Mehr Sonne und mehr Meer

Letzten Donnerstag haben wir uns spontan entschieden, das Wochenende an der Ostsee zu verbringen. Wir wollten mal raus aus der Großstadt. Glücklicherweise habe ich kurzfristig eine wunderschöne Ferienhütte in Ahrenshoop gefunden. Ein Mietauto ging auch kurzfristig mit günstigem Wochendendtarif klar.
Das Häuschen war herrlich und wir hatten das ganze Wochenende Sonne. Nach tagelangem Regen in Hamburg (hört dieser Regen hier denn nie auf??) haben wir das gebraucht.
Leider hat Anatol auf dem Heimweg eine dicke Erkältung mitgebracht. Und wenn er nicht in die Kita geht, wird Liljana auch immer krank. Heute früh tat ihr ganz plötzlich der Rücken und das Schienbein weh.

Ich (am Mittagstisch): Isst du bitte noch zwei Löffel Reis?
Lili: Sag das nicht! Du bist nicht meine Mutter! Weißt du etwa nicht, wer ich bin? Ich bin… DIE KÖNIGIN DER NACHT! Fürst Sarastro hat meine Tochter Anna entführt. Ich befehle dir, sie zu befreien!
Ich: Und was ist mit dem Reis?
Lili (richtig böse): Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin die Königin der Nacht ….

Das Zauberflöten-Fieber kommt auch noch dazu.

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Wider die Therapiesucht!

Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sagten einige Bekannte, dass diese Kinder sich heutzutage mit den ganzen (Früh-)Fördermöglichkeiten doch recht gut entwickeln könnten. Ich war geschockt. Zum einen über die Entindividualisierung unseres Kindes (es war für sie kein einzigartiges Baby, sondern ein Down-Syndrom-Kind), zum anderen darüber, dass man mir statt Glückwünsche zur Geburt gleich mal den Tipp gibt, das unperfekte Kind bestmöglicht zu therapieren. Ein Verwandter meinte bei einem Familientreffen sogar ganz besonders eindringlich betonen zu müssen, dass wir uns unbedingt um gute Fördermöglichkeiten kümmern sollten. Damit täten wir uns und unserem Sohn einen riesigen Gefallen, das sei das A und O.

Ich reagierte immer recht wütend auf diese Aussagen. Schon bei unserer Tochter hatte mich genervt, wenn Freundinnen erzählten, dass sie mit ihrem Nachwuchs zur musikalischen Früherziehung oder zum Englisch für Neugeborene gingen. So etwas kam für uns nie in Frage. Und nun sollte ich mich bloß wegen eines zusätzlichen Chromosoms mit diesem ganzen Förderzeug beschäftigen? Das ärgerte mich, denn darauf hatte ich eigentlich keine Lust. Zum Glück ist unser Sohn in Russland geboren und wir sind erst nach Deutschland zurück gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. In Russland beschränkte sich die ärztlich empfohlene Frühförderung auf regelmäßige Massagen. Das war gut, damit konnten wir leben.

Als wir nach Hamburg kamen, schlugen die Therapeuten der Frühförderstelle die Hände über den Kopf zusammen. Anderhalb Jahre keine Frühförderung? Sie waren gespannt, wie das Kind sich da entwickeln konnte. Immer wieder sagten sie, dass die gesamte Entwicklung eines behinderten Kindes von den Eltern abhängig ist. In Russland geboren und keine Frühförderung – da sei ja alles klar.

Da ich neugieirig war, was eigentlich Heilpädagogen mit DS-Kindern machen (das DS kann ja schließlich nicht geheilt werden), war ich einverstanden, dass die Therapeutin abwechselnd zu uns und in die Kita geht. Und da DS-Kinder automatisch Physiotherapie verschrieben bekommen und ich weiß, dass Anatol gerne turnt, habe ich auch das beantragt, obwohl er motorisch sehr fit ist. Nach mittlerweile einem Jahr Heil- und Physiotherapie im Kindergarten würde ich frech behaupten, dass diese beiden Therapien für unseren Sohn nicht notwendig gewesen wären. Die Heilpädagogin hat den Kita-Erzieherinnen und mir ein paar nützliche Tipps gegeben, das wars dann eigentlich auch. Ich will keinesfalls eine Förderung über Therapien in Frage stellen. Ich sage nur, dass es für unseren Sohn vermutlich keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er diese 12 Monate nicht einmal die Woche daran teilgenommen hätte. Und ich bin davon überzeugt, dass seine Physiotherapeutin und seine Heilpädagogin das ebenso einschätzen.

Michael Wunder und Udo Sierck schrieben schon 1981 in ihrem Buch „Sie nennen es Fürsorge“: Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. […] Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. […] Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.

Was ist gegen dieses sich mit Allmacht durchsetzende Therapiedenken zu setzen, ohne in das fatale Fahrwasser zu geraten, notwendige Therapien, Hilfe und Förderung zu verweigern?
Wunder und Sierck forderten ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte.

Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders. Viele Therapeuten beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr Förderung verunsichern. Frühförderung und Sonderkindergärten können aber der Anfang einer lebenslangen Sonderbehandlung sein.

In erster Linie brauchen Kinder Liebe und Normalität. Egal, ob sie das Down Syndrom haben oder nicht. Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht könnte unser Sohn durch gezielteres Gebärdenlernen im Schwimmbad zeigen, wenn er einen Joghurt essen oder auf Elefanten reiten will. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns jedoch kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll, so wie er ist.

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Spazierengehen ist so grässlich

Der kleine Racker hat eine Bronchitis. Der große Racker möchte auch eine Bronchitis haben. Weil man dann beim Kinderarzt etwas aussuchen kann. Und, weil man nicht in den Kindergarten muss. Der kleine Racker kann seinen Willen noch nicht so stark durchsetzen. Er ist also noch mehr oder weniger fremdbestimmt. Der große Racker kann! Er kann auch hervorragend krank spielen.

z.B. will er NIE rausgehen. Wenn er könnte, würde er den halben Tag Filme gucken und den Rest des Tages abwechselnd Malen und in der Badewanne tauchen. Trotzdem habe ich heute mit einem hinterlistigen Trick den Kampf ums „noch-ein-bisschen-an-die-frische-Luft-gehen“ gewonnen. Ha!

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Sprachentwicklung, Forschung und DAS Down Syndrom – Kind

Der Junge ist nun 2 Jahre 5 Monate alt. Er hat bisher ein paar Wörter ein paar Mal gesagt: Mama, Papa, Oma, hei (für heiß), nein, und Ball. Einmal gesagt heißt nicht, dass er z.B. das Wort Ball nun benutzt. Genauso wie das Wort Steffi (Name meiner Schwester) hat er Ball vor ca. 2 Monaten ein einziges Mal deutlich gesagt und danach nie wieder. Meist zeigt er, was oder wohin er will oder schüttelt den Kopf, wenn er etwas ablehnt. Bei jedem anderen Kind würde man sagen, dass manche Kinder eben erst später mit dem Sprechen beginnen. Bei Anatol sagen alle Ärzte und Therapeuten, dass Kinder mit dem Down Syndrom meist Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben und oft spät oder nie sprechen lernen. Es gibt und gab viele Studien zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS, die die Ursachen für die Sprechschwierigkeiten beschreiben und, die viele Tipps zur Optimierung des Kommunikationsverhaltens zwischen Eltern und DS-Kindern geben.

Seit einem halben Jahr empfehlen uns viele Therapeuten und andere Elternvon Kindern mit DS, dass wir mit dem Kind jetzt die Gebärdenunterstützte Kommunikation (GUK) beginnen sollen. Dabei sollen wichtige Begriffe aus seiner unmittelbaren Lebenswelt neben dem üblichen Sprechen gleichzeitig gebärdet werden. Man geht davon aus, dass DS-Kinder zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr zwar sehr viel verstehen, sich aber noch nicht sprachlich äußern können. Sich selbst verständlich zu machen ist jedoch für die gesamte Entwicklung sehr wichtig, denn laut Forschung merkt man nur so, dass man die Welt „verändern“ kann bzw. sein Umfeld beeinflussen kann und kommt nur damit aus dem eher passiven Baby-Dasein heraus.

Also hatte ich mich mit Anatol bei der deutschlandweiten Studie „KUGEL“ am Hamburger Werner Otto Instituts zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS angemeldet. Therapeutischer Druck, Überfürsorge von mir und „die Forschung“ drängten mich zu dieser Entscheidung. Denn eigentlich kann ich ganz gut mit Anatol „reden“. Es schadet aber nichts, kann ja nur nützen, dachte ich. Die Teilnahme an der Studie beinhaltete 5 Elternabende á zweieinhalb Stunden ohne Kind und ein Treffen mit Kind, bei denen die Eltern eine „Fortbildung“ in der Einführung der GUK bekommen und sie dann auch praktisch mit dem Kind anwenden sollen. Außerdem sollten wir dreimal zur Eingangsdiagnostik kommen. Und viele Fragebögen beantworten.

Gestern habe ich nach den zwei ersten Diagnostik-Terminen die Entscheidung getroffen: wir nehmen nicht mehr teil und beginnen jetzt nicht mit Gebärden!
Heute große Erleichterung über diese Entscheidung!!!

Warum (noch) keine Gebärden?
1. Anatol ist erst zweieinhalb Jahre alt.
2. Das Einführen von Gebärden wäre momentan „prophylaktisch“, denn es KÖNNTE ja sein, dass er erst sehr spät sprechen lernt oder gar nicht. Muss es aber nicht.
3. Anatol ist nicht DAS Down Syndrom – Kind. Das zusätzliche Chromosom ist eine Eigenschaft von ihm und bestimmt nicht unseren Alltag. Allgemein verbreitete Diagnosen, die mit DS verbunden sind, können aber müssen nicht auf ihn zutreffen. Er ist EINE PERSÖNLICHKEIT mit eigener Entwicklung und eigenem Tempo.
4. Er braucht noch ein bisschen Zeit. Bisher zeigt er weder seine Körperteile (z.B. Nase oder Ohren), noch zeigt er auf benannte Gegenstände (z.B. Autos oder Bälle in Bilderbüchern). Wir vermuten, dass er die Verbindung vom Wort zu einer Sache noch nicht herstellen kann. Er befolgt zwar manchmal einige Aufforderungen (z.B. Jacke anziehen, Zähneputzen gehen, Tisch decken, …), so dass man vermuten könnte, dass er die Aufforderung versteht. Wir gehen jedoch davon aus, dass er diese Aufforderung automatisiert hat (da sie ja täglich zum etwa gleichen Zeitpunkt geschehen) bzw. kopiert (seine Schwester geht Zähneputzen, zieht sich an, …, und er tut das Gleiche).

Warum nicht die Teilnahme an der Studie?
1. Ich möchte nicht an einer Studie zur Sprachentwicklung unseres Sohnes teilnehmen, in der wir Eltern in Fragebögen gefragt werden, ob wir seit der Geburt unseres Kindes weniger oder mehr Lust auf Sex haben.
2. Videoaufzeichnungen, in denen ich 10 Minuten mit meinem Kind spielen und kommunizieren soll ‚wie immer‘, können nur konstruiert sein.
3. Ich empfinde diese Beobachtung/Beurteilung unseres Kommunikationsverhaltens fast wie eine Invasion in unsere so intime und persönliche Mutter-Kind-Kommunikation.
4. Fragen zur sozialen Situation und den genauen Familienverhältnissen sind m.E. nicht relevant für das Studieninteresse. (siehe auch Gedanken zum deutschen Berichtswesen in der Frühförderung.)
5. Anatol muss nicht „geheilt“ werden, denn er ist nicht krank. Er muss nicht optimiert werden, denn er ist gut, so wie er ist.
6. Wir finden, unsere Familienkommunikation braucht nicht optimiert werden. Sie muss erst gar nicht optimal sein. Wir sind zufrieden, so wie sie ist.
7. Sascha hatte von Anfang an kein Interesse und keine Lust auf diese Studie. Ich habe mich nicht getraut, mich auf meine Intuition zu verlassen.

Das Kind wird sich jetzt sicherlich nicht mehr nach seinen Möglichkeiten entwickeln können, in den nächsten drei Jahren viele viele Frustrationserlebnisse haben und der Fremdbestimmung seiner Bezugspersonen wehrlos ausgeliefert sein.

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Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Sätze, die ich mir gerade mit einem etwas arroganten Lächeln genüsslich auf der Zunge zergehen lasse:

„Wissentlich ein behindertes Kind zur Welt bringen sei unverantwortlich, weil der allgemeine Steuerzahler für dieses Kind ein Leben lang Förderung/Betreuung/Unterstützung zahlen muss. Man schadet damit nicht nur sich selbst, sondern der gesamten Gesellschaft.“

„Sowas ist doch heute, in Zeiten der Pränataldiagnostik, nicht mehr nötig.“

„Da kann man sein eigenes Leben dann vergessen. Man kümmert sich nur noch um das Kind. Und wenn man selbst nicht mehr ist, müssen die Geschwister ran, ob sie wollen oder nicht.“

„Und dann dieser ganze Quatsch mit der Inklusion. Wozu soll ein geistig behindertes Kind auf eine Regelschule? Das ist vollkommen absurd und dient lediglich den egoistischen Eltern, die die Behinderung des Kindes nie akzeptieren konnten.“

„Öffentlich behaupten viele Eltern von Kindern mit dem Down Syndrom, dass diese so toll sind. Hier verschweigen sie jedoch regelmäßig, wie das wirkliche Leben mit einem behinderten Kind ist – nämlich alles andere als rosig.“

„Ich betreue seit 16 Jahren ein geistig behindertes Kind. Ein solches Kind wünsche ich niemandem.“

* alle gelesen in den Kommentaren zu einem Sendebeitrag von SternTV über die Entscheidung, ein Kind mit Down Syndrom zur Welt zu bringen.

 

Ha Ha Ha Ha Ha Ha Ha ...
Ha Ha Ha Ha Ha Ha Ha …

Ein Jahr Krippe – Erfahrungsbericht

Im August 2013 sind wir nach Hamburg gezogen. Schon ein Jahr zuvor hatte ich im Internet nach einer geeigneten Kita gesucht. Da Lili Russisch spricht, war uns eine zweisprachige Kita wichtig. Gleichzeitig wollten wir Anatol aber möglichst in der gleichen Kita unterbringen, die zudem idealerweise schon Erfahrungen mit Kindern mit Behinderungen hatte. Eine unmögliche Kombi, dachte ich zunächst. Aber nein. Wir fanden bald die deutsch-russische Integrationskita „Mucklas“ in Hamburg Lokstedt. Da wir damals in Russland lebten, konnte ich nur über E-Mail Kontakt mit der Kita-Leiterin Renate Rieger aufnehmen. Frau Rieger war unseren Kindern gegenüber von Anfang an aufgeschlossen, schrieb mir, dass regelmäßig eine Physiotherapeutin und eine Logopädin in ihren Kindergarten kommen, ermutigte mich, es zu versuchen und freute sich, uns kennenzulernen. Von Anfang an war mir diese Aufgeschlossenheit sympathisch. Und tatsächlich suchten wir dann auch eine Wohnung in Kita-Nähe und hofften, dass es dann auch wirklich dort so klappt, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Für mich war klar, dass Anatol in die Krippe gehen wird wie jedes andere Kind. Zum einen wollte ich arbeiten gehen, zum anderen bin ich davon überzeugt, dass die meisten Kleinkinder vom frühen Umgang mit anderen Kindern profitieren. Die Frage war für mich also nie, ob Anatol in die Krippe gehen wird, sondern wo und wie ich ihn guten Gewissens lassen kann. Bei ihm hatte ich wahrscheinlich aufgrund seiner Behinderung diesbezüglich mehr Ängste als zuvor bei seiner Schwester.

Die Kita Mucklas hatte einen von 33 Anträgen gestellt, die von August bis Dezember 2013 in der Hamburger Behörde für Kinder mit Behinderungen zwischen dem vollendeten ersten und dem vollendeten zweiten Lebensjahr eingereicht wurden. Bei uns zog sich die Bearbeitung leider sehr lange hin, da wir einige Unterlagen (z.B. die amtliche Feststellung der Trisomie 21, auch Arztberichte) nur in russischer Sprache hatten. Zudem waren wir zu diesem Zeitpunkt noch privat versichert, weswegen die Erstellung eines Behandlungsplans über die Frühförderstelle nicht möglich war, wie wir erfuhren. Schließlich bekamen wir im Februar 2014 zehn Stunden pro Woche bewilligt. Die Kita stellte sehr schnell eine zusätzliche Erzieherin ein, so dass sich Anatols Bezugsperson, die ihn als (Heil-)Erzieherin von Anfang an betreute, täglich zwei Stunden voll auf ihn konzentrieren kann. Da Anatol wie seine Schwester von 9 bis 15 Uhr in die Kita geht, einigten wir uns auf eine Intensivbetreuung während der Hauptaktivität von 10 bis 12 Uhr täglich.

Aber zurück zum Anfang. Die Eingewöhnung im August 2013 lief für Anatol problemlos. Ich als Mutter war nach den ersten Tagen jedoch fix und fertig. Ich erfuhr, dass 16 Kinder von einer Russisch sprechenden Erzieherin und einer Deutsch sprechenden Heilerzieherin betreut werden. Selbst für pflegeleichte Kinder ein unmöglicher Personalschlüssel, dachte ich. Zumal unsere Große in Russland in einem kleinen Privatkindergarten war, in dem 2 Erzieherinnen 8 Krippenkinder betreuten. Dort waren wir verwöhnt. Nun sollte gerade Anatol mit so vielen Kindern zurecht kommen? Ich war skeptisch. Ich saß am Rand und wusste, solange ich anwesend bin, ist er auf mich fixiert. Da er jedoch schon immer sehr kontaktfreudig war, dauerte es nicht lange, bis er sich unter die Kinder traute. Es herrschte ein großes Gewusel, es war für mich laut, es war für mich unübersichtlich. Irgendwo mittendrin krabbelte Anatol durch dreißig Kinderbeine. Und nach dem Frühstück aß er dann alle Essensreste vom Boden auf. Er war glücklich. Ich war geschockt. Meiner ernsthaften Überlegung, den armen Anatol in eine kleine kuschelige Privatgruppe zu geben, stand das Argument meines Mannes, ich würde meine eigenen Ängste und meine Überforderung auf das Kind übertragen und der Eingewöhnung nicht genug Zeit lassen, gegenüber. Und Anatol selbst fühlte sich tatsächlich wohl in der Gruppe, das musste ich zugeben. Ich ließ dem Ganzen also Zeit und entwickelte auch immer mehr vertrauen in seine Erzieherinnen, die ja auch die ersten Monate ohne pädagogische Zusatzkraft so viel getan hatten, dass der kleine Mensch sich wohl fühlt. Schon vier Wochen nach Eintritt in die Kita begann er zu laufen. Auch das selbstständige Essen und Trinken lernte er dort. Und vor einem Monat überraschte er mich in der Kita-Eingangshalle, als er problemlos auf einem kleinen Laufrad fuhr. Diese Fortschritte bestätigen mir, dass die Entscheidung für diese Kita in unserem Fall absolut richtig war.

Die Kita Mucklas kooperiert mit dem Haus Mignon, einer Frühförderstelle, bei der Kinder bis zum dritten Lebensjahr halbjährlich untersucht werden und ihren Betreuungs- und Behandlungsplan bekommen. Hier wurde eingeschätzt, dass Anatol einmal pro Woche Physiotherapie bekommen soll (was in der Kita stattfindet) und einmal pro Woche Heilpädagogische Betreuung (bei uns abwechselnd in Kita und Zuhause). Manchmal denke ich, ich hätte gerne gesehen, was die Physiotherapeutin mit dem Jungen macht, um Anregungen für zu Hause zu bekommen. Das ist der Nachteil einer Therapie in der Kita. Da er motorisch jedoch ziemlich gut aufgestellt ist, möchte ich mir auch zusätzlich keinen Stress machen. Ich denke, das Wichtigste ist eine gute Kommunikation zwischen Erzieherinnen, Therapeutinnen und Eltern. Und das funktioniert bei uns sehr gut.

Insgesamt hat sich Anatol nach nun neun Monaten super in der Gruppe eingelebt. Er freut sich jeden Morgen, wenn ich ihn in die Gruppe bringe, auch hat er dort Freunde, mit denen wir uns manchmal nach der Kita verabreden. Und die Heilpädagogin bestätigte mir, dass er in der Gruppe einen sehr ausgeglichenen Eindruck macht und überall dabei ist. Wenn es zu viel für ihn wird, dann setzt er sich irgendwo allein hin und guckt ein Buch an, macht etwas für sich oder sucht die Nähe zur Erzieherin.

Im Nachhinein bin ich davon überzeugt, dass wir ihn nicht schonen brauchen, sondern im Gegenteil, ihm sehr viel zutrauen können. Denn er entwickelt sich bislang genau so ganz prächtig.

Die Kita Mucklas würde sich übrigens über weitere Integrationskinder freuen.

Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol mit seiner Erzieherin Franzi Krogmann
Anatol (rechts) mit seinen Kita_Freunden
Anatol (rechts) mit seinen Kita-Freunden Xavier und Younes

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Gedanken zum (deutschen) Berichtswesen in der Frühförderung

Mehrmals wurde uns „ans Herz gelegt“, uns mit dem Jungen beim Werner Otto Institut anzumelden. Hier würde er regelmäßig durchgecheckt werden. Die Ärzte und Therapeuten dort haben seit 40 Jahren mit „entwicklungsverzögerten“ und „behinderten“ Kindern zu tun. Sie kennen sich sehr gut aus mit DS. Wir fühlen uns zwar von unserem Kinderarzt, HNO-Arzt und Augenarzt recht gut betreut. Aber die kennen sich noch besser aus mit „solchen“ Kindern, hieß es immer wieder. Na gut. Termin gemacht. Ende April dagewesen. Heute einen dreiseitigen Bericht dazu erhalten (der im Original an den Kinderarzt geht, wir haben die Kopie bekommen).

Nach unserem Antrag auf interdisziplinäre Frühförderung mussten wir uns im Januar beim Psychologischen Dienst im Bezirksamt Eimsbüttel der Stadt Hamburg vorstellen. Nach unserem Antrag auf Pflegegeld kam (auch im Januar) der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nord zu uns nach Hause. Und schließlich mussten wir zur eigentlichen Erstellung des „Förder- und Behandlungsplans“ zur Eingangsdiagnostik ins Haus Mignon.

Von all diesen Stellen haben wir „Berichte“ erhalten, in denen wir erfahren, wie die Schwangerschaft und Geburt verlief, wie unsere Familiensituation ist, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und (ganz besonders interessant) auf welchem Entwicklungsstand (verglichen mit normal-entwickelten Kindern) es sich befindet. Im Februar wurde dem 23 Monate alten Jungen z.B. von Dr. Warlitz im Haus Mignon ein Entwicklungsstand eines 14 Monate alten Jungen diagnostiziert. Im April wurde für das 25 Monate alte Würmchen von Dr. Traus im Werner Otto Institut ein Entwicklungsstand eines 19 Monate alten Kindes ermittelt.

Abgesehen davon, dass es mich nervt, immer wieder irgendwelchen Leuten von der Schwangerschaft und Geburt zu erzählen (wozu eigentlich?) und es mich noch mehr stört, dass diese Leute unsere Familiensituation einschätzen (was soll das?), befremdet mich die permanente „Skalen-Einordnung“ des Entwicklungsstandes unseres Kindes.

Die „Anamnese“ des Werner Otto Instituts beginnt beispielsweise mit „Familienanamnese: Anatol ist das zweite Kind gesunder Eltern, 4 1/2 jährige Schwester ist ebenfalls gesund.“ Warum wird das „gesund“ hier betont? Ist Anatol in ihrem Verständnis nicht gesund? Selbst, wenn einer von uns Eltern eine Behinderung haben würde, welche Rolle spielt das hier? Die Schwangerschaft wird beschrieben mit den Worten: „keine Medikamenteneinnahme, keine Diät, kein Konsum neurotoxischer Substanzen“. Warum steht nicht einfach „unauffällig“? Warum die Negation gerade dieser Punkte? Was wäre, wenn ich hätte Medikamente in der Schwangerschaft nehmen müssen? Oder Diabetes gehabt hätte? Welche Rolle spielt auch dieser Punkt für seine Entwicklung? Irgendwann kommt dann der Punkt „Soziale Situation“, unter dem geschrieben steht, dass das Kind in einem Haushalt mit beiden Eltern und der Schwester lebt, wobei der Vater arbeitet und die Mutter arbeitslos ist. Welche Bedeutung hat das für die Entwicklung unseres Sohnes? Ich fühle mich beim Lesen dieser Berichte wie ein gläserner Mensch, der eine nett konstruierte Krankengeschichte seines vollkommen gesunden Kindes nachvollziehen darf.

Wir haben aber kein krankes Kind, sondern ein Kind mit Trisomie 21. Wir haben kein entwicklungsverzögertes Kind, sondern ein Kind, das sich in seinem Tempo entwickelt. Demzufolge bedarf es auch keiner Anamnese.

Das  Beste war die Psychologin im Bezirksamt Eimsbüttel. Ich sollte zunächst ALLES seit Schwangerschaft erzählen, wie immer. Dann schrieb sie auf, was sie an dem Jungen beobachtete. Irgendwann sagte sie dann zu mir „Es wird ja behauptet, es gäbe auch einen Mann mit Down Syndrom, der studiert hat. […] Das glaube ich nicht. Ich habe noch nie einen einzigen Menschen mit Down Syndrom hier gesehen, der Lesen oder Schreiben konnte!“ Ich erzählte von vielen Menschen mit Down Syndrom, die Lesen und Schreiben können. Sie ergänzte, dass sie sich das einfach nicht vorstellen könne. Aber sie hätte ja auch nur die „schweren Fälle“ bei sich im Büro zu sitzen.

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Die Fressraupe

Anatol kann den ganzen Tag essen. Während seine vierjährige Schwester Liljana zum Frühstück maximal ein halbes Toast (meist nur mit Butter) isst, verputzt er mindestens zwei ganze Toast mit Marmelade und/oder Honig. Nach dem Frühstück beginnt die Jagd. Anatol schiebt sich alle möglichen Gegenstände (Hocker, Stühle, Fußbänke) in die Küche, um irgendwo herum liegende Nahrungsmittel zu ergattern. Kein Keks, keine Banane, nichts ist vor ihm sicher. Sobald ich ihn entdecke, stopft er schnell alles Gefundene in den Mund, aus Angst, ich würde es ihm wegnehmen. Wenn ich ihm einen Keks aus der Hand nehme und auffordere, nicht nur Süßes in sich hinein zu stopfen, brüllt und wütet er und stampft erregt mit dem Fuß. Schmeiße ich ihn aus der Küche raus, findet er garantiert unter dem Esstisch oder in den Sesselritzen noch alte Cornflakes oder ein paar Schinkenwürfel. Es scheint, als hätte er kein Sättigungsgefühl.
Einmal hat er sich überfressen. Das war an seinem zweiten Geburtstag. Ich hatte ihm eine Sahnetorte bestellt, außerdem einen Blechkuchen gebacken und unsere Nachbarin brachte einen selbst gemachten Käsekuchen. Anatol genoss ein Stück seines Geburtstagskuchens (wann sonst bekommt man schon mal Sahnetorte?). Ich wollte ihm die Hände waschen, da zeigte er auf den Käsekuchen, von dem er unbedingt noch ein Stück wollte. Ich dachte, zu seinem Geburtstag werde ich ihm alle seine Wünsche erfüllen. Er aß auch dieses Stück. Aber dann sah er einige Gäste den leckeren Blechkuchen essen und konnte einfach nicht widerstehen. Ich sagte „Schluss jetzt. Das wird zu viel.“, hob ihn aus dem Kindersitz und wollte ihn waschen. Dabei machte er dermaßen Aufstand, dass ich ihn doch sitzen ließ. Er wird schon wissen, wann er nicht mehr kann, nahm ich an. Ha. So ein Quatsch. Er futterte auch noch dieses Stück. Überglücklich sah er dabei aus. Das erste Mal wurde er beim Essen nicht gebremst. Danach durfte ich ihm die Hände waschen. Wie üblich sauste er dann durch die Wohnung. Es dauerte nicht lange, da kletterte er auch schon wieder auf einen Stuhl am Esstisch. Dabei muss er sich wohl den Bauch gequetscht haben, denn plötzlich erbroch er ein Viertel seines Sahnetortenstückes. Die gute Torte. Er war enttäuscht. Und ich war so erschrocken, dass ich ihm erst einmal eine Woche lang alles Süße verbot. Kein Kuchen, keine Kekse, keine Waffeln, kein Eis. Länger konnten wir das leider nicht durchhalten, denn ich und seine Schwester können ja nicht ewig heimlich essen.
Der Futterneid bei Anatol ist leider nicht nur auf die Familie beschränkt. Auch wenn wir Zug fahren, im Zoo sind oder in irgendwelchen öffentlichen Gebäuden: isst jemand eine Wurst, muss Anatol die haben. Isst jemand ein belegtes Brot, muss er das auch haben. Alle Leute müssen denken, der Junge bekommt Zuhause nichts zu Essen. Zumal er mit seinen 2 Jahren und 2 Monaten gerade einmal 10 kg leicht ist und nur 80 cm groß. Wo lässt er das Essen? Ich weiß es einfach nicht.
Einmal waren wir zum dritten Geburtstag einer Nachbarin eingeladen und Anatol stiefelte (wie immer bei Buffets) den gesamten Nachmittag um den Tisch herum und griff sich immer mal wieder ganz nebenbei irgendeine Brezel, eine Weintraube oder anderes. Neben einer Menge Kindern war diesmal jedoch auch ein kleiner Mops eingeladen, der ebenfalls um den Tisch lief. Anatol witterte gleich den Rivalen. Sobald der Hund in seine Nähe kam, umklammerte er sein Häppchen noch fester und schrie los, um das Vieh abzuschrecken. Hatte er seine Ration gesichert, ging die Runde stolz weiter. Diese Szene wiederholte sich noch ein paar Mal, bis es dem Mops zu doof wurde.
Als mich vor zwei Wochen Frau Dr. Traus im Werner Otto Institut fragte, was Anatol gewöhnlich esse, verschwieg ich ihr nicht, dass er sehr viel esse und besonders Süßes mag. Sie verkniff sich die Gesunde-Ernährung-Lektion und dachte vermutlich nur, dass wir es später einmal bereuen werden.
Als Liljana drei Jahre alt war, dachte sie immer, dass ein Mensch platzen könne, wenn er gaaaaanz viel isst. In ihrer kindlichen Phantasie malte sie sich aus, wie das sei, wenn man platze. Sie war noch zu jung für Monty Python, deshalb konnte ich ihr die Realität nicht zeigen. Irgendwann wird sie es mit eigenen Augen sehen. Ich werde derweil versuchen, hauchdünne Pfefferminzblättchen von ihrem Bruder fern zu halten.

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Anatols Entwicklung in den ersten zwei Lebensjahren

Heute ist nicht nur World Down Syndrome Day, sondern auch Anatols 2. Geburtstag. Yippieee.

Und so hat er sich in den letzten zwei Jahren entwickelt:

Anatol schläft, trinkt und kackert
Monat 1: Anatol schläft, trinkt und kackert
Anatol staunt über alles
Monat 2: Anatol staunt über alles
Anatol trinkt problemlos an der Brust genauso wie MuMi aus der Flasche
Monat 3: Anatol trinkt problemlos an der Brust genauso wie MuMi aus der Flasche
Anatol als Winnie Puuuh
Monat 6: Anatol als Winnie Puuuh
Anatol mag die Bauchlage und hasst die Rückenlage. Hier üben wir "Beinchen hoch"
Monat 7: Anatol mag die Bauchlage und hasst die Rückenlage. Hier üben wir „Beinchen hoch“
Anatol macht Quatsch
Monat 8: Anatol macht Quatsch
Anatol krabbelt, aber immer mit aufgestelltem rechten Bein
Monat 9: Anatol krabbelt, aber immer mit aufgestelltem rechten Bein
Anatol sitzt
Monat 10: Anatol sitzt
Anatol zieht sich hoch
Monat 11: Anatol zieht sich hoch
Erste Schritte
Monat 12: Erste Schritte
Anatol wird gequält
Monat 13: Anatol wird gequält
Anatol will alleine
Monat 14: Anatol will alleine
Alles in den Mund
Monat 15: Alles in den Mund
Erste Schritte ohne Festhalten
Monat 18: Erste Schritte ohne Festhalten
Anatol rutscht
Monat 19: Anatol rutscht
Anatol repariert
Monat 20: Anatol repariert
Anatol spielt Fußball
Monat 21: Anatol spielt Fußball
Anatol baut mit Lego
Monat 22: Anatol baut mit Lego
Anatol kletter überall herauf
Monat 23: Anatol klettert überall herauf
Anatol bekommt eine Brille und beginnt Bücher anzuschauen
Monat 24: Anatol bekommt eine Brille und beginnt Bücher anzuschauen

Neue Augen und neue Ohren

Vor vier Wochen wurden Anatol Paukenröhrchen eingesetzt. Vor zwei Wochen bekam er eine Brille. Wow. Ein ganz anderes Kind. Plötzlich HÖRT und SIEHT er. Ich dachte immer, er würde sich nicht für Bücher interessieren und ein „typischer“ Junge werden, der nur Ball spielt, Autos fährt und Türme baut. All die Dinge, für die sich Lili irgendwie nie begeistert hat. Aber auf einmal schaut er sich minutenlang Bücher an, kann davon gar nicht genug bekommen und ist überhaupt ganz aufmerksam. Ich bin begeistert und ganz gespannt, was die nächsten Monate bringen.

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