Zum Video: Hund kümmert sich um DS-Kind

Ich bin jetzt seit ca. einem Monat in der facebook-Gruppe „Down Syndrom Elternforum“. In dieser (kurzen!) Zeit wurde das Kind-Hund-Video bereits gefühlte zehnmal geteilt. Es scheint sehr beliebt zu sein. In dem Video spielen ein süßer Hund und ein kleiner süßer Junge mit Down Syndrom miteinander. Im Hintergrund spielt melancholischen Musik. Zum Schluss werden die Worte „God doesn’t make mistakes“ eingeblendet.

 

Ich kannte dieses Video schon lange vor meinem Beitritt in die facebook-Gruppe, denn es wurde mir irgendwann einmal von einem Freund zugeschickt.

 

Mal abgesehen von der Kitschigkeit des Formats, was man sich ja auch als nette Unterhaltung anschauen kann, verstehe ich die Intention des Videos nicht. Warum spielt im Hintergrund diese Tränendrüsenmusik? Kaum ein Zuschauer, der da nicht gerührt ist. Kaum einer, dem beim Zuschauen keine Träne läuft, dem nicht das Herz aufgeht und, der kein Mitleid fühlt. Wir erfahren außerdem, dass die Videomacher an Gott glauben. Sie glauben auch, dass dieser Gott, keine „Fehler“ macht. Den kleinen Jungen mit dem dreifachen 21. Chromosom hat also Gott erschaffen und ihn genau so gemacht, wie er sein sollte. Wenn das die Logik ist, warum wird dann Tränendrüsenmusik gespielt? Warum wird dann nicht „Love is all around me“ von Wet Wet Wet? Oder „Happy“ von Pharrel Williams oder Thunder von AC/DC gespielt?

 

Es scheint, so richtig wollen die Videomacher doch nicht daran glauben, dass das gottgegebene Kind wirklich „keine Fehler“ hat. Wollen sie also vielleicht das Gegenteil? Die Akzeptanz von Fehlern??

Hm. Gähn. So oft wie es geliked wird und so oft, wie Eltern von Kindern mit DS es posten oder teilen, scheint die mir unverständliche Botschaft irgendwie allen anderen klar zu sein.

 

Da muss wohl dieser Gott, an den sie glauben, bei mir einen Fehler gemacht haben, wenn ich das nicht verstehe.

 

Nähe und Distanz

Sind nicht andere Eltern behinderter Schüler, die ihre Sprösslinge an Sonderschulen schicken, auch daran „Schuld“, dass die Sonderschulen erhalten bleiben und der Prozess der Inklusion nicht voran kommt?

Diese Frage hatte ich beim Fachgespräch „Integration oder Inklusion“ am 19.3. in der Lebenshilfe Hamburg in die Runde gestellt und erntete zu Recht große Empörung. Denn natürlich sind sie nicht Schuld. Nur wenige wollen sich auf Experimente einlassen.Die Langsamkeit der flächendeckenden Umsetzung inklusiver Bildung an Regelschulen in Deutschland hat vielmehr rein ökonomische und rechtliche Ursachen, antwortete

Prof. Dr. Harm Paschen von der Universität Bielefeld. Das, was Eltern mit ihrer distanzlosen und emotional geprägten Haltung wollen, sei in diesem Prozess eher irrelevant.

Diese Antwort fand ich hart. Aber vollkommen korrekt. Bei der Lehrerbildung, den Kosten, den Schulformen und -abschlüsse, dem Einsatz von Schulbegleitern usw. hapert es ja nicht an Unwillen, sondern an den noch meist ungeklärten finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Erwähnt wurde im Gespräch, dass Schleswig-Holstein diesen Weg gegangen ist. Sie haben von heut auf morgen die Förderschulen abgeschafft und alle Kinder mit Behinderung sollen nun Hals über Kopf an Regelschulen gehen. Damit seien alle Beteiligten momentan dort enorm überfordert, sagte Paschen.

Ein paar Gedanken zu Ängsten # Inklusion an Schulen

Ich bin eine radikale Vertreterin von Inklusion. Es gibt aber auch viele Eltern, die Angst haben, ihr Kind unter den momentanen Bedingungen z.B. auf eine Regelschule gehen zu lassen. Ich verstehe die Bedenken, die diese Eltern haben sehr gut und möchte hier versuchen, ein paar meiner eigenen Ängste zu reflektieren.

Obwohl unser Sohn mit Trisomie 21 noch ein paar Jahre kein Schulkind sein wird und, obwohl ich die Hoffnung habe, dass in einigen Jahren das gemeinsame Lernen an Regelschulen besser funktionieren wird, würde ich, wenn er bereits heute schulpflichtig wäre, alles in meiner Macht stehende tun, um ihn an einer Regelschule lernen zu lassen.

Aber wird er dort genug Erfolgserlebnisse haben? Wird er nicht immer der Langsamste sein? Wird er irgendetwas besser können als seine Mitschüler (außer der lustigste Klassenclown sein) und für irgendetwas Anerkennung von Klassenkameraden bekommen?

Wird er mit Hänseleien, Ausgrenzung oder gar Beschimpfungen klar kommen? Wird er trotzdem ein gesundes Selbstbewusstsein aufbauen können?

Zunächst habe ich diese Ängste auch bei unserer Tochter. Aber vermutlich wird sie, zumindest verbal, besser nachfragen, sich durchsetzen und sich verteidigen können. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß.

Vor allem aber bin ich der Meinung, man darf keine „Erwachsenenängste“ auf die Kinder übertragen. Was mich stresst (Lärm, Gewusel, Tempo) muss ein Kind nicht unbedingt auch stressen. Was mich verletzt (z.B. Beleidigungen), muss ein Kind nicht unbedingt auch immer verletzen. Ich denke, viele Eltern (ich eingeschlossen) reagieren häufig mit Panik, wenn ihr Kind mal ausgegrenzt wird aus einem Spiel, geschubst oder beschimpft. Gleich steigt die große Angst vor dem Außenseitertum hoch, vor das jeder sein Kind bewahren möchte. Ich denke, wir können unseren Kindern viel mehr zutrauen! Auch beobachte ich häufig, dass Kinder untereinander für faires Verhalten „sorgen“ und „böse“ Kinder ermahnen bzw. Schwächere in Schutz nehmen ohne, dass gleich ein Erwachsener mit erhobenem Zeigefinger kommt und schimpft.

Auch Langsamkeit oder häufige Misserfolge müssen nicht immer dramatisch sein. Ich selbst war als Kind und Jugendliche über zehn Jahre in einem Ruderverein und habe fast alle Regatten, bei denen ich gestartet bin, verloren. Trotzdem habe ich es geliebt, es hat mir Spaß gemacht, ich hatte dort Freunde.

Anerkennung ist zweifellos das Wichtigste, was wir alle brauchen, um gesund und munter zu sein. Wir Erwachsenen erkennen oft Leistung bzw. Wissen hoch an. Der Beste, Klügste, Schnellste, Reichste oder Angepassteste wird von uns bestaunt. Bei Kindern ist das nicht immer so. Hier zählen noch andere Dinge, wie z.B., der mit den besten Bonbons oder der, mit dem schönen Hund, den man auch so schön streicheln kann, ist cool.

Das Schlimmste wird die Pubertät, davon bin ich überzeugt. In der Pubertät bekommt der Anerkennung, der die meiste Kraft, die größte Klappe, das größte Motorrad, den geilsten Körper und die höchste Potenz hat, und der, bei dem die „Weiber“ Schlange stehen. Alles Dinge, von denen die meisten Menschen mit Trisomie 21 wahrscheinlich nur träumen können. Jeder, der irgendwie von dem makellosen Sexbomben-Typus abweicht, wird irgendwann mal „Opfer“, „behindert“, „schwul“, „Assi“ und alles, was sonst noch mit „Scheiße“ assoziiert wird. Oder man wird komplett ignoriert. Aber die „Täter“ sind an anderen Orten die „Opfer“ und die „Opfer“ werden die „Täter“. Zum anderen bin ich der Meinung, dass solche Beschimpfungen meist nicht wörtlich gemeint sind. Viele Jugendliche sagen das genauso wie „Das war nicht in Ordnung.“ oder „Ich mag dich nicht.“ So, what the f…? Mich muss ja nicht jeder mögen.

Viel schlimmer ist schon das Mobbing, bei dem jemand mehrere Wochen, Monate oder Jahre von mehreren gezielt ausgegrenzt, beleidigt, erpresst oder anders gequält wird.

Die Pubertät wird eine Herausforderung. Ich bin drauf gespannt, werde wohl auch irgendwie mit den Aufgaben wachsen und hoffe diese Zeit mit Humor rumzukriegen.

Aber was nützt ein selbstbewusstes Kind, das sich von niemandem unterkriegen lässt, wenn es im Unterricht den Stoff nicht versteht? Oder nur zum Teil? Wozu dann die Schule?

In diesem Punkt bin ich nicht nur für radikale Inklusion, sondern auch eine radikale Reformpädagogin)

Lernen ist schon lange nicht mehr Wissen anhäufen. Jeder Mensch hat seine Talente, seine Vorlieben, seine bestimmte Neugierde für bestimmte Dinge, seine Vorstellung von gutem Leben und von einer guten Arbeit. Den einen interessieren die gesammelten Werke von Dostojewski, den anderen die höhere Mathematik. Wieder andere lieben den Geruch von Holz, kochen wie die Götter oder wollen Berufsfußballer werden. Hier können natürlich die Regelschulen auch viel vom Konzept der Sonderschulen abgucken. Ich bedaure noch heute, dass mir auf meinem gutbürgerlichen Elitegymnasium soviel Wissen eingetrichtert wurde, das ich heute mit einem Klick auf mein Smartphone wenn nötig sofort parat habe. Leider kann mein Handy kein Fahrrad reparieren, keine Löcher in die Wände bohren, keine Blumen pflanzen, keine Frösche groß ziehen, kein gutes Fleisch auf dem Markt erkennen und keine Bibliothek anlegen.

Warum bin ich gegen eine Sonderschule für unseren Sohn? Weil unser Kind Teil dieser Gesellschaft ist. Weil Inklusion, wie der „Anderes Sehen e.V.“ gestern so schön twitterte, eine menschliche, eine rechtliche und eine ethische Selbstverständlichkeit ist. # alternativlos

„Geht doch! Inklusion erfahren“ – Ein Ausstellungsbesuch

Heute haben wir einen Familienausflug in die Ausstellung „Geht doch! Inklusion erfahren.“ ins Hamburger Museum gemacht, die ich mir schon lange anschauen wollte. Wenn ich das erste Mal in einem Museum bin, mache ich gern eine Führung mit. Ich ging bei dieser Ausstellung davon aus, dass uns ein Mensch mit Trisomie 21 oder mit einer Sehbeeinträchtigung oder auch einfach ein Künstler, der die Ausstellung mitgestaltet hat, durch die Ausstellung führt. Das war aber nicht so. Die Dame, die uns stattdessen die Ausstellung zeigte, begann ihre Führung mit den Worten „10 Prozent aller Menschen weltweit leiden an einer Behinderung…“. Ich hätte sie gerne korrigiert, dass nicht alle LEIDEN würden, aber sie war so im Redefluss, dass ich sie nicht unterbrechen wollte. Da die Ausstellung anlässlich des 150jährigen Bestehens der Stiftung Alsterdorf erdacht wurde, beginnt sie mit einem recht kurzen Blick in die meist gruselige Alstersdorfgeschichte, die man zum Teil auch hier nachlesen kann. Also nur ganz kurz: 1860 gründete der Theologe Heinrich Sengelmann die „Alsterdorfer Anstalten“. Sengelmann wollte hier „geistig behinderte“ Menschen beschulen und sie in Werkstätten, Gärtnereien und in der Landwirtschaft beschäftigen. 1899 lebten mehr als 600 Menschen in den Anstalten. 15 Jahre später, mit beginn des I. Weltkrieges, wurde der Unterricht eingestellt, weil für den Nachfolger Sengelmanns Pädagogik keine Priorität mehr hatte. Nun wurde auf Forschung und medizinische Behandlungs- und Heilmethoden gesetzt. 1920 erscheint ja von Karl Binding und Alfred Hoche der Leseband „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die schwierigen 20er Jahre erwiesen sich als geeigneter Nährboden für diese radikalen Thesen und so wird in diesem Sinne die Stiftung Alsterdorf einige Jahre später zum „Spezialkrankenhaus für alle Arten geistiger Defektzustände“ erklärt. Auf der Webseite der Stiftung heißt es dazu: Der damalige Oberarzt Dr. Gerhard Kreyenberg entwickelte ein umfassendes Modernisierungskonzept im Sinne des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts. Röntgentiefbestrahlungen, Insulin- und Cardiazol-Schockbehandlungen, Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren sollten geistig behinderten Menschen Heilung und Linderung bringen. Ab 1933 werden im „Spezialkrankenhaus“ Massensterilisationen durchgeführt. Die Anstalten bekommen mehrere Auszeichnungen und werden zum „Nationalsozialistischen Musterbetrieb“ erklärt. Und was dann zwischen ’38 und ’45 geschah, lest selbst! Das Abendblatt schreibt, die Geschichte der Alsterdorfer Stiftung, die ja sehr viele Besucher interessiert, hätte ausführlicher dargestellt werden können. Ich kann dazu nicht wirklich was sagen, da wir mit den beiden Kindern die Ausstellung besuchten und ich mich mit ihnen ohnehin nicht zu lange bei diesem Ausstellungsteil aufhalten wollte.

Man verlässt dann die dunklen Räume und kommt in eine helle bunte Welt. Cool. Die Wände voll mit pinken, türkisen, knallbunten Bildern. Viele Videoinstallationen, Hörbeiträge, alles ist zum Anfassen, Mitmachen, Ausprobieren. Unsere Ausstellungsführerin sagt, dass „dies den Austritt aus der grauen Welt in die bunte Welt symbolisiert“, um nochmal zu betonen, was mehr als eindeutig ist.

Es wurde interaktiv. Wir durften auch gleich Klebepunkte kleben. Wie groß bist du? Liegst du damit im Durchschnitt? (Erkenntnisgewinn: es gibt auch viele Menschen, die viel größer oder viel kleiner sind.) Nächste Klebetafel: Wann brauchtest du mal Hilfe in deinem Leben? Als Baby, als Kranker, wenn das Internet nicht funktioniert,…usw.? (Erkenntnisgewinn: jeder Mensch ist irgendwann in seinem Leben hilfebedürftig.) Dann kommt eine interessante Installation. Ein Klingelbrett mit ca. 30 Namen. Drückt man eine Klingel, sagt die Person, welche Situationen ihr Schwierigkeiten bereiten. z.B. sagt eine Dame, dass sie Angst vor dem Busfahren hat. Jemand anderes sagt, dass er absolut keinen Käse essen kann. (Erkenntnisgewinn: nicht die offensichtliche Behinderung macht einem Schwierigkeiten, sondern alltägliche Dinge, die auch vielen anderen Menschen Schwierigkeiten bereiten.) Es folgen eine Schaukel (hier freute sich Lili enorm!), auf der man ein Lied hören kann. Dann ein Sandkasten, wo zwei Mütter (eine Mutter eines hochbegabten und eine Mutter eines weniger begabten Kindes) miteinander reden. Dann kommt ein Tischfußball mit Fußballern mit verschiedenen Behinderungen. An der Wand hängt ein Telefon, durch das man verschiedene Anrufer hört, die sich beschweren. z.B. beschwert sich eine Rentnerin, die unter einer WG von Menschen mit Behinderungen wohnt, bei deren Betreuern, dass sie immer nachts zu laut Musik hören und sie nicht schlafen könne. Als die Betreuer sie auffordern, es doch den Leuten einfach selbst zu sagen, antwortet sie: „Die verstehen mich doch gar nicht.“ (Erkenntnisgewinn: Ich muss mit den Leuten selbst sprechen und nicht mit ihren Angehörigen oder Betreuern.) Dann kann man noch erfahren, welche Schwierigkeiten Menschen mit handicaps im öffentlichen Verkehr haben. z.B. gibt es nicht an allen U- oder S-Bahnhöfen Fahrstühle. Viele Rollstuhlfahrer brauchen mindestens 30 min. länger für eine Fahrt als ihre gehenden Mitmenschen. Man kann die coolen Videos von Station 17 sehen. Auch gibt es eine richtig gute Installation mit dem Lied „Unter der Käseglocke“, in dem es um einen völlig isolierten Menschen geht, die laut unserer Ausstellungsführerin das Lieblingsstück der hier ausstellenden Künstler ist und auch mir am besten gefallen hat. Außerdem gibt es noch viele Fühlbilder, die für unsere Kinder interessant waren. Und Geschwister erzählen über ihre Schwestern oder Brüder mit handicap. Ich will und kann gar nicht alles aufzählen. Alles war bunt und zum Mitmachen. Die Ausstellung ist barrierearm und damit für viele zugänglich. Zum Schluss gab es noch Bilderpaare: auf dem einen Bild waren z.B. nur gelbe Äpfel, auf dem daneben verschiedenes buntes Obst. Auf dem nächsten Bild waren nur grüne Bäume, auf dem daneben herbstlich bunte Bäume. Welches Bild uns besser gefallen würde, fragte uns die Ausstellungsführerin? Ich fand sie alle gut. Sie meinte aber, dass die bunten, die eine Vielfältigkeit symbolisieren, doch besser aussehen würden, oder?

Auf dem Heimweg redeten wir lange über die Ausstellung. Es gab nicht wirklich was Neues für uns. Irgendwie erinnerte sie mich an meine Conny-Wenk-Ausstellung in Irkutsk, bei der sich 12 Irkutsker Vereine von Menschen mit Behinderung vorstellten. Sie schleppten dann alle irgendwelche Dinge an wie Topflappen, bemalte Eier, Holzspielzeug oder Bilder, die Menschen mit Behinderungen im Rahmen ihrer Vereinsaktivitäten hergestellt hatten und, die wir in Vitrinen ausstellen sollten. Hinzu kamen Fotos von Angehörigen oder Betreuern, die etwas Nettes mit dem behinderten Kind machten und es zum Lachen brachten. Hmm. Schon damals war mir das irgendwie peinlich, die Menschen so auszustellen. Natürlich ist diese Ausstellung bei weitem besser, da sie die Menschen zum Teil selbst zu Wort kommen lässt und sie zum Teil in die Ausstellungsgestaltung mit einbezogen hat. Trotzdem bleibt es eine Ausstellung, in der man Kunst von (fast) ausschließlich Menschen mit Behinderungen wahrnehmen kann und in der über Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Vielleicht sind sie zum Teil in gemeinsamer Arbeit entstanden, aber dann ist das Interessante doch eigentlich der Prozess, wie gemeinsam Kunst entsteht, wie man sich gegenseitig wirklich inspiriert oder stört. Ist die Welt von Menschen mit Behinderungen denn wirklich immer so bunt? Sascha brachte es auf den Punkt, indem er sagte, ihm sei die Ausstellung zu friedlich und schön. Er würde gerne etwas Provokantes, etwas Schockierendes, etwas Irritierendes sehen. „Ich setze mir eine Augenbinde auf und probiere mal, wie sich ein Blinder fühlt“, will die Ausstellung und macht damit alles andere als Inklusion erfahrbar. Im Gegenteil, sie grenzt damit Nicht-Blinde von Blinden ab. Fragen wie „Wo beginnt eigentlich Behinderung?“ „Wer oder was und vor allem wie und wo wird man behindert?“ werden nicht tiefgründiger bearbeitet. Der Titel der Ausstellung lautet „Geht doch! Inklusion erfahren.“. Wie dieser Titel entstanden ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall kann ich mir nicht genau erklären, was damit gemeint ist. Bei den Worten „Geht doch!“ habe ich erwartet, dass Erfahrungen und Schwierigkeiten bei gemeinsamen Projekten auftauchen bzw., dass gezeigt wird, wie oder wo ES (;-) geht. Wie bei vielen Ausstellungen, werden leider auch hier Behinderte von Nicht-Behinderten abgegrenzt, als ob diese Gruppen irgendeine Homogenität besäßen.

Ganz zum Schluss gab es noch die Möglichkeit, eine Papierfigur (z.B. Figuren im Rollstuhl) auszuwählen und drauf zu schreiben, was man den Menschen wünscht, die ein handicap haben. Lili meinte ganz spontan „Geld“. Und irgendwie hat diese Vierjährige auch sowas von recht. Wenn  Menschen mit Behinderung, die z.B. auf Assistenz angewiesen sind, endlich nicht mehr in Armut gezwungen werden würden, dann wäre ein großer Schritt gegen die alltägliche Demütigung getan und sie wären bei Ausstellungen nicht mehr nur auf die finanzielle Unterstützung von Sponsoren angewiesen, bei der meist ihre Behinderung zur Schau gestellt wird, sondern könnten endlich ihr eigenes Ding machen.

Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wäre Inklusion absurd

Inklusion hat nichts mit Menschen mit Behinderungen zu tun. In erster Linie hat sie mit den Menschen zu tun, die sich anmaßen, sich selbst und ihresgleichen zur Norm zu setzen. Ohne Sich-zur-Norm-Gesetzte wären alle Menschen sowieso gleichberechtigt.

Inklusion wird meist mit Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht. Man sagt, dass nun auch ein autistisches Kind eine Regelschule besuchen „darf“. Aber ein Kind darf nicht „dürfen“, sondern geht selbstverständlich in eine Regelschule! Oft heißt es: Inklusion hilft den Schülern mit Behinderungen. Das stimmt nicht. Sie hilft vor allem den Schulen selbst. Das heillos veraltete deutsche Schulsystem ist so marode, dass ihm nichts besseres passieren kann, als auf diesem Weg Modernisierung einzuleiten. Jede Schule, die sich vor dieser grundlegenden Veränderung sträubt, wird wohl früher oder später nicht mehr existieren können. Allen voran wird die handvoll Schulleiter sein, die dies schon längst kapiert haben.

Aber, um dieses, seit Jahrtausenden zur-Norm-Gesetzte zu überwinden, reicht es nicht aus, sich mitten in die Norm hinein zu setzen und ein bisschen mitzumachen. Man braucht auch Mut und Souveränität, um die alten Strukturen zu sprengen. Es geht nicht darum, dass ein Kind sich in der Schule anpasst, alle Regeln befolgt und bloß nicht auffällt. Es muss die Schule sein, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht werden muss, wenn sie sie auf eine, für die Gesellschaft nützliche, zukünftige Arbeit vorbereiten will. Es muss immer Regeln geben, aber die müssen gemeinsam mit den Kindern im Klassenverband ausgehandelt werden. Und wer auffällt durch Stören muss die Möglichkeit einer Auszeit bekommen. Jeder von uns kann sich für ein anderes Lernen einsetzen. Nicht, weil es in Zeiten der Inklusion unser Recht wäre, sondern, weil die Zeit dafür gut ist, die Norm abzuschaffen.

 

Erniedrigungen

Ich frage mich, wie ich mich entwickelt hätte, wenn ständig Leute gesagt hätten, dass man auch solche Leute wie mich lieben und integrieren sollte? Oder kann? Oder muss? Oder, wenn meine Eltern in meiner Gegenwart regelmäßig von ihrem Schock nach meiner Geburt erzählt hätten? Oder, wenn überhaupt regelmäßig in meiner Gegenwart über mich geredet worden wäre, als ob ich nichts verstehen würde? Wie hätte ich mich entwickelt, wenn mich in meinem Leben viel zu wenig Leute in Gespräche und Aktivitäten mit einbezogen hätten und mir selten etwas zugetraut hätten? Was wäre aus mir geworden, wenn ich ab der vierten Lebenswoche von Therapeut zu Therapeut geschleift worden wäre, um mich noch besser und schneller zu entwickeln? Und wie wäre ich aufgewachsen, wenn die meisten Leute, die mir im Leben begegnet sind, ängstlich oder unsicher gewesen wären? Wenn sie nicht gewusst hätten, was sie mir gegenüber hätten sagen können oder wie sie sich mir gegenüber zu verhalten hätten? Wo wäre ich wohl jetzt, wenn andauernd meine Eigenständigkeit durch permanente Vorsicht oder Misstrauen blockiert worden wäre? Was, wenn ich nicht wie alle anderen in einen Regelkindergarten oder auf eine Regelschule hätte gehen dürfen? Was, wenn man gewollt hätte, dass ich mich sterilisieren lasse, um keine Kinder (solche wie mich!) zu bekommen?
Was, wenn man immer angenommen hätte, ich wäre nicht verletzt, da ich immer so ein Sonnenschein bin?

Inklusion ist keine gute Sache, sie ist selbstverständlich

Das Erste, was mir nach der Geburt unseres Sohnes geraten wurde, war: „Nehme Kontakt auf zu anderen Eltern mit behinderten Kindern!“ Relativ häufig kann man auch Aussagen lesen wie „Ein Kind mit Behinderung erweitert den Horizont.“. Das sehe ich anders.

Obwohl es für mich nach Anatols Geburt in erster Linie wichtig war, ALLE (;-) Informationen zur Trisomie 21 zu bekommen, befolgte ich den gut gemeinten Rat. Da er in Irkutsk geboren wurde, nahm ich also Kontakt zu Irkutsker Müttern auf, von denen die meisten noch immer im „Schock über das behinderte Kind“ waren/sind. Obwohl diese Mütter schon ältere Kinder hatten, fand ich mich also nach der Geburt in der Rolle wieder, diese Mütter von der Normalität ihrer Situation zu überzeugen und stachelte sie auf, die Irkutsker Stadtverwaltung von der natürlichen Teilhabe ihrer Kinder am Bildungssystem zu überzeugen und damit für ihr Recht auf Arbeit zu kämpfen. Denn alle diese Mütter konnten nicht arbeiten gehen, weil es einfach keine „normale“ Kinderbetreuung für ihre Sprößlinge gab. Alle Mütter gingen davon aus, dass Deutschland das Paradies für Behinderte ist und, dass in Deutschland niemand, nach der Geburt eines behinderten Kindes, Grund dafür hat, traurig zu sein. Auch ich begann, die rechtliche Situation, die Gesundheitsversorgung und den Umgang mit Behinderten in Deutschland zu verherrlichen. Als ob es DIE einheitliche Gruppe von Behinderten gäbe. Und als ob es DEN einheitlichen Umgang mit ihnen gäbe. Doch so paradiesisch ist es hier gar nicht.

Dann las ich hunderte von Blogs von Eltern mit Kindern mit DS, in denen diese wie kleine Heilige beschrieben werden, die alle Mitmenschen glücklich machten, als ob sich Eltern nicht sowieso über jeden Schritt, den ein kleines Wesen macht, freuen würden. Und als ob, wie Birte Müller mal beschrieb, DS-Kindern die Sonne aus dem Arsch scheine.

Dann schickte mir ein befreundeter Sonderschullehrer, den ich im übrigen sehr schätze, viele links zu Dokus oder Artikeln, warum Kinder mit Behinderungen ihren geschützten Raum bräuchten und, warum man die Sonderschulen erhalten sollte. Das sehe ich anders. Menschenrechte und Inklusion sind unteilbar. Und hier noch weitere Argumente, warum ein gemeinsamer Unterricht selbstverständlich ist.

Wieso sollte es eigentlich so etwas wie eine Gruppenidentität von Eltern mit behinderten Kindern, von Sonderpädagogen oder von Behinderten geben? Ich identifiziere mich nicht mit Menschen, die eine Sonderschule befürworten, egal, ob sie Erfahrung mit Behinderten haben oder selbst behindert sind. Ich identifiziere mich auch nicht mit Eltern, die sich oder ihr Kind bemitleiden. Und schon gar nicht identifiziere ich mich mit Eltern, die aus Angst vor einem weiteren behinderten Kind, keine Kinder mehr bekommen wollen. Diese Eltern sprechen auch davon, dass ein Kind mit Behinderung den Horizont erweitere, als ob es Kinder gäbe, die den Horizont nicht erweitern würden. Soll diese Glorifizierung eines behinderten Kindes ein Schutz gegen die gesellschaftliche Ablehnung sein? Versteh ich nicht.

Ich bedaure sehr, dass in meiner Schule keine Schüler oder Lehrer mit auffälligen Behinderungen waren. Ich bedaure, dass es dort kaum Schüler oder Lehrer mit Migrationshintergrund gab. Dass niemand offen homosexuell sein konnte. Dass der Direktor und sein Stellvertreter männlich waren und, dass die Schule sich noch heute als Elitegymnasium brüstet. Eine solche Schule wünsche ich niemandem. Eine Elite-Schule kann für mich nur noch eine Schule für Alle sein.Und nun möchte ich, dass unsere Tochter in eine bunte Hamburger Schule kommt. Any suggestions?

Aber zurück zur Gruppenidentität. Ich finde es sehr schade, dass es noch so viele Menschen gibt, für die Inklusion nichts weiter als ein schönes Konstrukt ist. Es ist für mich ein ziemlich billiges Argument, zu behaupten, dass Inklusion theoretisch ja super toll ist, aber praktisch nicht funktioniert. Meist wird dann noch mit irgendwelchen Rahmenbedingungen, die nicht gegeben sind, argumentiert. Das ist genauso, wie, wenn sich mein Nachbar über DAS System beschwert. Jeder von uns hat in seinem Leben Spielräume, in denen er bewusst Entscheidungen treffen kann. Inklusion ist keine gute Sache, die eingeführt werden muss. Sie ist eine Selbstverständlichkeit in einer modernen demokratischen Gesellschaft, in der kein einziger Mensch fremdbestimmt werden darf und, der auch ich mich zugehörig fühlen möchte.

Würde man nur mit halb so viel Energie wie man die Selektion in Deutschland perfektioniert, Diversität perfektionieren wollen, dann wäre die Umsetzung von Inklusion auf politischer Ebene ein Kinderspiel.

 

Barrierefreiheit – Eine Mammutaufgabe für Russland

Gestern gab es beim dradio einen Beitrag zum Mangel an Barrierefreiheit in Russland. So, wie Gesine Dornblüth die Situation beschreibt, habe ich es mehr oder weniger auch die letzten fünf Jahre in Irkutsk erlebt. Da ich die ein oder andere Person, die aufgrund mangelnder Barrierefreiheit in Irkutsk kaum aus den eigenen vier Wänden herauskommt, etwas näher kennen gelernt habe, lese ich einen solchen Artikel natürlich mit ganz anderen Emotionen.

Nach der Geburt unseres ersten Kindes in Irkutsk, sagten deutsche Kollegen zu uns: „Aber Ihr werdet Eurer Baby hoffentlich nicht die ganze Zeit und überall hin auf dem Arm schleppen, so wie es die Russen tun?“ Schnell merkten wir aber, dass man mit einem Kinderwagen weder in irgendwelche Geschäfte kommt, noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen kann. Sogar Kliniken haben oft weder Kinderwagenabstellplätze, noch Fahrstühle, Stillräume, genügend Sitzgelegenheiten in Warteräumen, genügend Wickeltische, … – russische Frauen schleppen ihre Babies an manchen Tagen einfach stundenlang. Wozu also einen Kinderwagen, wenn man mit ihm sowieso nirgendwo reinkommt?

Rollstuhlfahrer habe ich in fünf Jahren in Irkutsk übrigens insgesamt zwei gesehen. Das hat sicherlich viele Gründe. Erstens, Rollstühle sind teuer. Zweitens, da man öffentliche Verkehrsmittel nicht nutzen kann (Trolleybus, Bus, Tram und Bahn sind nicht zugänglich für Rollis oder Kinderwagen), braucht man ein größeres Auto. Das ist teuer. Drittens, die Straßen und Gehwege sind in sehr schlechtem Zustand. Viele Fußgänger stürzen aufgrund der Schlaglöcher oder Unebenheiten. In den Sommermonaten werden regelmäßig viele Straßen saniert. Nach dem harten Winter ist überall der Beton jedoch wieder aufgebrochen. Und viertens, im kurzen Frühling und Herbst wechselt stündlich Regen und Schnee. Dadurch sind die Straßen und Gehwege in dieser Zeit spiegelglatt. Auch den langen Winter über (Oktober bis April) liegt Schnee, der zum Teil sehr glatt ist. Ich bin im Winter in Irkutsk öfter auf dem Weg zur Arbeit gestürzt. Im Sommer stößt man häufig auf die nicht befestigten Straßen, von denen es sogar in der Irkutsker Innenstadt eine ganze Menge gibt.

Hochhäuser haben meist Fahrstühle, die oft funktionieren. Das heißt jedoch nicht, dass es eine Rampe am Eingang gibt. Selbst die zahlreichen Neubauten werden ohne Rampen gebaut. Tatiana Anatolewna Federowa, Gründerin des Irkutsker Vereins „Nadeschda“ und Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes mit infantiler Zerebralparese, sagte mir, dass es ein russisches Gesetz gibt, nachdem alle Neubauten „barrierefrei“ zu bauen seien (mit Rampe), aber mit ein bisschen Geld kann ein Bauherr die Behörden relativ schnell überzeugen, dass das nicht benötigt wird.

Wenn man mit russischen Studierenden über Barrierefreiheit spricht, sind sie kaum zu halten. Jeder hat eine Tante, eine Großmutter oder andere Verwandte, die das Haus nicht verlassen können.

Und dann sind da noch die Mütter, die ein Kind mit Behinderung bekommen und das Haus nicht verlassen. Sehr viele Frauen werden von ihren Partnern im Stich gelassen, wenn sie von der Behinderung ihres Kindes erfahren. Nach der Geburt trauen sich viele Mütter nicht auf die Straße aus Angst vor den Reaktionen der Nachbarn. Irgendwann haben sie dann die Wahl: entweder sie bleiben mit dem Kind Zuhause und können nicht arbeiten gehen oder das Kind kommt in ein Heim, wo es nicht alt wird. Keine Irkutsker Kita nimmt Kinder mit Behinderungen auf, Schulen sowieso nicht. Es gibt einige Tagesbetreuungen, die jedoch nicht für alle ausreichen und in ihren Methoden so veraltet sind, dass viele moderne Muttis ihr Kind dort nicht mal stundenweise abgeben wollen. Wer eine Großmutter oder Urgroßmutter hat, die im behinderten Enkelchen keine Verletzung der Familienehre sieht und Zeit für Betreuung hat, kann wieder arbeiten gehen, zumindest teilweise. Viele Mütter fühlen sich jedoch weder psychisch noch finanziell stark genug, um gegen die Steinzeitbedingungen zu kämpfen und mit ihrem behinderten Kind glücklich zu werden.

Vieles ist in Russland vom Geld abhängig. Wer Geld hat, baut sich selbst ein Häuschen. Wer Geld hat, kann sich auch Privatförderung nach westeuropäischem Standard bei einem Irkutsker Psychologen und „Defektologen“ kaufen, der sich regelmäßig auf dem Gebiet der physiotherapeutischen Frühförderung für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen weiterbildet, einen super Draht zu Kindern hat und 50 Euro pro Stunden verlangt, weil er der Einzige im ganzen Irkutsker Gebiet ist, der so arbeitet. Einige Mütter gehen wenigstens einmal im Monat zu ihm, damit sie wissen, sie haben alles ihnen Mögliche für ihr Kind getan. Einmal im Jahr kommt auch ein Psychologe aus Moskau nach Irkutsk, um Eltern individuell zu beraten. Wer das möchte, muss länger sparen. Der Moskauer Arzt verlangt 100 Euro pro Beratungsstunde, in denen er kein Blatt vor den Mund nimmt. Einigen Müttern wird dann schon mal knallhart gesagt, dass sie ihr fünfjähriges Kind wie ein Baby behandeln und erst einmal ihr eigenes Trauma bewältigen sollten, um das Kind nicht weiter zu traumatisieren. Auch damit haben die Mütter dann allein klar zu kommen.

Zum ersten Mal tauchte das Thema Behinderung in der russischen Presse im größeren Rahmen nach dem verhängten Adoptionsverbot für Amerikaner ab 1. Januar 2013 auf. Plötzlich wurde veröffentlicht, wie vielen russischen Kindern (darunter auch eine Menge mit Behinderungen) es in den USA gut ginge, welche enormen Entwicklungschancen sie haben und ein vergleichbar erfülltes Leben in Russland für sie nie möglich gewesen wäre. Neben den patriotischen Reaktionen („Wir Russen müssen für unsere Kinder Sorge tragen.“) wurde plötzlich auch über Lebensbedingungen in den Heimen geschrieben, über Entwicklungschancen von Kindern mit Behinderungen und schließlich über die geringe Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen in Russland. Dann wurde es wieder ruhig in der Presse.

Doch nun steht ein Großereignis an: die Paralympischen Spiele in Sotschi 2014. Die Angst der Veranstalter vor leeren Tribünen ist berechtigt. Um den Kartenverkauf ein wenig anzukurbeln, hat Ministerpräsident Medwedew nun versprochen, er werde ebenfalls teilnehmen. Das, worauf Putin keine Lust hat, muss der leidige Premier erledigen. Seine Teilnahme begründete er mit den Worten „Die Anpassung der Behinderten in unserer Gesellschaft ist für viele ein psychologisches Moment, das den Grad der Toleranz eines jeden von uns zeigt. Man muss die Menschen so akzeptieren, wie sie sind“. [russ.: Адаптация инвалидов в нашем обществе для многих – психологический момент, показывающий, как ни что другое, степень толерантности каждого из нас. Нужно принимать людей такими, какие они есть (. . .)] Zur Übersetzung muss noch ergänzt werden, dass er eigentlich nicht von Behinderten, sondern – wie allgemein üblich in Russland – von „Invaliden“ spricht.

Behindertenverbände in Russland kämpfen seit Jahren dagegen, Menschen mit völlig unterschiedlichen Beeinträchtigungen „Invaliden“ zu nennen. Dieser Begriff trennt Gesunde von Kranken und erzeugt bei jedem Russen Mitleid oder negative Gefühle. Neben der Bezeichnung „Invalide“ haben viele Russen, die ich kennenlernte sogar gleich von „Kranken“ [russ.: больных] gesprochen. Ebenso der schon oben genannte Facharzttitel „Defektologe“. Es gibt in Russland keine Physiotherapeuten. Sobald ein Kind irgendeine physische oder psychische Entwicklungsverzögerung hat, hat es einen Defekt und muss zum Defektologen. Der schickt einen dann zu den jeweiligen therapierenden Spezialisten weiter, z.B. zum Logopäden, zur Masseuse, zum Schwimmen, etc. Oder eben zum Neurologen. Und der therapiert mit Tabletten. Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sind wir dann eben bei einer Neurologin gelandet, die uns für die bessere Entwicklung unseres Kindes drei Wochen nach der Geburt gleich mal vier verschiedene Pillen verordnete, die er regelmäßig einzunehmen hätte. Und da wir dies nicht taten, wurden wir dann nicht nur von ihr, sondern auch von der behandelnden Kinderärztin als verantwortungslos bezeichnet. Wir würden das Wohl unseres Kindes gefährden, hieß es.

Ich frage mich also wirklich, wer schaut sich in Sotschi die kranken Sportler an?

Disability Mainstreaming

Wenn über Menschen mit Behinderung in den Medien geredet oder geschrieben wird, wird diesen oft die Rolle des Opfers oder die Rolle des Helden zugeteilt. Das will leidmedien.de ändern. Ein Mitinitiator der Leidmedien ist Raúl Krauthausen, den ich super cool finde. Warum spielen Behinderte im TV eigentlich immer behinderte Rollen? Warum werden Behinderte nur eingesetzt, wenn es um behinderte Themen geht? Oder warum machen es sich Filmemacher eigentlich oft so leicht, indem sie nichtbehinderte Schauspieler in einen Rollstuhl setzen, anstatt einen Schauspieler im Rollstuhl zu suchen für den Film? Wann sind wir in Deutschland endlich mal an dem Punkt, dass behinderte Moderatoren nicht nur immer über das Thema Behinderung berichten, sondern einfach alle üblichen Fernsehformate wie Nachrichten, Quizshows, Werbung usw. besetzen? Diese und andere Fragen hat Raúl auf der re:publica 2013 gestellt.

In diesem Zusammenhang kam er auf Disability Mainstreaming zu sprechen. Konkret ging es um das Projekt wheelmap.org. Wheelmap ist eine online-Karte wie z.B. die googlemaps und jeder User kann rollstuhlgerechte Orte suchen, finden und markieren. Ein tolles Projekt. Wheelmap möchte aber raus aus der Nische eines Projektes von und für Rollstuhlfahrer. Warum soll es nicht einfach möglich sein, auf verschiedenen maps, die sowieso schon im Netz existieren, rollstuhlgerechte Orte einzutragen? Das kann ein Anliegen jedes Unternehmens, jedes Cafés, jeder Arztpraxis, jeder Schule sein, sich hier rollstuhlgerecht zu präsentieren.

Wie auch Wikipedia schreibt, ist Disability Mainstreaming damit analog zu Gender Mainstreaming ein Auftrag an Verwaltungen, Organisationen, kleine und große Geschäfte, etc., die unterschiedlichen Interessen und Lebenssituationen von Menschen mit und ohne Behinderung in der Struktur, in der Gestaltung von Prozessen und Arbeitsabläufen, in den Ergebnissen und Produkten, in der Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit und in der Steuerung von vornherein zu berücksichtigen, um das Ziel der Gleichstellung zu verfolgen.

Wow. Das klingt theoretisch toll. Und wheelmap versucht es, praktisch umzusetzen. Raúl Krauthausen ist einfach ein unglaublich toller Typ. Ich bewundere alle seine Projekte.

Fotoausstellung „Любовь без условий“

Plakat_klein
Ausstellungsplakat

Wir haben es geschafft. Gestern haben wir endlich die Fotoausstellung mit Bildern von Conny Wenk und dem Irkutsker Fotografenpaar Ksenia Kalinina und Andrej Kwasow im Museum „Usadba Sukachewa“ in Irkutsk eröffnet. 20 Fotos mit kleinen Supermodells und ihren Eltern. Zehn deutsche und zehn Irkutsker Kids mit Down Syndrom. Sweta und Anton Blisnjuk begrüßten alle Gäste in den Ausstellungsräumen mit Klavier und Trompete. Zuerst bedankte ich mich beim Generaldirektor des Hotels Courtyard Marriott Wolfgang Koller für die finanzielle Unterstützung der Ausstellung. Ohne seine Hilfe wäre die Ausstellung nie zustande gekommen. Anschließend bedankte ich mich bei allen elf Behindertenvereinen, die sich an der Ausstellung beteiligt haben. Auf Plakaten stellen sie die Arbeit ihrer Organisation vor. Es war nicht so leicht, diese Selbstpräsentationen zu koordinieren. Dabei hat mir Thomas sehr geholfen. Bei der Eröffnung sprachen die Kinderrechtsbeauftragte des Irkutsker Gebietes Swetlana Semenowa, die Vertreterin des Ministeriums für soziale Entwicklung, Sorgerecht und Vormundschaft im Irkutsker Gebiet Olga Tschirkowa, der Vorsitzende des Dachverbandes der Behindertenvereine im Irkutsker Gebiet Sergej Makeew sowie unsere Gäste von DownSideUp Moskau Begrüßungsworte. Auch das Fernsehen war anwesend. Ich denke, dass es eine gelungene Eröffnung war und bin sehr glücklich. Wer möchte, kann sich die Fotos noch bis 16. Juni anschauen.

8 7 6 5 3 1