Bei vielen Veranstaltungen für Kinder mit dem Down Syndrom, die ich im letzten Jahr besucht habe, wird gesungen. Das ist super, auch weil Anatol sehr stark auf Musik reagiert. Zum Glück versteht er noch nicht die Texte.
Denn besonders häufig werden Lieder gesungen, die sowas wie eine Diversität loben. Ich kenne die Lieder nicht, aber inhaltlich geht es meist darum, dass man super ist, egal ob dick oder dünn, weiß oder schwarz, oder, dass Gott einen liebt, egal ob man groß oder klein ist… Es fällt mir bei diesen Lieder immer sehr schwer nicht zu heulen. Dies liegt nicht daran, dass ich sie so rührend finde, sondern daran, dass ich sie wie eine extreme Form von Diskriminierung wahrnehme, die mich immer wieder sehr traurig macht, weil sie in einem so scheinbar harmonischen und/oder religiösen Schleier daher kommt.
Ich hatte schon einmal einen Blogeintrag zu einem Video geschrieben, in dem ein Hund mit einem Jungen mit DS spielt, melancholische Musik sie begleitet und zum Schluss der Satz eingeblendet wird „God doesn’t make mistakes.“ Bei diesen Liedern geht es mir ähnlich wie bei dem Video.
Vermutlich sind viele beim Thema menschliche Vielfalt doch noch im 19. Jahrhundert hängen geblieben.
Was eigentlich längst überwunden sein könnte: im 19. Jahrhundert wurde Behinderung noch als Strafe Gottes aufgefasst, als Glaubensprüfung, als den Kindern auferlegte Strafe für die Sünde der Väter. Luther deutete schon in der „Historia von einem Wechselkinde zu Dessau“ Behinderung als Werk des Teufels. Über Jahrhunderte hinweg wurden Kinder vielfach getötet, wenn sie mit einer Behinderung zur Welt kamen. Ihnen wurde die Gottebenbildlichkeit und damit die menschliche Würde abgesprochen. Im Sinne einer theologischen Ästhetik nahm der pietistische Theologe J.K. Lavater an, die Schönheit eines Menschen verweise auf die Nähe zu Gott. Körperlicher Mangel wurde von ihm als Gottferne gedeutet.
Gegen solchen Aberglauben wendete sich die Aufklärung. Der „Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wird jedoch nicht Menschen mit Lernschwierigkeiten oder geistigen Behinderungen und psychischen Störungen zugetraut. Hier versagt (noch) der aufklärerische Autonomiebegriff. Einen besonderen Akzent setzte nun die verbreitete Vorstellung, im leidenden Menschen begegne uns Christus. Folgerichtig entstand besonders im kirchlichen Kontext der Drang, Menschen mit Behinderung zu helfen. Es wurden erste Institutionen gegründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrten sich die diakonischen Anstrengungen. Im Gefolge der Rettungshausbewegung und der Gründung von Hospitälern durch Th. Fliedner u.a. erhielt das christliche Hilfehandeln mit dem Stichwort „Innere Mission“ einen konzeptionellen Rahmen. J.H. Wichern stellte sich dann ein am Leib-Christi-Motiv orientiertes Organismus-Modell vor, in dem die verfasste Kirche und die freien Vereine einander ergänzen. Aus diesem Impuls heraus wurde die diakonische Arbeit professionalisiert und ausdifferenziert. Die Anstalt, in der man sich spezialisiert um die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen und psychischen Problemen kümmern konnte, wurde zum wegweisenden Modell. Anstalten wollten eine Gegenwelt zur Industriegesellschaft sein, eine „Stadt der Barmherzigkeit“. Mit der Herausnahme aus den „normalen“ sozialen Bezügen sollte alles Störende ferngehalten werden und ein Schonraum entstehen, in dem die Bewohner und Bewohnerinnen sich positiv entwickeln konnten. In den Anstalten wurden pädagogische Anstrengungen, Arbeits- und Wohnmöglichkeiten miteinander verbunden. Dadurch wuchsen die Einrichtungen und konnten nun auch besser nach Grad und Art der Behinderung differenzieren. Die Anstalt war im 19. Jahrhundert ein fortschrittliches Modell, das die Behindertenhilfe in ganz Europa nachhaltig prägte. Allerdings wurde es mit einer Reihe von Nachteilen erkauft. Die Ausdifferenzierung erfolgte entlang der Kategorien „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“. Dadurch setzte sich zunehmend eine Defizitorientierung durch, die nicht mehr der Gottebenbildlichkeit aller Menschen Rechnung trug, sondern dem Kriterium der gesellschaftlichen Brauchbarkeit immer höhere Bedeutung zumaß. Außerdem wanderte die Diakonie institutionell aus der Gemeinde aus und wurde zur Aufgabe von Spezialisten. Die Entwicklung einer Sonderwelt für Menschen mit Behinderung war die Folge.
In den kommenden Jahrzehnten, die durch die beiden Weltkriege geprägt waren, wurden die in den Anstalten lebenden Menschen zunehmend als „Ballast“ angesehen, als minderwertige Existenzen, denen schließlich das Lebensrecht bestritten wurde. Der sozialdarwinistische Zeitgeist forderte, die Erbsubstanz des deutschen Volkes durch eugenische Maßnahmen zu stärken. Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war die „Euthanasie“ im deutschen Nationalsozialismus. Auf der Grundlage des Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden Zwangssterilisierungen angeordnet und nach Kriegsbeginn durch Führerermächtigung 260.000 Patienten aus den deutschen Heil- und Pflegeanstalten systematisch ermordet (Euthanasieaktion T 4). Die „Liberale Theologie“ hatte gegen diese Barbarei wenig entgegenzusetzen. Offenbar reichten der Appell an die Nächstenliebe und ein christliches Ethos nicht aus. Auch viele Christen und Mitarbeitende der Diakonie ließen sich durch den Nationalsozialismus instrumentalisieren. In der Auseinandersetzung zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Bekennenden Kirche“ ging es um den grundlegenden Konflikt zwischen der nationalsozialistischen „Quasireligion“ und dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Nur sehr wenig kirchliche Persönlichkeiten protestierten öffentlich gegen die Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit geistigen Behinderungen, einige halfen den Nationalsozialisten, viele schauten schweigend weg.
Nach 1945 nahmen die Anstalten wieder ihre Arbeit mit den traditionellen Konzepten auf. Zwangssterilisationen für Menschen mit Behinderungen wurden im Nachkriegsdeutschland abgeschafft (aber erst 2007 als grundgesetzwidrig anerkannt). Im Nürnberger Ärzteprozess (1946-47) wurden einige wenige Ärztinnen und Ärzte, hauptsächlich aus KZs, wegen des „Euthanasieprogramms“ verurteilt. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948) berücksichtigte behinderte Menschen dennoch nicht und erst 1990 wurden Kinder mit Behinderungen in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen miteinbezogen. In den 60er-Jahren sammelten Selbsthilfeorganisationen wie die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Spenden für bessere Bildungsbedingungen.
Zehn Jahre später entstand dann nach Vorbildern aus den USA und Großbritannien die Behindertenbewegung oder „Krüppelbewegung”: Sie wies mit dem provokanten Wort „Krüppel“ auf die Stigmatisierung behinderter Menschen als Mitleidsobjekte hin und erreichte letztlich, dass 1994 das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Grundgesetz verankert wurde. Wichtige Meilensteine der Entwicklung waren die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für Kinder mit besonderem Förderbedarf und die Entwicklung ambulanter Wohn- und Betreuungsformen.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind die Leitmotive einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nun Assistenz statt Fürsorge, Selbstbestimmung statt Mitleid, Inklusion statt Ausgliederung.
Die Defizitorientierung und die Zeit der Anstalten ist vorbei. Eine neue Perspektive setzt sich durch: Es ist vor allem die Gesellschaft, die Menschen behindert.
Das „Leiden“ zieht sich trotzdem nach wie vor wie ein roter Faden durch die Berichterstattung über behinderte Menschen in Deutschland. Zwar können Beeinträchtigungen Leid verursachen, doch das allein bestimmt nicht das Leben mit Behinderung. Durch eine Reduzierung auf die Defizite und durch die Dramatisierung des „Tragischen“ entsteht ein verzerrtes Bild, das verunsichert und Angst vor Behinderung fördert. Dennoch sind diese Erzählklischees in den Medien sehr beliebt. Neben den leidenden Behinderten wird auch gerne von den behinderten Helden geschrieben. Die amerikanische Behindertenbewegung nennt sie „Superkrüppel“: Menschen, die scheinbar alles schaffen und ihre Behinderung heldenhaft “überwinden”. Solche Geschichten sind bei den Medien beliebt, denn sie schaffen Sensation. Mit dem Alltagsleben behinderter Menschen haben sie jedoch wenig zu tun. Denn jene tun Dinge meistens nicht trotz ihrer Behinderung sondern mit ihr. Leidmedien gibt gute Tipps für Journalisten.
Zurück zu den Kinderliedern. Gott liebt alle. Punkt. Es bedarf keiner menschengemachten Kategorien. Mag sein, dass es denjenigen Eltern und Kindern, die sich als „Betroffene“ empfinden, Trost und Kraft spendet. Für diejenigen, die sich selbstverständlich als „gleich“ empfinden, ist der Inhalt dieser Lieder eine überbetonte Selbstverständlichkeit, die vollkommen unnötig ist und meines Erachtens eher eine wirkliche Gleichheit (vor Gott) abspricht. Hierzu ein kleines persönliches Beispiel: nachdem meine Mutter und meine Tante das erste Mal mit unseren Kindern im Urlaub waren, fragte mich unsere (damals vierjährige!) Tochter, ob ihr Bruder dumm sei? Ich fragte erstaunt, wie sie denn darauf kommen würde? Sie antwortete, dass Tante Nana und Oma Inge im Urlaub ständig über Anatol sagten, dass er nicht dumm sei. Das hätten sie so oft gesagt, dass seine Schwester nun annahm, er ist vielleicht wirklich dumm. Soviel zur Überbetonung.
Aber weg von Gott. Es gibt hunderte Lieder, die Vielfalt besingen und damit irgendwie das Gegenteil bewirken. Warum muss man mit Migrantenkindern Lieder singen, in denen die Kinder aller Länder „gleich“ sind? Warum muss man mit behinderten Kindern Lieder singen, in denen alle Kinder „auch wenn“ oder „trotz irgendetwas“ super sind? Kinder denken nicht in diesen Kategorien. Diese werden ihnen erst mit solchen Lieder vermittelt. Man muss ihnen keine Nächstenliebe beibringen, sie lieben jeden. Man muss ihnen keine Gleichheit anerziehen, für sie sind alle gleich.