Das Erste, was mir nach der Geburt unseres Sohnes geraten wurde, war: „Nehme Kontakt auf zu anderen Eltern mit behinderten Kindern!“ Relativ häufig kann man auch Aussagen lesen wie „Ein Kind mit Behinderung erweitert den Horizont.“. Das sehe ich anders.
Obwohl es für mich nach Anatols Geburt in erster Linie wichtig war, ALLE (;-) Informationen zur Trisomie 21 zu bekommen, befolgte ich den gut gemeinten Rat. Da er in Irkutsk geboren wurde, nahm ich also Kontakt zu Irkutsker Müttern auf, von denen die meisten noch immer im „Schock über das behinderte Kind“ waren/sind. Obwohl diese Mütter schon ältere Kinder hatten, fand ich mich also nach der Geburt in der Rolle wieder, diese Mütter von der Normalität ihrer Situation zu überzeugen und stachelte sie auf, die Irkutsker Stadtverwaltung von der natürlichen Teilhabe ihrer Kinder am Bildungssystem zu überzeugen und damit für ihr Recht auf Arbeit zu kämpfen. Denn alle diese Mütter konnten nicht arbeiten gehen, weil es einfach keine „normale“ Kinderbetreuung für ihre Sprößlinge gab. Alle Mütter gingen davon aus, dass Deutschland das Paradies für Behinderte ist und, dass in Deutschland niemand, nach der Geburt eines behinderten Kindes, Grund dafür hat, traurig zu sein. Auch ich begann, die rechtliche Situation, die Gesundheitsversorgung und den Umgang mit Behinderten in Deutschland zu verherrlichen. Als ob es DIE einheitliche Gruppe von Behinderten gäbe. Und als ob es DEN einheitlichen Umgang mit ihnen gäbe. Doch so paradiesisch ist es hier gar nicht.
Dann las ich hunderte von Blogs von Eltern mit Kindern mit DS, in denen diese wie kleine Heilige beschrieben werden, die alle Mitmenschen glücklich machten, als ob sich Eltern nicht sowieso über jeden Schritt, den ein kleines Wesen macht, freuen würden. Und als ob, wie Birte Müller mal beschrieb, DS-Kindern die Sonne aus dem Arsch scheine.
Dann schickte mir ein befreundeter Sonderschullehrer, den ich im übrigen sehr schätze, viele links zu Dokus oder Artikeln, warum Kinder mit Behinderungen ihren geschützten Raum bräuchten und, warum man die Sonderschulen erhalten sollte. Das sehe ich anders. Menschenrechte und Inklusion sind unteilbar. Und hier noch weitere Argumente, warum ein gemeinsamer Unterricht selbstverständlich ist.
Wieso sollte es eigentlich so etwas wie eine Gruppenidentität von Eltern mit behinderten Kindern, von Sonderpädagogen oder von Behinderten geben? Ich identifiziere mich nicht mit Menschen, die eine Sonderschule befürworten, egal, ob sie Erfahrung mit Behinderten haben oder selbst behindert sind. Ich identifiziere mich auch nicht mit Eltern, die sich oder ihr Kind bemitleiden. Und schon gar nicht identifiziere ich mich mit Eltern, die aus Angst vor einem weiteren behinderten Kind, keine Kinder mehr bekommen wollen. Diese Eltern sprechen auch davon, dass ein Kind mit Behinderung den Horizont erweitere, als ob es Kinder gäbe, die den Horizont nicht erweitern würden. Soll diese Glorifizierung eines behinderten Kindes ein Schutz gegen die gesellschaftliche Ablehnung sein? Versteh ich nicht.
Ich bedaure sehr, dass in meiner Schule keine Schüler oder Lehrer mit auffälligen Behinderungen waren. Ich bedaure, dass es dort kaum Schüler oder Lehrer mit Migrationshintergrund gab. Dass niemand offen homosexuell sein konnte. Dass der Direktor und sein Stellvertreter männlich waren und, dass die Schule sich noch heute als Elitegymnasium brüstet. Eine solche Schule wünsche ich niemandem. Eine Elite-Schule kann für mich nur noch eine Schule für Alle sein.Und nun möchte ich, dass unsere Tochter in eine bunte Hamburger Schule kommt. Any suggestions?
Aber zurück zur Gruppenidentität. Ich finde es sehr schade, dass es noch so viele Menschen gibt, für die Inklusion nichts weiter als ein schönes Konstrukt ist. Es ist für mich ein ziemlich billiges Argument, zu behaupten, dass Inklusion theoretisch ja super toll ist, aber praktisch nicht funktioniert. Meist wird dann noch mit irgendwelchen Rahmenbedingungen, die nicht gegeben sind, argumentiert. Das ist genauso, wie, wenn sich mein Nachbar über DAS System beschwert. Jeder von uns hat in seinem Leben Spielräume, in denen er bewusst Entscheidungen treffen kann. Inklusion ist keine gute Sache, die eingeführt werden muss. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft, in der kein einziger Mensch fremdbestimmt werden darf und, der auch ich mich zugehörig fühlen möchte.
Würde man nur mit halb so viel Energie wie man die Selektion in Deutschland perfektioniert, Diversität perfektionieren wollen, dann wäre die Umsetzung von Inklusion auf politischer Ebene ein Kinderspiel.