Ein Jahr Krippe – Erfahrungsbericht

Im August 2013 sind wir nach Hamburg gezogen. Schon ein Jahr zuvor hatte ich im Internet nach einer geeigneten Kita gesucht. Da Lili Russisch spricht, war uns eine zweisprachige Kita wichtig. Gleichzeitig wollten wir Anatol aber möglichst in der gleichen Kita unterbringen, die zudem idealerweise schon Erfahrungen mit Kindern mit Behinderungen hatte. Eine unmögliche Kombi, dachte ich zunächst. Aber nein. Wir fanden bald die deutsch-russische Integrationskita „Mucklas“ in Hamburg Lokstedt. Da wir damals in Russland lebten, konnte ich nur über E-Mail Kontakt mit der Kita-Leiterin Renate Rieger aufnehmen. Frau Rieger war unseren Kindern gegenüber von Anfang an aufgeschlossen, schrieb mir, dass regelmäßig eine Physiotherapeutin und eine Logopädin in ihren Kindergarten kommen, ermutigte mich, es zu versuchen und freute sich, uns kennenzulernen. Von Anfang an war mir diese Aufgeschlossenheit sympathisch. Und tatsächlich suchten wir dann auch eine Wohnung in Kita-Nähe und hofften, dass es dann auch wirklich dort so klappt, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Für mich war klar, dass Anatol in die Krippe gehen wird wie jedes andere Kind. Zum einen wollte ich arbeiten gehen, zum anderen bin ich davon überzeugt, dass die meisten Kleinkinder vom frühen Umgang mit anderen Kindern profitieren. Die Frage war für mich also nie, ob Anatol in die Krippe gehen wird, sondern wo und wie ich ihn guten Gewissens lassen kann. Bei ihm hatte ich wahrscheinlich aufgrund seiner Behinderung diesbezüglich mehr Ängste als zuvor bei seiner Schwester.

Die Kita Mucklas hatte einen von 33 Anträgen gestellt, die von August bis Dezember 2013 in der Hamburger Behörde für Kinder mit Behinderungen zwischen dem vollendeten ersten und dem vollendeten zweiten Lebensjahr eingereicht wurden. Bei uns zog sich die Bearbeitung leider sehr lange hin, da wir einige Unterlagen (z.B. die amtliche Feststellung der Trisomie 21, auch Arztberichte) nur in russischer Sprache hatten. Zudem waren wir zu diesem Zeitpunkt noch privat versichert, weswegen die Erstellung eines Behandlungsplans über die Frühförderstelle nicht möglich war, wie wir erfuhren. Schließlich bekamen wir im Februar 2014 zehn Stunden pro Woche bewilligt. Die Kita stellte sehr schnell eine zusätzliche Erzieherin ein, so dass sich Anatols Bezugsperson, die ihn als (Heil-)Erzieherin von Anfang an betreute, täglich zwei Stunden voll auf ihn konzentrieren kann. Da Anatol wie seine Schwester von 9 bis 15 Uhr in die Kita geht, einigten wir uns auf eine Intensivbetreuung während der Hauptaktivität von 10 bis 12 Uhr täglich.

Aber zurück zum Anfang. Die Eingewöhnung im August 2013 lief für Anatol problemlos. Ich als Mutter war nach den ersten Tagen jedoch fix und fertig. Ich erfuhr, dass 16 Kinder von einer Russisch sprechenden Erzieherin und einer Deutsch sprechenden Heilerzieherin betreut werden. Selbst für pflegeleichte Kinder ein unmöglicher Personalschlüssel, dachte ich. Zumal unsere Große in Russland in einem kleinen Privatkindergarten war, in dem 2 Erzieherinnen 8 Krippenkinder betreuten. Dort waren wir verwöhnt. Nun sollte gerade Anatol mit so vielen Kindern zurecht kommen? Ich war skeptisch. Ich saß am Rand und wusste, solange ich anwesend bin, ist er auf mich fixiert. Da er jedoch schon immer sehr kontaktfreudig war, dauerte es nicht lange, bis er sich unter die Kinder traute. Es herrschte ein großes Gewusel, es war für mich laut, es war für mich unübersichtlich. Irgendwo mittendrin krabbelte Anatol durch dreißig Kinderbeine. Und nach dem Frühstück aß er dann alle Essensreste vom Boden auf. Er war glücklich. Ich war geschockt. Meiner ernsthaften Überlegung, den armen Anatol in eine kleine kuschelige Privatgruppe zu geben, stand das Argument meines Mannes, ich würde meine eigenen Ängste und meine Überforderung auf das Kind übertragen und der Eingewöhnung nicht genug Zeit lassen, gegenüber. Und Anatol selbst fühlte sich tatsächlich wohl in der Gruppe, das musste ich zugeben. Ich ließ dem Ganzen also Zeit und entwickelte auch immer mehr vertrauen in seine Erzieherinnen, die ja auch die ersten Monate ohne pädagogische Zusatzkraft so viel getan hatten, dass der kleine Mensch sich wohl fühlt. Schon vier Wochen nach Eintritt in die Kita begann er zu laufen. Auch das selbstständige Essen und Trinken lernte er dort. Und vor einem Monat überraschte er mich in der Kita-Eingangshalle, als er problemlos auf einem kleinen Laufrad fuhr. Diese Fortschritte bestätigen mir, dass die Entscheidung für diese Kita in unserem Fall absolut richtig war.

Die Kita Mucklas kooperiert mit dem Haus Mignon, einer Frühförderstelle, bei der Kinder bis zum dritten Lebensjahr halbjährlich untersucht werden und ihren Betreuungs- und Behandlungsplan bekommen. Hier wurde eingeschätzt, dass Anatol einmal pro Woche Physiotherapie bekommen soll (was in der Kita stattfindet) und einmal pro Woche Heilpädagogische Betreuung (bei uns abwechselnd in Kita und Zuhause). Manchmal denke ich, ich hätte gerne gesehen, was die Physiotherapeutin mit dem Jungen macht, um Anregungen für zu Hause zu bekommen. Das ist der Nachteil einer Therapie in der Kita. Da er motorisch jedoch ziemlich gut aufgestellt ist, möchte ich mir auch zusätzlich keinen Stress machen. Ich denke, das Wichtigste ist eine gute Kommunikation zwischen Erzieherinnen, Therapeutinnen und Eltern. Und das funktioniert bei uns sehr gut.

Insgesamt hat sich Anatol nach nun neun Monaten super in der Gruppe eingelebt. Er freut sich jeden Morgen, wenn ich ihn in die Gruppe bringe, auch hat er dort Freunde, mit denen wir uns manchmal nach der Kita verabreden. Und die Heilpädagogin bestätigte mir, dass er in der Gruppe einen sehr ausgeglichenen Eindruck macht und überall dabei ist. Wenn es zu viel für ihn wird, dann setzt er sich irgendwo allein hin und guckt ein Buch an, macht etwas für sich oder sucht die Nähe zur Erzieherin.

Im Nachhinein bin ich davon überzeugt, dass wir ihn nicht schonen brauchen, sondern im Gegenteil, ihm sehr viel zutrauen können. Denn er entwickelt sich bislang genau so ganz prächtig.

Die Kita Mucklas würde sich übrigens über weitere Integrationskinder freuen.

Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol (rechts) mit seinen Kita_Freunden
Anatol (rechts) mit seinen Kita-Freunden Xavier und Younes

Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann_2

Der 5. Geburtstag der Eiskönigin

Heute vor 5 Jahren ist unsere Queen of Sibiria geboren. Ich werde sentimental, wenn ich an diesen glücklichen Moment denke und daran, was für eine starke Persönlichkeit dieses kleine Wesen jetzt schon ist.

„Mama, hetz mich nicht so!“

„Mama, warum sagst du mir immer, was ich ich zu tun habe?“

„Mama, mir gefällt das aber so!“

„Mama, ich bin beschäftigt, ich kann jetzt nicht!“

„Mama, warum verbietest du mir das erst, und dann darf ich doch das Spielzeug in die Kita mitnehmen?“

„Mama, warum trägst du keine Mütze?“ „Warum trägst du keinen Fahrradhelm?“ „Warum verbietest du dem Tolja das? Lass ihn doch machen.“

….

Unsere große Liebe. Unsere Eiskönigin.

Geburtstagskind_6 Geburtstagskind_7

24.6_7 24.6_8

Das häßliche Bild vom Down Syndrom

Eine Dame mit dem facebook-Namen „Kleiner Stern“ hat mehrere Mitglieder der Gruppe „Down Syndrom – Elternforum“ beleidigt. Konkret hat sie deren Kinder als häßlich, behindert und noch anderes bezeichnet. Diese Beleidigungen wurden relativ bald von den Administratoren der Gruppe gelöscht. Nur ab und an kann man bei erneuten Trolls, die Fotos von Gruppenmitgliedern negativ kommentieren, lesen, dass es schon wieder einen „Kleinen Stern“ gibt. Die Dame hat sich zum Inbegriff des Bösen entwickelt.

Mich interessierte, wer sie ist bzw. warum sie beleidigt. Ich erfuhr, dass sie schwanger ist. In der Schwangerschaft äußerte ihr Arzt einen Verdacht auf DS bei ihrem Baby. Daraufhin hat sie Kontakt zu dieser facebook-Gruppe aufgenommen, mit mehreren Mitgliedern über ihre Erfahrungen gechatet und letztendlich eben viele von deren Kindern beleidigt.
Am 14. Mai postete sie aber in ihrer eigenen facebook-Timeline ein Foto eines Liebespaares, auf dem einer von beiden DS hat und kommentiert das Foto mit:
„Hier das beste beispiel an alle Leute….!!!!
Das sind auch ganz normale Menschen wie Du und Ich….
Aldo verdammt nochmal lasst endlich eure vorurteile ( wegen dem aussehen ) sein…. Diese Menschen sind was ganz besonderes… und jeder aber auch jeder der gegen so welche Menschen….( Mit Down Syndrom ) Urteilt soll am besten selber so bestraft werden. Diese Menschen habe soviel Lebensfreude wie kein Normaler mensch — 🙁 stocksauer.“
Ob „Kleiner Stern“ ein Kind mit DS bekommen hat oder noch gar nicht geboren hat, weiß ich nicht.

Gestern postete nun ein Gruppenmitglied einen gesamten Chatverlauf mit einer anderen Dame, die ebenfalls momentan in ihrer Schwangerschaft (20. SSW) einen Verdacht auf DS beim Baby bekommen hat. Auch sie suchte Kontakt in der Gruppe. Und auch sie begann in diesem Chat irgendwann zu fragen „Kann man mit denen wirklich ein normales Leben führen?…[…] Die sehen doch aus wie Aliens….[….]“ Nachdem das Gruppenmitglied ihr antwortete, dass die Kinder sehr hübsch sein können und er ihr ein Foto seines Kindes schickte, schrieb sie, dass dieses Kind ja auch so behindert und häßlich aussehe und sie ganz verzweifelt sei. Ganz klar war dieses Gruppenmitglied schockiert über diese Beleidigung wie auch alle Kommentatoren.
Diese Dame wurde genau wie zuvor „Kleiner Stern“ aus der Gruppe geschmissen bzw. geblockt.

Natürlich ist es grausam für Eltern, wenn jemand das eigene Kind häßlich findet. Das gilt wohl für alle Eltern der Welt. Nachdem wir die Diagnose Down Syndrom bekommen hatten, hatte ich auch sofort irgendwelche Bilder im Kopf von Menschen, die für mich (mein damaliges Wissen über geistige Behinderung war einfach Null) „behindert“ aussahen, bei denen die Zunge raus hängt und, die verwirrt mit dem Kopf gegen die Wand schlagen. Als ich dann Bilder von Conny Wenk gesehen habe, änderte sich mein Bild von Kindern mit Down Syndrom sofort. Sie zeigt, wie schön und unterschiedlich die Kinder sind, trotz ihres angeblich so gleichen Phänotyps (mandelförmige Augen, flache kurze Nase, Nackenfalte, tiefer sitzende Ohren, Muskelhypothonie).

Interessant sind für mich hier zwei Punkte: zum einen der Stellenwert von Schönheit und damit dem üblichen Schönheitsideal. Und ja, auch ich freue mich über Fotos, auf denen meine Kinder wie wunderhübsche Werbekids aussehen: gesund, glücklich, hübsche Gesichtszüge, ein bisschen wild und frech, na das Übliche eben. Fotos, auf denen Anatol seine Zunge raushängen lässt, werden sofort gelöscht. Sowas wird ausgeblendet, weil es ist nicht hübsch für mich. Es verweist auf seine Hypothonie und damit weicht es vom Ideal ab. Er kann aber auch „ideal“ wenn er nicht müde ist. Also wird er von mir nur abgelichtet, wenn er munter ist und, wenn die Sonne scheint (wegen des besseren Lichts). Dann kann man auch mal bescheuerte Kommentare hören wie „Das Down Syndrom sieht man ihm aber gar nicht an.“ Solche Kommentare fand ich immer doof, aber trotzdem versuche ich das müde Zungenbild zu vermeiden. Der innere Zwang nach Normal ist wohl zu groß.

Zum anderen finde ich die starke Ablehnung eines „unüblichen“ Aussehens, ja sogar dessen Bezeichnung als „Alien“ interessant. Erstaunlich ist, dass diese Damen so unverblümt ihre Ängste und Vorurteile äußern, obwohl sie es mit einem Gegenüber zu tun haben, der einen solchen „Alien“ zuhause hat. Aber im Internet trauen sich ja viele im Schutz der Anonymität ALLES zu äußern. Der Post von „Kleiner Stern“ auf ihrer Timeline zeigt (ungeachtet der Sinnhaftigkeit einzelner Passagen – aber der Gesamtsinn der Aussage zählt ja 😉 aber auch, dass sie sich sehr wohl mit dem Thema auseinander gesetzt hat und versucht hat, Argumente (bzw. ein Foto!) gegen die Vorurteile ihrer vielen dummen Freunde zu finden. Sicherlich ist der Verdacht oder die Diagnose Down Syndrom in der Schwangerschaft für viele werdende Eltern etwas sehr Unerwartetes. Ich finde es ganz toll, wenn sich werdende Mütter dann an Eltern wenden, die bereits ein DS-Kind haben, mit denen sie über Ängste und Erfahrungen sprechen/schreiben können.

Aber zum „Alien“ und zur „Häßlichkeit“. Ich will mich gar nicht mit den Begriffen beschäftigen, weil es um diese meines Erachtens nicht wirklich geht. Sie beschreiben lediglich Etwas, das komisch/anders aussieht. Und wie mir scheint, spielt für viele werdende Eltern gerade das Aussehen ihres Sprößlings eine wichtige Rolle. Zumindest beziehen sich die Beleidigungen der Damen ja immer auf das Aussehen. Das Visuelle scheint eine ganz besondere Bedeutung zu haben. Ferdinand Fellmann, mein zweitliebster Professor an der TU Chemnitz sagte, dass „Bilder eine magische Dimension besitzen, die sich nicht restlos in intentionales Bewusstsein auflösen lässt“. Er war davon überzeugt, dass die Logik des Bildes eine eigenständige symbolische Form „zwischen Spur und Sprache“ ist und damit wendete er sich gegen das Dogma von der sprachlichen Erschließung der Welt. Und irgendwie musste ich mich daran erinnern, als die Damen die Kinderbilder „häßlich“ fanden. Für die Damen symbolisierten sie wohl etwas zwischen Spur und Sprache, etwas, das für sie ungewiss und fremd ist, aber ihr Bild davon bestätigte. Ich finde das erstaunlich.

Am Anfang nervte mich, dass so viele Eltern der facebook-Gruppe ständig ihre Kinderfotos posten. Stattdessen erwartete ich eher inhaltlichen Austausch. Nun glaube ich, dass Fotos eine wichtige Bedeutung haben, gerade für diese Eltern. Einmal kommentierte eine Mutter das Bild ihres Säuglings mit DS dort damit, dass sie seit der Geburt ihres Kindes nie das Gefühl hatte, ein behindertes Kind zu haben.

Ich bin selbst noch ratlos, worauf ich hinaus will. Ergänzung folgt.

 

Gedanken zum (deutschen) Berichtswesen in der Frühförderung

Mehrmals wurde uns „ans Herz gelegt“, uns mit dem Jungen beim Werner Otto Institut anzumelden. Hier würde er regelmäßig durchgecheckt werden. Die Ärzte und Therapeuten dort haben seit 40 Jahren mit „entwicklungsverzögerten“ und „behinderten“ Kindern zu tun. Sie kennen sich sehr gut aus mit DS. Wir fühlen uns zwar von unserem Kinderarzt, HNO-Arzt und Augenarzt recht gut betreut. Aber die kennen sich noch besser aus mit „solchen“ Kindern, hieß es immer wieder. Na gut. Termin gemacht. Ende April dagewesen. Heute einen dreiseitigen Bericht dazu erhalten (der im Original an den Kinderarzt geht, wir haben die Kopie bekommen).

Nach unserem Antrag auf interdisziplinäre Frühförderung mussten wir uns im Januar beim Psychologischen Dienst im Bezirksamt Eimsbüttel der Stadt Hamburg vorstellen. Nach unserem Antrag auf Pflegegeld kam (auch im Januar) der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nord zu uns nach Hause. Und schließlich mussten wir zur eigentlichen Erstellung des „Förder- und Behandlungsplans“ zur Eingangsdiagnostik ins Haus Mignon.

Von all diesen Stellen haben wir „Berichte“ erhalten, in denen wir erfahren, wie die Schwangerschaft und Geburt verlief, wie unsere Familiensituation ist, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und (ganz besonders interessant) auf welchem Entwicklungsstand (verglichen mit normal-entwickelten Kindern) es sich befindet. Im Februar wurde dem 23 Monate alten Jungen z.B. von Dr. Warlitz im Haus Mignon ein Entwicklungsstand eines 14 Monate alten Jungen diagnostiziert. Im April wurde für das 25 Monate alte Würmchen von Dr. Traus im Werner Otto Institut ein Entwicklungsstand eines 19 Monate alten Kindes ermittelt.

Abgesehen davon, dass es mich nervt, immer wieder irgendwelchen Leuten von der Schwangerschaft und Geburt zu erzählen (wozu eigentlich?) und es mich noch mehr stört, dass diese Leute unsere Familiensituation einschätzen (was soll das?), befremdet mich die permanente „Skalen-Einordnung“ des Entwicklungsstandes unseres Kindes.

Die „Anamnese“ des Werner Otto Instituts beginnt beispielsweise mit „Familienanamnese: Anatol ist das zweite Kind gesunder Eltern, 4 1/2 jährige Schwester ist ebenfalls gesund.“ Warum wird das „gesund“ hier betont? Ist Anatol in ihrem Verständnis nicht gesund? Selbst, wenn einer von uns Eltern eine Behinderung haben würde, welche Rolle spielt das hier? Die Schwangerschaft wird beschrieben mit den Worten: „keine Medikamenteneinnahme, keine Diät, kein Konsum neurotoxischer Substanzen“. Warum steht nicht einfach „unauffällig“? Warum die Negation gerade dieser Punkte? Was wäre, wenn ich hätte Medikamente in der Schwangerschaft nehmen müssen? Oder Diabetes gehabt hätte? Welche Rolle spielt auch dieser Punkt für seine Entwicklung? Irgendwann kommt dann der Punkt „Soziale Situation“, unter dem geschrieben steht, dass das Kind in einem Haushalt mit beiden Eltern und der Schwester lebt, wobei der Vater arbeitet und die Mutter arbeitslos ist. Welche Bedeutung hat das für die Entwicklung unseres Sohnes? Ich fühle mich beim Lesen dieser Berichte wie ein gläserner Mensch, der eine nett konstruierte Krankengeschichte seines vollkommen gesunden Kindes nachvollziehen darf.

Wir haben aber kein krankes Kind, sondern ein Kind mit Trisomie 21. Wir haben kein entwicklungsverzögertes Kind, sondern ein Kind, das sich in seinem Tempo entwickelt. Demzufolge bedarf es auch keiner Anamnese.

Das  Beste war die Psychologin im Bezirksamt Eimsbüttel. Ich sollte zunächst ALLES seit Schwangerschaft erzählen, wie immer. Dann schrieb sie auf, was sie an dem Jungen beobachtete. Irgendwann sagte sie dann zu mir „Es wird ja behauptet, es gäbe auch einen Mann mit Down Syndrom, der studiert hat. […] Das glaube ich nicht. Ich habe noch nie einen einzigen Menschen mit Down Syndrom hier gesehen, der Lesen oder Schreiben konnte!“ Ich erzählte von vielen Menschen mit Down Syndrom, die Lesen und Schreiben können. Sie ergänzte, dass sie sich das einfach nicht vorstellen könne. Aber sie hätte ja auch nur die „schweren Fälle“ bei sich im Büro zu sitzen.

20..5_11