jahre am Stück in Deutschland gelebt. Die nächsten Jahre geht die Reise in mich hinein.
Darf man hier mal gepflegt einen Heulen, oder was?
So. Zurück in Deutschland. Eigentlich schon seit Ende Juni. Aber der Juli war Akklimatisierung. Der August war Funktionieren in der Mutterrolle. Und nun läuft der September so langsam an mit einem noch nicht angekommenen Ehemann, dem ein „Sprich mich nicht an!“ auf der Stirn steht.
Ich fühle mich super wohl in der Wohnung, in HH, mit den Wänstern, mit dem neuen Anfang und überhaupt. Verderben tut mir die Laune momentan nur der mürrische Mensch im Haus, der eigentlich lieber allein sein will.
Aber ich wollte über anderes schreiben. Nämlich über das lustige Wochenende. Öffentliches Heulen ist mir nicht unangenehm. Was raus muss, muss raus.
Gestern Abend erzählte mir eine entfernte Verwandte von Sascha auf einem Familientreffen, dass sie einen schwerst behinderten Sohn hatte, der vor einem Jahr mit 25 Jahren gestorben ist. Die Geschichte der Geburt, das Leben mit ihm, seine nächtlichen Schrei-Attacken, ein weiterer Unfall, jahrelanges Koma und schließlich sein Tod waren für mich so traurig, dass ich lange weinen musste. Diese Frau muss Unglaubliches durchgemacht haben! Und nun schafft sie es, relativ distanziert über ihn zu sprechen. Krass. 25 Jahre. Und ich durfte diese Geschichte hören. Vielleicht hatte sie genug Vertrauen, sie mir zu erzählen, weil wir ja auch ein geistig behindertes Kind haben? Hm. Sie ist absolut gegen „diese Inklusion“. Das hätte mit ihrem Jungen nicht funktioniert. Hm. Ich könne sie anrufen, sagt sie. Hm.
In sämtlichen Foren erzählen Eltern von Kindern mit Behinderungen, dass ihnen andere „Betroffene“ geholfen hätten. Aber ich fühle mich ja nicht betroffen oder hilflos. Ich habe genauso wenig gemeinsam mit dieser Mutter wie mit Angela Merkel. Ich will solche Geschichten hören, weil sie mich bewegen. Es macht mich auch stolz, wenn jemand mir so etwas persönliches erzählt. Nach Anatols Geburt hat mir sogar irgendeine Arbeitskollegin meiner Mutter, die einen behinderten Sohn hat, einen Brief geschrieben, „wie alles bei ihr war“. Das war mir mehr als unangenehm. Als ob wir nun etwas gemeinsam hätten. Ich habe gar nicht drauf reagiert.
Die Nacht war sehr unruhig in der fremden Umgebung. Auch, weil mich diese Mutter und ihre Art zu erzählen, irgendwie verwirrt hatten. Wir haben nicht gut geschlafen. Ziemlich übermüdet schleppe ich heute früh nun die Kinder zum Frühstück und bekomme plötzlich unerwartet den gesamten Vormittag gut gemeinte Ratschläge von verschiedenen Verwandten: ich solle mich doch „unbedingt um eine gute Förderung des Jungen kümmern“. Und dann noch der Ratschlag, „ich solle mir rechtzeitig helfen lassen, wenn ich mit mir nicht mehr klar komme“. Außerdem „solle ich doch mal ein bisschen lockerer sein“. Und „ich soll die verschrobenen Ansichten einiger Verwandter zum Thema Behinderung nicht zu nah an mich heran lassen.“ „Frauen, die weinen, sehen übrigens sehr unschön aus.“ Und last but not least, begrüßt uns ein Verwandter mit den Worten: „Ach, da sind die Sibirier. Und da ist ja der kleine Mongo.“Das war dann alles zusammen ein bisschen viel der frechen Sprüche für meine sensiblen Nerven. Zwischendurch stellte übrigens noch einer so nebenbei beim Beobachten von Anatol fest, was er denn alles nicht so gut beherrscht wie ein „normales“ Kind.
Vielen Dank für die vielen gut gemeinten Ratschläge und Kommentare! Habe sie alle verdaut, ausgeschissen und bereits das Klo runter gespült. Leben und Leben lassen.