Joachim Nikolaus Steinhöfel, Hamburger Rechtsanwalt und beliebter Großkotz, postet am 7. Juli auf facebook:
„Wer rund um die Uhr mit Allah und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen verschleiert, Wein und Musik für sündhaft hält, die europäische Literatur, den europäischen Geist und die europäische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Franzose nie den Louvre betreten, nie ein Konzert, nie eine Oper besucht hat und stattdessen glaubt, die Welt mit beduinischen Verhaltensvorschriften aus dem 7. Jahrhundert missionieren zu müssen, ist kein Europäer, auch wenn seine Eltern in Europa geboren sein sollten. Es sind Fremde, denen man auch in zweiter oder dritter Generation die gepflegte Fremdheit durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit autochthonen Europäern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie in ihr leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse ethnisch-psychisch-soziale Fremdheit. Es gibt längst überall in Westeuropa Gebiete, in denen man als Araber geboren wird.“ Michael Klonovsky
Dieses Zitat (bekam übrigens 586 Likes auf facebook, 149 mal geteilt, auch von Politikern aller Parteien) ist hochinteressant. Es beschreibt den einfachen und leicht verständlichen Aufbau eines Feindbildes, das derzeit große Zustimmung erfährt. Es schafft gleichzeitig ein vermeintliches Wir-Gefühl: WIR sind gebildet, WIR kennen UNSERE Literatur und Kunst, WIR schätzen den europäischen Geist, WIR lieben die Oper. Es transportiert wohl etwas, das viele Menschen vermissen, etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl, etwas wie ein Gefühl von Vertrautheit und Anerkennung, von Übersichtlichkeit.
Wer mit solchen Feindbildern und wenig außerdem im Kopf herumrennt, Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld bezahlt als Männern, gleichgeschlechtliche Ehe in Schulbüchern für sündhaft hält, die Weltliteratur, den Weltgeist und pluralistische Lebensart geringschätzt, wer etwa als Deutscher nie in Syrien war, nie ein Trommelkonzert in Ghana erlebte, nie einen Schneesturm in Sibirien oder vergleichbares überstanden hat und stattdessen glaubt, ein Land mit einem Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert sei innovativ und könne auf aktuelle gesellschaftliche Probleme reagieren, ist dagegen für mich kein ernst zu nehmender Mitbürger. Es sind Angsthasen, denen man auch in zweiter und dritter Generation die Angst vor Vielfalt und Pluralität durchaus ansieht, weil die Angehörigen dieser Gruppe sich weder mit allochthonen Bürgern kreuzen noch deren Kultur, obzwar sie mit ihnen leben, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Es ist eine tiefe, monströse Sehnsucht nach einer vermeintlich ethnisch-psychisch-sozialen Einheit. Es gibt längst überall in der Welt Gebiete, in denen man als Deutscher geboren wird.
In „Demokratie – Kultur – Moderne: Perspektiven der politischen Theorie“ schreibt Herbert Schnädelbach: Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart. Slavoj Žižek sieht darin gar eine weitaus gefährlichere Ideologie als in den Diktaturen. Er ist der Ansicht, dass Ideologien heute nicht mehr aufgrund eines fanatischen Engagements funktionieren, sondern vielmehr umgekehrt aufgrund einer inneren Distanz und Gleichgültigkeit, die das symbolische Mandat des Subjekts nicht ernst nehme.
Wir Palastbewohner glauben die Welt draussen zu kennen – aber in Wahrheit haben wir keine Ahnung. Wir können uns ein Leben in Armut und Misere nicht einmal mehr vorstellen, geschweige denn ein solches Leben aushalten. Darum hat auch die Solidarität mit den «Armen» oftmals etwas so Aufgesetztes, Selbstgefälliges. Im Palast wohnen und mit den anderen mitfühlen – in dieser Position hat man beides: das Geld und das gute Gewissen. Man spendet den Flüchtlingen alte, zu kleine Klamotten und redet sich damit ein, sein solidarisches Soll erfüllt zu haben. Abscheulich!
Wir müssen endlich diesen Steinhöfels und Co. den Wind aus den Segeln nehmen. Sie sind es, die die europäische pluralistische Wertegemeinschaft schwächen mit dem ständigen Schüren von Angst vor dem vermeintlich Fremden. Sie sind mit ihrer dauerhaften Verteidigung einer antidemokratischen „reinen“ Leitkultur diejenigen, die Mauern bauen und einer solidarischen Gemeinschaft schaden.
Bei vielen Veranstaltungen für Kinder mit dem Down Syndrom, die ich im letzten Jahr besucht habe, wird gesungen. Das ist super, auch weil Anatol sehr stark auf Musik reagiert. Zum Glück versteht er noch nicht die Texte.
Denn besonders häufig werden Lieder gesungen, die sowas wie eine Diversität loben. Ich kenne die Lieder nicht, aber inhaltlich geht es meist darum, dass man super ist, egal ob dick oder dünn, weiß oder schwarz, oder, dass Gott einen liebt, egal ob man groß oder klein ist… Es fällt mir bei diesen Lieder immer sehr schwer nicht zu heulen. Dies liegt nicht daran, dass ich sie so rührend finde, sondern daran, dass ich sie wie eine extreme Form von Diskriminierung wahrnehme, die mich immer wieder sehr traurig macht, weil sie in einem so scheinbar harmonischen und/oder religiösen Schleier daher kommt.
Ich hatte schon einmal einen Blogeintrag zu einem Video geschrieben, in dem ein Hund mit einem Jungen mit DS spielt, melancholische Musik sie begleitet und zum Schluss der Satz eingeblendet wird „God doesn’t make mistakes.“ Bei diesen Liedern geht es mir ähnlich wie bei dem Video.
Vermutlich sind viele beim Thema menschliche Vielfalt doch noch im 19. Jahrhundert hängen geblieben.
Was eigentlich längst überwunden sein könnte: im 19. Jahrhundert wurde Behinderung noch als Strafe Gottes aufgefasst, als Glaubensprüfung, als den Kindern auferlegte Strafe für die Sünde der Väter. Luther deutete schon in der „Historia von einem Wechselkinde zu Dessau“ Behinderung als Werk des Teufels. Über Jahrhunderte hinweg wurden Kinder vielfach getötet, wenn sie mit einer Behinderung zur Welt kamen. Ihnen wurde die Gottebenbildlichkeit und damit die menschliche Würde abgesprochen. Im Sinne einer theologischen Ästhetik nahm der pietistische Theologe J.K. Lavater an, die Schönheit eines Menschen verweise auf die Nähe zu Gott. Körperlicher Mangel wurde von ihm als Gottferne gedeutet.
Gegen solchen Aberglauben wendete sich die Aufklärung. Der „Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wird jedoch nicht Menschen mit Lernschwierigkeiten oder geistigen Behinderungen und psychischen Störungen zugetraut. Hier versagt (noch) der aufklärerische Autonomiebegriff. Einen besonderen Akzent setzte nun die verbreitete Vorstellung, im leidenden Menschen begegne uns Christus. Folgerichtig entstand besonders im kirchlichen Kontext der Drang, Menschen mit Behinderung zu helfen. Es wurden erste Institutionen gegründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrten sich die diakonischen Anstrengungen. Im Gefolge der Rettungshausbewegung und der Gründung von Hospitälern durch Th. Fliedner u.a. erhielt das christliche Hilfehandeln mit dem Stichwort „Innere Mission“ einen konzeptionellen Rahmen. J.H. Wichern stellte sich dann ein am Leib-Christi-Motiv orientiertes Organismus-Modell vor, in dem die verfasste Kirche und die freien Vereine einander ergänzen. Aus diesem Impuls heraus wurde die diakonische Arbeit professionalisiert und ausdifferenziert. Die Anstalt, in der man sich spezialisiert um die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen und psychischen Problemen kümmern konnte, wurde zum wegweisenden Modell. Anstalten wollten eine Gegenwelt zur Industriegesellschaft sein, eine „Stadt der Barmherzigkeit“. Mit der Herausnahme aus den „normalen“ sozialen Bezügen sollte alles Störende ferngehalten werden und ein Schonraum entstehen, in dem die Bewohner und Bewohnerinnen sich positiv entwickeln konnten. In den Anstalten wurden pädagogische Anstrengungen, Arbeits- und Wohnmöglichkeiten miteinander verbunden. Dadurch wuchsen die Einrichtungen und konnten nun auch besser nach Grad und Art der Behinderung differenzieren. Die Anstalt war im 19. Jahrhundert ein fortschrittliches Modell, das die Behindertenhilfe in ganz Europa nachhaltig prägte. Allerdings wurde es mit einer Reihe von Nachteilen erkauft. Die Ausdifferenzierung erfolgte entlang der Kategorien „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“. Dadurch setzte sich zunehmend eine Defizitorientierung durch, die nicht mehr der Gottebenbildlichkeit aller Menschen Rechnung trug, sondern dem Kriterium der gesellschaftlichen Brauchbarkeit immer höhere Bedeutung zumaß. Außerdem wanderte die Diakonie institutionell aus der Gemeinde aus und wurde zur Aufgabe von Spezialisten. Die Entwicklung einer Sonderwelt für Menschen mit Behinderung war die Folge.
In den kommenden Jahrzehnten, die durch die beiden Weltkriege geprägt waren, wurden die in den Anstalten lebenden Menschen zunehmend als „Ballast“ angesehen, als minderwertige Existenzen, denen schließlich das Lebensrecht bestritten wurde. Der sozialdarwinistische Zeitgeist forderte, die Erbsubstanz des deutschen Volkes durch eugenische Maßnahmen zu stärken. Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war die „Euthanasie“ im deutschen Nationalsozialismus. Auf der Grundlage des Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden Zwangssterilisierungen angeordnet und nach Kriegsbeginn durch Führerermächtigung 260.000 Patienten aus den deutschen Heil- und Pflegeanstalten systematisch ermordet (Euthanasieaktion T 4). Die „Liberale Theologie“ hatte gegen diese Barbarei wenig entgegenzusetzen. Offenbar reichten der Appell an die Nächstenliebe und ein christliches Ethos nicht aus. Auch viele Christen und Mitarbeitende der Diakonie ließen sich durch den Nationalsozialismus instrumentalisieren. In der Auseinandersetzung zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Bekennenden Kirche“ ging es um den grundlegenden Konflikt zwischen der nationalsozialistischen „Quasireligion“ und dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Nur sehr wenig kirchliche Persönlichkeiten protestierten öffentlich gegen die Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit geistigen Behinderungen, einige halfen den Nationalsozialisten, viele schauten schweigend weg.
Nach 1945 nahmen die Anstalten wieder ihre Arbeit mit den traditionellen Konzepten auf. Zwangssterilisationen für Menschen mit Behinderungen wurden im Nachkriegsdeutschland abgeschafft (aber erst 2007 als grundgesetzwidrig anerkannt). Im Nürnberger Ärzteprozess (1946-47) wurden einige wenige Ärztinnen und Ärzte, hauptsächlich aus KZs, wegen des „Euthanasieprogramms“ verurteilt. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948) berücksichtigte behinderte Menschen dennoch nicht und erst 1990 wurden Kinder mit Behinderungen in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen miteinbezogen. In den 60er-Jahren sammelten Selbsthilfeorganisationen wie die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Spenden für bessere Bildungsbedingungen.
Zehn Jahre später entstand dann nach Vorbildern aus den USA und Großbritannien die Behindertenbewegung oder „Krüppelbewegung”: Sie wies mit dem provokanten Wort „Krüppel“ auf die Stigmatisierung behinderter Menschen als Mitleidsobjekte hin und erreichte letztlich, dass 1994 das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Grundgesetz verankert wurde. Wichtige Meilensteine der Entwicklung waren die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für Kinder mit besonderem Förderbedarf und die Entwicklung ambulanter Wohn- und Betreuungsformen.
Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind die Leitmotive einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nun Assistenz statt Fürsorge, Selbstbestimmung statt Mitleid, Inklusion statt Ausgliederung.
Die Defizitorientierung und die Zeit der Anstalten ist vorbei. Eine neue Perspektive setzt sich durch: Es ist vor allem die Gesellschaft, die Menschen behindert.
Das „Leiden“ zieht sich trotzdem nach wie vor wie ein roter Faden durch die Berichterstattung über behinderte Menschen in Deutschland. Zwar können Beeinträchtigungen Leid verursachen, doch das allein bestimmt nicht das Leben mit Behinderung. Durch eine Reduzierung auf die Defizite und durch die Dramatisierung des „Tragischen“ entsteht ein verzerrtes Bild, das verunsichert und Angst vor Behinderung fördert. Dennoch sind diese Erzählklischees in den Medien sehr beliebt. Neben den leidenden Behinderten wird auch gerne von den behinderten Helden geschrieben. Die amerikanische Behindertenbewegung nennt sie „Superkrüppel“: Menschen, die scheinbar alles schaffen und ihre Behinderung heldenhaft “überwinden”. Solche Geschichten sind bei den Medien beliebt, denn sie schaffen Sensation. Mit dem Alltagsleben behinderter Menschen haben sie jedoch wenig zu tun. Denn jene tun Dinge meistens nicht trotz ihrer Behinderung sondern mit ihr. Leidmedien gibt gute Tipps für Journalisten.
Zurück zu den Kinderliedern. Gott liebt alle. Punkt. Es bedarf keiner menschengemachten Kategorien. Mag sein, dass es denjenigen Eltern und Kindern, die sich als „Betroffene“ empfinden, Trost und Kraft spendet. Für diejenigen, die sich selbstverständlich als „gleich“ empfinden, ist der Inhalt dieser Lieder eine überbetonte Selbstverständlichkeit, die vollkommen unnötig ist und meines Erachtens eher eine wirkliche Gleichheit (vor Gott) abspricht. Hierzu ein kleines persönliches Beispiel: nachdem meine Mutter und meine Tante das erste Mal mit unseren Kindern im Urlaub waren, fragte mich unsere (damals vierjährige!) Tochter, ob ihr Bruder dumm sei? Ich fragte erstaunt, wie sie denn darauf kommen würde? Sie antwortete, dass Tante Nana und Oma Inge im Urlaub ständig über Anatol sagten, dass er nicht dumm sei. Das hätten sie so oft gesagt, dass seine Schwester nun annahm, er ist vielleicht wirklich dumm. Soviel zur Überbetonung.
Aber weg von Gott. Es gibt hunderte Lieder, die Vielfalt besingen und damit irgendwie das Gegenteil bewirken. Warum muss man mit Migrantenkindern Lieder singen, in denen die Kinder aller Länder „gleich“ sind? Warum muss man mit behinderten Kindern Lieder singen, in denen alle Kinder „auch wenn“ oder „trotz irgendetwas“ super sind? Kinder denken nicht in diesen Kategorien. Diese werden ihnen erst mit solchen Lieder vermittelt. Man muss ihnen keine Nächstenliebe beibringen, sie lieben jeden. Man muss ihnen keine Gleichheit anerziehen, für sie sind alle gleich.
Sätze, die ich mir gerade mit einem etwas arroganten Lächeln genüsslich auf der Zunge zergehen lasse:
„Wissentlich ein behindertes Kind zur Welt bringen sei unverantwortlich, weil der allgemeine Steuerzahler für dieses Kind ein Leben lang Förderung/Betreuung/Unterstützung zahlen muss. Man schadet damit nicht nur sich selbst, sondern der gesamten Gesellschaft.“
„Sowas ist doch heute, in Zeiten der Pränataldiagnostik, nicht mehr nötig.“
„Da kann man sein eigenes Leben dann vergessen. Man kümmert sich nur noch um das Kind. Und wenn man selbst nicht mehr ist, müssen die Geschwister ran, ob sie wollen oder nicht.“
„Und dann dieser ganze Quatsch mit der Inklusion. Wozu soll ein geistig behindertes Kind auf eine Regelschule? Das ist vollkommen absurd und dient lediglich den egoistischen Eltern, die die Behinderung des Kindes nie akzeptieren konnten.“
„Öffentlich behaupten viele Eltern von Kindern mit dem Down Syndrom, dass diese so toll sind. Hier verschweigen sie jedoch regelmäßig, wie das wirkliche Leben mit einem behinderten Kind ist – nämlich alles andere als rosig.“
„Ich betreue seit 16 Jahren ein geistig behindertes Kind. Ein solches Kind wünsche ich niemandem.“
* alle gelesen in den Kommentaren zu einem Sendebeitrag von SternTV über die Entscheidung, ein Kind mit Down Syndrom zur Welt zu bringen.
Eine Dame mit dem facebook-Namen „Kleiner Stern“ hat mehrere Mitglieder der Gruppe „Down Syndrom – Elternforum“ beleidigt. Konkret hat sie deren Kinder als häßlich, behindert und noch anderes bezeichnet. Diese Beleidigungen wurden relativ bald von den Administratoren der Gruppe gelöscht. Nur ab und an kann man bei erneuten Trolls, die Fotos von Gruppenmitgliedern negativ kommentieren, lesen, dass es schon wieder einen „Kleinen Stern“ gibt. Die Dame hat sich zum Inbegriff des Bösen entwickelt.
Mich interessierte, wer sie ist bzw. warum sie beleidigt. Ich erfuhr, dass sie schwanger ist. In der Schwangerschaft äußerte ihr Arzt einen Verdacht auf DS bei ihrem Baby. Daraufhin hat sie Kontakt zu dieser facebook-Gruppe aufgenommen, mit mehreren Mitgliedern über ihre Erfahrungen gechatet und letztendlich eben viele von deren Kindern beleidigt.
Am 14. Mai postete sie aber in ihrer eigenen facebook-Timeline ein Foto eines Liebespaares, auf dem einer von beiden DS hat und kommentiert das Foto mit:
„Hier das beste beispiel an alle Leute….!!!!
Das sind auch ganz normale Menschen wie Du und Ich….
Aldo verdammt nochmal lasst endlich eure vorurteile ( wegen dem aussehen ) sein…. Diese Menschen sind was ganz besonderes… und jeder aber auch jeder der gegen so welche Menschen….( Mit Down Syndrom ) Urteilt soll am besten selber so bestraft werden. Diese Menschen habe soviel Lebensfreude wie kein Normaler mensch — 🙁 stocksauer.“
Ob „Kleiner Stern“ ein Kind mit DS bekommen hat oder noch gar nicht geboren hat, weiß ich nicht.
Gestern postete nun ein Gruppenmitglied einen gesamten Chatverlauf mit einer anderen Dame, die ebenfalls momentan in ihrer Schwangerschaft (20. SSW) einen Verdacht auf DS beim Baby bekommen hat. Auch sie suchte Kontakt in der Gruppe. Und auch sie begann in diesem Chat irgendwann zu fragen „Kann man mit denen wirklich ein normales Leben führen?…[…] Die sehen doch aus wie Aliens….[….]“ Nachdem das Gruppenmitglied ihr antwortete, dass die Kinder sehr hübsch sein können und er ihr ein Foto seines Kindes schickte, schrieb sie, dass dieses Kind ja auch so behindert und häßlich aussehe und sie ganz verzweifelt sei. Ganz klar war dieses Gruppenmitglied schockiert über diese Beleidigung wie auch alle Kommentatoren.
Diese Dame wurde genau wie zuvor „Kleiner Stern“ aus der Gruppe geschmissen bzw. geblockt.
Natürlich ist es grausam für Eltern, wenn jemand das eigene Kind häßlich findet. Das gilt wohl für alle Eltern der Welt. Nachdem wir die Diagnose Down Syndrom bekommen hatten, hatte ich auch sofort irgendwelche Bilder im Kopf von Menschen, die für mich (mein damaliges Wissen über geistige Behinderung war einfach Null) „behindert“ aussahen, bei denen die Zunge raus hängt und, die verwirrt mit dem Kopf gegen die Wand schlagen. Als ich dann Bilder von Conny Wenk gesehen habe, änderte sich mein Bild von Kindern mit Down Syndrom sofort. Sie zeigt, wie schön und unterschiedlich die Kinder sind, trotz ihres angeblich so gleichen Phänotyps (mandelförmige Augen, flache kurze Nase, Nackenfalte, tiefer sitzende Ohren, Muskelhypothonie).
Interessant sind für mich hier zwei Punkte: zum einen der Stellenwert von Schönheit und damit dem üblichen Schönheitsideal. Und ja, auch ich freue mich über Fotos, auf denen meine Kinder wie wunderhübsche Werbekids aussehen: gesund, glücklich, hübsche Gesichtszüge, ein bisschen wild und frech, na das Übliche eben. Fotos, auf denen Anatol seine Zunge raushängen lässt, werden sofort gelöscht. Sowas wird ausgeblendet, weil es ist nicht hübsch für mich. Es verweist auf seine Hypothonie und damit weicht es vom Ideal ab. Er kann aber auch „ideal“ wenn er nicht müde ist. Also wird er von mir nur abgelichtet, wenn er munter ist und, wenn die Sonne scheint (wegen des besseren Lichts). Dann kann man auch mal bescheuerte Kommentare hören wie „Das Down Syndrom sieht man ihm aber gar nicht an.“ Solche Kommentare fand ich immer doof, aber trotzdem versuche ich das müde Zungenbild zu vermeiden. Der innere Zwang nach Normal ist wohl zu groß.
Zum anderen finde ich die starke Ablehnung eines „unüblichen“ Aussehens, ja sogar dessen Bezeichnung als „Alien“ interessant. Erstaunlich ist, dass diese Damen so unverblümt ihre Ängste und Vorurteile äußern, obwohl sie es mit einem Gegenüber zu tun haben, der einen solchen „Alien“ zuhause hat. Aber im Internet trauen sich ja viele im Schutz der Anonymität ALLES zu äußern. Der Post von „Kleiner Stern“ auf ihrer Timeline zeigt (ungeachtet der Sinnhaftigkeit einzelner Passagen – aber der Gesamtsinn der Aussage zählt ja 😉 aber auch, dass sie sich sehr wohl mit dem Thema auseinander gesetzt hat und versucht hat, Argumente (bzw. ein Foto!) gegen die Vorurteile ihrer vielen dummen Freunde zu finden. Sicherlich ist der Verdacht oder die Diagnose Down Syndrom in der Schwangerschaft für viele werdende Eltern etwas sehr Unerwartetes. Ich finde es ganz toll, wenn sich werdende Mütter dann an Eltern wenden, die bereits ein DS-Kind haben, mit denen sie über Ängste und Erfahrungen sprechen/schreiben können.
Aber zum „Alien“ und zur „Häßlichkeit“. Ich will mich gar nicht mit den Begriffen beschäftigen, weil es um diese meines Erachtens nicht wirklich geht. Sie beschreiben lediglich Etwas, das komisch/anders aussieht. Und wie mir scheint, spielt für viele werdende Eltern gerade das Aussehen ihres Sprößlings eine wichtige Rolle. Zumindest beziehen sich die Beleidigungen der Damen ja immer auf das Aussehen. Das Visuelle scheint eine ganz besondere Bedeutung zu haben. Ferdinand Fellmann, mein zweitliebster Professor an der TU Chemnitz sagte, dass „Bilder eine magische Dimension besitzen, die sich nicht restlos in intentionales Bewusstsein auflösen lässt“. Er war davon überzeugt, dass die Logik des Bildes eine eigenständige symbolische Form „zwischen Spur und Sprache“ ist und damit wendete er sich gegen das Dogma von der sprachlichen Erschließung der Welt. Und irgendwie musste ich mich daran erinnern, als die Damen die Kinderbilder „häßlich“ fanden. Für die Damen symbolisierten sie wohl etwas zwischen Spur und Sprache, etwas, das für sie ungewiss und fremd ist, aber ihr Bild davon bestätigte. Ich finde das erstaunlich.
Am Anfang nervte mich, dass so viele Eltern der facebook-Gruppe ständig ihre Kinderfotos posten. Stattdessen erwartete ich eher inhaltlichen Austausch. Nun glaube ich, dass Fotos eine wichtige Bedeutung haben, gerade für diese Eltern. Einmal kommentierte eine Mutter das Bild ihres Säuglings mit DS dort damit, dass sie seit der Geburt ihres Kindes nie das Gefühl hatte, ein behindertes Kind zu haben.
Ich bin selbst noch ratlos, worauf ich hinaus will. Ergänzung folgt.
„Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: ‚Meinen Schlüssel.‘ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: ‚Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.'“ (aus: Anleitung zum Unglücklichsein, Paul Watzlawick)
Ich bin jetzt seit ca. einem Monat in der facebook-Gruppe „Down Syndrom Elternforum“. In dieser (kurzen!) Zeit wurde das Kind-Hund-Video bereits gefühlte zehnmal geteilt. Es scheint sehr beliebt zu sein. In dem Video spielen ein süßer Hund und ein kleiner süßer Junge mit Down Syndrom miteinander. Im Hintergrund spielt melancholischen Musik. Zum Schluss werden die Worte „God doesn’t make mistakes“ eingeblendet.
Ich kannte dieses Video schon lange vor meinem Beitritt in die facebook-Gruppe, denn es wurde mir irgendwann einmal von einem Freund zugeschickt.
Mal abgesehen von der Kitschigkeit des Formats, was man sich ja auch als nette Unterhaltung anschauen kann, verstehe ich die Intention des Videos nicht. Warum spielt im Hintergrund diese Tränendrüsenmusik? Kaum ein Zuschauer, der da nicht gerührt ist. Kaum einer, dem beim Zuschauen keine Träne läuft, dem nicht das Herz aufgeht und, der kein Mitleid fühlt. Wir erfahren außerdem, dass die Videomacher an Gott glauben. Sie glauben auch, dass dieser Gott, keine „Fehler“ macht. Den kleinen Jungen mit dem dreifachen 21. Chromosom hat also Gott erschaffen und ihn genau so gemacht, wie er sein sollte. Wenn das die Logik ist, warum wird dann Tränendrüsenmusik gespielt? Warum wird dann nicht „Love is all around me“ von Wet Wet Wet? Oder „Happy“ von Pharrel Williams oder Thunder von AC/DC gespielt?
Es scheint, so richtig wollen die Videomacher doch nicht daran glauben, dass das gottgegebene Kind wirklich „keine Fehler“ hat. Wollen sie also vielleicht das Gegenteil? Die Akzeptanz von Fehlern??
Hm. Gähn. So oft wie es geliked wird und so oft, wie Eltern von Kindern mit DS es posten oder teilen, scheint die mir unverständliche Botschaft irgendwie allen anderen klar zu sein.
Da muss wohl dieser Gott, an den sie glauben, bei mir einen Fehler gemacht haben, wenn ich das nicht verstehe.
Von Juni bis Ende November 2013 fanden 80 Männer, die auf ihrer Flucht aus Libyen auf Lampedusa gestrandet waren, dank Pastor Sieghard Wilm in der St. Pauli Kirche in Hamburg Ottensen ein Dach über dem Kopf. Die Stadt Hamburg fühlte sich zunächst nicht zuständig für diese Flüchtlinge. Nach der großen Tragödie im Oktober vor Lampedusa, immer häufigeren Demonstrationen für das Bleiberecht der 80 Männer und Hartnäckigkeit des St. Pauli-Pastors, gelang es, dass der Senat nun ausgelagerte Wohncontainer als Winterunterkünfte bereitstellte, so dass die Männer nicht mehr auf dem Kirchenboden schlafen müssen, sondern Anfang Dezember in diese Containern, die sich ebenfalls auf dem Kirchengelände befinden, umziehen konnten. Die humanitäre Ebene ist geklärt, und das freut uns, sagte Wilm zur aktuellen Situation. Dennoch ist die politische Ebene noch unklar.
Neulich bei einer Party unseres Nachbarn, bei der auch ein Polizist anwesend war, der z.B. Demonstranten beschützen muss (sagte er), die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzen, kamen wir auf dieses Thema zu sprechen. Als ein anderer Nachbar dann sagte, dass die Lampedusa-Heinis in der Pauli-Kirche doch Eliteflüchtlinge wären, die alles in den Arsch gesteckt bekommen und der Pfarrer sogar mit ihnen joggen gehe, habe ich gleich gemerkt, dass dies in dieser Runde kein gutes Thema für zukünftig friedliche Nachbarschaftsbeziehungen ist. Zumal wir eine Nachbarin haben, die vor 20 Jahren als Kind mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus dem Iran geflüchtet ist, die ersten Jahre in Deutschland im Asylbewerberheim lebte und davon noch immer traumatisiert ist. Vermutlich weiß das keiner außer ich im Haus. Mein persönliches Unwort des Jahres 2013 stand fest: Lampedusa-Heinis.
Ich gehe mal davon aus, dass unser Haus schon einen guten Querschnitt durch die Gesellschaft darstellt. Wir haben Migranten, Behinderte, Schwerverdiener, Arbeitslose, Hausfrauen, Verheiratete, Partnerschaften, Singles, Feministen, Machos, große und kleine Leute, Dicke und Dünne, Buchhalter und Autoren,… O.k., niemand im Haus ist über 50. Bei der Bundestagswahl am 22. September wurden aus unserem 8-Parteien-Haus mindestens 4 Parteien gewählt, vielleicht auch fünf. Dementsprechend spannend sind unsere Hauspartys. Auf des besagte Wort reagierte keiner. Aus den unterschiedlichsten Gründen.
Auf jeden Fall erzeugt dieses Wort noch immer in mir große Wut. „Sozialtourismus“ ist aber auch nicht schlecht.
Wenn über Menschen mit Behinderung in den Medien geredet oder geschrieben wird, wird diesen oft die Rolle des Opfers oder die Rolle des Helden zugeteilt. Das will leidmedien.de ändern. Ein Mitinitiator der Leidmedien ist Raúl Krauthausen, den ich super cool finde. Warum spielen Behinderte im TV eigentlich immer behinderte Rollen? Warum werden Behinderte nur eingesetzt, wenn es um behinderte Themen geht? Oder warum machen es sich Filmemacher eigentlich oft so leicht, indem sie nichtbehinderte Schauspieler in einen Rollstuhl setzen, anstatt einen Schauspieler im Rollstuhl zu suchen für den Film? Wann sind wir in Deutschland endlich mal an dem Punkt, dass behinderte Moderatoren nicht nur immer über das Thema Behinderung berichten, sondern einfach alle üblichen Fernsehformate wie Nachrichten, Quizshows, Werbung usw. besetzen? Diese und andere Fragen hat Raúl auf der re:publica 2013 gestellt.
In diesem Zusammenhang kam er auf Disability Mainstreaming zu sprechen. Konkret ging es um das Projekt wheelmap.org. Wheelmap ist eine online-Karte wie z.B. die googlemaps und jeder User kann rollstuhlgerechte Orte suchen, finden und markieren. Ein tolles Projekt. Wheelmap möchte aber raus aus der Nische eines Projektes von und für Rollstuhlfahrer. Warum soll es nicht einfach möglich sein, auf verschiedenen maps, die sowieso schon im Netz existieren, rollstuhlgerechte Orte einzutragen? Das kann ein Anliegen jedes Unternehmens, jedes Cafés, jeder Arztpraxis, jeder Schule sein, sich hier rollstuhlgerecht zu präsentieren.
Wie auch Wikipedia schreibt, ist Disability Mainstreaming damit analog zu Gender Mainstreaming ein Auftrag an Verwaltungen, Organisationen, kleine und große Geschäfte, etc., die unterschiedlichen Interessen und Lebenssituationen von Menschen mit und ohne Behinderung in der Struktur, in der Gestaltung von Prozessen und Arbeitsabläufen, in den Ergebnissen und Produkten, in der Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit und in der Steuerung von vornherein zu berücksichtigen, um das Ziel der Gleichstellung zu verfolgen.
Wow. Das klingt theoretisch toll. Und wheelmap versucht es, praktisch umzusetzen. Raúl Krauthausen ist einfach ein unglaublich toller Typ. Ich bewundere alle seine Projekte.
Seit 11. April ist in der Irkutsker Gallerie «Revолюция» die Fotoausstellung „Queergeneration“ von Yana Khankhatova zu sehen. Homosexualität ist in Russland noch immer ein großes Tabuthema, dass die Leute wenn, dann nur im privaten Kreis diskutieren möchten. Zu Sowjetzeiten wurde Homosexualität als Geisteskrankheit und Verbrechen eingestuft, für das man mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft wurde. Erst 1993 wurde Homosexualität entkriminalisiert. Der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, allen voran des Patriarchs Kyrill, ist seitdem beim Thema Homosexualität nicht zu unterschätzen: „Wir sind gegen die Gleichstellung homosexueller Beziehungen und für natürliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen“, sagte er 2009 noch recht vorsichtig und wiederholt dies seitdem immer deutlicher wann immer er Gelegenheit dazu bekommt. In mehreren Regionen Russlands hat sich auf kommunaler Ebene nun das „Gesetz gegen Homosexuellenpropaganda“ (das gleichzeitig gegen Bisexualität und Pädophilie ist) durchgesetzt, das angeblich Kinder und Jugendliche schützen soll. Plakate mit der Aufschrift „Schwul sein ist normal“ werden in diesen Regionen beispielsweise mit Geldstrafen geahndet, genau so wie Kinderpornographie. Die russische amtierende Gesundheitsministerin Weronika Skworzowa schoss den Vogel ab, indem sie Homosexualität mit einer Krankheit und „schädlichen vermittelten Gewohnheiten“ wie Drogensucht oder Rauchen verglich. Wir waren demnach ganz gespannt, was sich die Künstlerin aus Ulan Ude in „Queergeneration“ wagt, zu zeigen.
„Queer“, so heißt es in der Ausstellung, bedeute soviel wie „fremd“ oder „seltsam“ und wurde hier verwendet für alle nicht der Tradition entsprechenden Verhaltensmuster. Insofern nimmt die Ausstellung weniger Bezug auf Homosexualität, als vielmehr auf eine neue Form der Weiblichkeit, die in Russland bisher kaum so gezeigt wird. Ein Foto stellt z.B. eine Frau in eindeutig sexualisierter Pose dar, auf ihren Ringen steht „Fuck Love“. Ein anderes Bild zeigt eine junge Burjatin mit traditionellem Kopfschmuck und einem, ihre Brüste zum Teil entblößendem, Netzpullover. Ein anderes Bild zeigt eine burschikose Frau mit kurzen Haaren, Brille und Muskelshirt.
Da die meisten russischen Frauen, die ich kennen gelernt habe, traditionelle Frauen- und Männerrollen nicht ablehnen, ihre Weiblichkeit bewusst und gerne für diverse Zwecke einsetzen und Feminismus allgemein bzw. eine gewisse Rollendistanz komplett verweigern, fand ich die Ausstellung ziemlich gut. Auch, wenn sie nicht unsere Erwartungen von „Queer“ erfüllte.
Seit nun fast fünf Jahren erlebe ich in Irkutsk in meinem Kollegen- und Freundeskreis ein interessantes Verhältnis der Frauen zu den Männern. Eine Freundin erzählte mir beispielsweise neulich, dass sie froh ist, dass ihr Ehemann ihr wenigstens „erlaube“, ein eigenes Business zu führen. Gleichzeitig kann sie mit ihm nicht über ihr Geschäft sprechen, da er sie als Ehefrau und nicht als Geschäftsfrau wahrnehmen möchte. Als sie zeitweise mehr Geld als er verdiente, scheute sie sich mit ihm über Geld zu sprechen. Es wäre für ihn ein offensichtlicher Ehrverlust gewesen. Ein anderes Beispiel ist eine Studentin, die vor zwei Jahren in meinem Unterricht zum Thema „Equal Pay Day“ sagte, sie findet es gut und richtig, dass Männer mehr Gehalt bekommen, da sie ja auch verantwortungsvollere Arbeit leisten. Auch berichtete mir eine Kollegin mit sehr guten Deutschkenntnissen, dass sie sich nicht auf ein Deutschland-Stipendium bewerben möchte, weil ihr Mann nicht will, dass sie dorthin geht. Stattdessen wünsche er sich Kinder. Täglich beobachte ich, wie kleine Mädchen auf dem Spielplatz ausgeschimpft werden, weil sie ihre Kleidung nicht beschmutzen sollen, während Jungs wild spielen dürfen. Auch die Kindergärtnerin und unsere Kinderärztin möchten alles nur mit mir als Mutter besprechen und nichts mit dem Vater, der sich von ihnen aus der Erziehung ausgeschlossen fühlt. Immer wieder erzählen mir Bekannte, dass deren Ehemänner das ganze Wochenende auf dem Sofa liegen, nichts tun, bei jeder Bitte stöhnen und eigentlich nur von oben bis unten bedient werden möchte. Eine Sprachlehrerin an der Schule erzählte, dass ihre Arbeit von ihrem Ehemann nur als „Hobby“ bezeichnet wird, da sie ja dafür so wenig Geld bekommt, dass man das „nicht ernst nehmen könne“. Wenn die junge Juristin erzählt, dass junge Frauen am Gericht eine Erklärung unterschreiben müssen, in den nächsten drei Jahren keine Kinder zu bekommen, bevor sie eingestellt werden können, kann ich das kaum glauben. Und auch an der Universität existieren Strukturen, in denen Männer in einer extra für sie eingerichteten Position sitzen, in der sie nichts weiter zu tun haben, als Eröffnungsreden bei Veranstaltungen zu halten. Während alle Mitarbeiterinnen ihnen nach dem Munde reden, werden sie heimlich belächelt. Ich könnte die Liste noch ewig weiter führen, denn fast täglich werden mir solche Geschichten erzählt. Und immer wieder sagen mir diese Frauen, dass sie gleichberechtigt sind und, dass sie mit Frauenbewegungen oder gar Feminismus absolut nichts anfangen können.
Aber es gibt sie. Die Frauen in Russland, die etwas verändern wollen und mit der Situation mehr als unzufrieden sind. Nur sind es noch wenige. Zudem sind sie noch nicht genug organisiert und eindeutig viel zu wenig in politischen Gremien vertreten. Nadeschda Schwedowa, Politologin und Leiterin des Zentrums für Politik- und Sozialforschung am Institut für USA- und Kanada-Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften, bestätigt:
Das unzureichende Bewusstsein der Aktivistinnen in Bezug auf ihre bürgerlichen Rechte, die Unterschätzung der Notwendigkeit politischer Beteiligung, die zu schwach ausgebildete Verbindung von feministischer Theorie und Praxis der Frauenbewegung sind ein Manko. Die soziale Basis der Bewegung muss erweitert werden, es muss an Koalitionen gearbeitet werden, sowohl zwischen Frauen-NGOs untereinander als auch mit anderen Organisationen, einschließlich politischer Parteien und Gewerkschaften.
Auch sie plädiert für mehr Frauen in öffentlichen Ämtern. Zu Sowjetzeiten gab es zwar schon eine 30-Prozent-Frauenquoten im Obersten Sowjet, aber dieser war nur ein dekoratives Gremium, indem keine wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Praktisch regierte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und das Politbüro. Dort gab es jedoch in der gesamten sowjetischen Geschichte nur eine einzige Frau, die Kulturministerin Jekaterina Furzewa.
Warum distanzieren sich aber so viele Frauen in Russland vom Feminismus? Antwort darauf fand ich bei Olga Woronina, Doktorin der Philosophie und Direktorin des Moskauer Zentrums für Genderforschung:
Weil in Russland ein höchst unansehnliches Bild vom Feminismus geschaffen wurde. Besonders intensiv hat es sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre herausgebildet. Mit der Perestroika setzte in den Medien ein kritischer Pathos ein, der nicht gegen die Gesellschaft gerichtet war, die die Frauen diskriminiert, sondern gegen die Frauen selbst, indem ihnen, neben anderen ‚Sünden’, vorgeworfen wurde, ihre „natürliche Bestimmung“ vergessen zu haben. Gleichzeitig entstand ein Bild vom Feminismus als einer militant gegen Männer eingestellten Bewegung, die von Frauen gebildet wird, die im Privatleben nicht erfolgreich, nicht schön und aller Wahrscheinlichkeit nach lesbisch sind…. Das ist das karikaturhafte Bild der krummbeinigen Blaustrümpfe. Und die Frauen wollen nicht mit diesem Bild assoziiert werden.
Einen historischen Überblick über den Aufstieg der Frauenbewegung in Russland beschreibt Jelena Maximowa anhand der Artikel zum Frauentag (8. März) in der noch heute erscheinenden Zeitschrift Rabotniza („Arbeiterin“). In ihrem Text „Vom Marxismus zum Sexismus“ heißt es:
[…] In Russland wurde der Frauentag erstmals 1913 in Moskau und St. Petersburg begangen. 1914 fand er auch in Saratow, Samara, Iwano-Wosnessensk und Kiew statt. Zu dieser Zeit erschien auch die erste Ausgabe der Zeitschrift Rabotniza („Arbeiterin“), deren Gründung auf eine Initiative der Fraktion der Bolschewiki in der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) zurückging. Auf der ersten Seite der Rabotniza war zu lesen: „Die Zeitschrift verfolgt das Ziel, die Interessen der Frauenarbeiterbewegung allseits zu verteidigen.“ [….] In der Rabotniza Nr. 7 des Jahrgangs 1930 ist zu lesen: „Die millionenstarken Massen der Frauen in der UdSSR sind herangewachsen und haben einen derart bedeutenden Platz für den Aufbau des Sozialismus eingenommen, dass ihr weiteres Wachstum nur durch die ganze Partei geleitet werden kann“. [….] In den Nachkriegsjahren ist die Frau „die Reserve der Arbeiterklasse“, und am 8. März bringt sie „in unermüdlicher Arbeit“ die sowjetische Wissenschaft voran, erhöht die Arbeitsproduktivität und erzieht die Kinder. […] Mit Beginn der 1990er Jahre verschwinden praktisch nicht nur die Glückwünsche zum Feiertag von den Seiten der Rabotniza, sondern es wird der 8. März sehr oft überhaupt nicht mehr erwähnt; und wenn, dann im Kontext von „Liebe Männer, schenkt den Frauen Blumen!“ […]
Maximowa resümiert, dass aus dem einstigen Tag des Kampfes für die Gleichberechtigung der Frauen in unserer Zeit ein Tag geworden ist, der die Quintessenz des Sexismus markiert.
Das Bildungsniveau der beschäftigten Russinnen soll heute viel höher sein, als das der Männer. Russische Frauen arbeiten aber nicht nur im Bildungs- und im Gesundheitswesen, sondern auch im produzierenden Gewerbe (Hier sollen 49 % der Beschäftigten Frauen sein). Zudem kümmern sie sich meist ohne Unterstützung der Männer um Hausarbeit und Kindererziehung. Soja Chotkina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für soziale und wirtschaftliche Probleme der Bevölkerung an der Russischen Akademie der Wissenschaften schreibt:
Frauen wird für ihre Arbeit weniger gezahlt, nicht nur deshalb, weil unter ihnen viele geringbezahlte Lehrerinnen und Putzfrauen zu finden sind, und unter den Männern hochbezahlte Vorgesetzte und Minenarbeiter. Nach Angaben von Arbeitsvermittlungsfirmen werden an den selben Arbeitsplätzen männlichen Managern 25-30 % mehr Gehalt geboten als deren weiblichen Mitbewerberinnen.
Seit Anfang der 90er Jahre spricht man in Russland sogar von einer „Renaissance des Patriarchats“. Genderforscherinnen bezeichnen damit die verstärkte Diskriminierung der Frau auf dem Arbeitsmarkt, das Abdrängen der Frauen in den Bereich der Hausarbeit und die Verbreitung einer anhaltenden Frauenarmut.
Der moderne russische Trend, so die Genderforscherin Olga Sdrawomyslowa, besteht darin, dass mit traditionalistischer Ideologie und Politik führende Positionen im öffentlichen Raum eingenommen werden. Hierzu gibt es kein Gegengewicht; es fehlen jetzt praktisch jene kritische Reflexion oder sozialen Bewegungen, die auf diese Genderherausforderung antworten würden. Auf die Frage, was denn am traditionalistischen Ansatz falsch sei, antwortet Sdrawomyslowa:
Wir leben im 21. Jahrhundert, und die historisch erkämpften Werte – Menschenrechte, die Würde der Person und die Gleichberechtigung der Geschlechter – lassen sich nicht mehr abschaffen. Das Fehlen einer so wesentlichen Modernisierungskomponente wie Gleichstellung der Geschlechter wirft die Gesellschaft zweifellos ins Archaische zurück.