Der Tag des Verteidigers des Vaterlandes

Der День защи́тника Оте́чества ist ein gesetzlicher Feiertag in Russland und einigen anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Er wird in Russland jährlich am 23. Februar gefeiert und ist seit 2002 arbeitsfrei. Er soll die Angehörigen der russischen Streitkräfte feiern, inoffiziell ist er jedoch auch der „Tag des Mannes“.

Ich kann mich an die Paraden erinnern, die jährlich am 23. Februar in Irkutsk stattfanden. An diesem Tag gab es keine Hello-Kity-Luftballons, sondern aufblasbare Panzer und Maschinengewehre für die Kinder, Männer trugen Sakkos mit unzähligen Orden zur Schau, die Tochter einer Freundin bastelte einen kleinen Panzer für den Papa im Kindergarten und der große echte Panzer an der nahe gelegenen Kreuzung, der als Denkmal gilt, wurde mit Blumen geschmückt. Zweifellos ein Tag an dem die meisten Irkutsker ausgelassenen feierten, die Helden des Landes, den Mann als solchen und Kriegsrhetorik in erster Linie als etwas Heldenhaftes, Starkes, Unbesiegbares und Positives gesehen wird. Kein Wunder, dass mich dieser Tag in Russland immer befremdete. Er war ein Teil der russischen Kultur, den ich niemals verstand.

Und heute sehe ich auf der Webseite des Down-Syndrom-Vereins in Irkutsk, in dem ich während unserer Russland-Zeit recht aktiv war und noch heute guten Kontakt zu einigen Muttis habe, dieses Foto einer Glückwunschkarte:

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Ein kleiner Junge mit Down Syndrom trägt eine Soldatenmütze und gratuliert heute allen „Verteidigern des Vaterlandes“. Ein behindertes Kind als Soldat mit Armee-Hintergrund. Da kommen bei mir ganz schreckliche Assoziationen hoch. Gleich fragte ich Sascha: „Sag mal, wurden in der Sowjetunion eigentlich die Behinderten nicht getötet oder deportiert?“. Er antwortete: „Stalin und seine Terror/Gulag-Zeit und auch die Staatsgründung der CCCP unter Lenin, sind ein komplett unaufgearbeitetes Kapitel. Sie genießen höchstes Ansehen und Aufklärung wird aktiv verhindert.“

Ich schaute im Netz, was ich finden konnte. Der kleine Junge auf der Glückwunschkarte ging mir nicht aus dem Kopf. Dort stieß ich auf den Namen Walerij Fefelow. Er veröffentlichte 1986 das Buch „In der UdSSR gibt es keine Invaliden!…“ und galt als Kämpfer für die Rechte von Menschen mit Behinderung in der UDSSR. 2008 starb er in Frankfurt am Main.
Man erzählt, dass Stalin sich einmal während der Fahrt durch das Nachkriegs-Moskau empört über so viele Invaliden auf den Straßen geäußert habe. Fefelow schreibt: „Außerstande einen Behinderten in einen Rollstuhl zu setzen, schämte sich der Staat seiner Erscheinung und versuchte ihn aus den Augen zu schaffen! Und das ist nur konsequent: eine Gesellschaft, die sich selbst als ideal ansieht, muss alles ordentlich sein: die Kleidung, die Auslagen, die Fassaden. Das ist als ob entlang der makellosen Reihe der Militärmusiker und Tribünen plötzlich irgendeine verkrüppelte Kreatur entlang kriecht oder auf einem selbstgebauten Brettchen mit Rollen entlang rollt. Wer hat das zugelassen? Weg damit! Weg damit! Weg damit!“

In der UdSSR gab es 1.500 Häuser für Behinderte, in denen sie, so Fefelow, “eingemauert” waren. Es war ihnen offiziell untersagt, Kinder zu haben. Auf den Straßen waren sie nicht zu sehen. Ein Funktionär erklärt: „Die gesunden Menschen sind an die Behinderten nicht gewöhnt.“ Als ein echtes Konzentrationslager, als sowjetisches Buchenwald, bezeichnete man das Behindertenlager im Dorf Makorty im Sophia-Bezirk des Gebiets Dnipropetrowsk – „[…] Da ist eine Hölle: keine Behandlung, kein Essen. Diese Tiere versuchen Dich ins Jenseits zu schicken, aber ohne Laute, damit alles schön verdeckt bleibt […]“. Fefelow schreibt, dass während der UdSSR die Behinderten nicht einmal für Menschen gehalten wurden.

Ich erinnere mich, wie ich 2002 so viele junge Männer ohne Gliedmaßen in den U-Bahntunneln in Moskau betteln sah. Sie waren kaum älter als ich, manche sogar jünger. Tschetschenien hatte ihr Leben zerstört. Niemand feiert sie, niemand kümmert sich um diese „Vaterlandsverteidiger“. Bei den jährlichen russischen Militärparaden stolzieren die wenigen Kriegshelden mit ihren Orden und Medaillien an der Brust durch die Straßen, die keine sichtbaren Einschränkungen durch diverse Kriegseinsätze davon getragen haben. Denn in Russland gibt es auch heute noch keine Behinderten.

Barrierefreiheit – Eine Mammutaufgabe für Russland

Gestern gab es beim dradio einen Beitrag zum Mangel an Barrierefreiheit in Russland. So, wie Gesine Dornblüth die Situation beschreibt, habe ich es mehr oder weniger auch die letzten fünf Jahre in Irkutsk erlebt. Da ich die ein oder andere Person, die aufgrund mangelnder Barrierefreiheit in Irkutsk kaum aus den eigenen vier Wänden herauskommt, etwas näher kennen gelernt habe, lese ich einen solchen Artikel natürlich mit ganz anderen Emotionen.

Nach der Geburt unseres ersten Kindes in Irkutsk, sagten deutsche Kollegen zu uns: „Aber Ihr werdet Eurer Baby hoffentlich nicht die ganze Zeit und überall hin auf dem Arm schleppen, so wie es die Russen tun?“ Schnell merkten wir aber, dass man mit einem Kinderwagen weder in irgendwelche Geschäfte kommt, noch öffentliche Verkehrsmittel nutzen kann. Sogar Kliniken haben oft weder Kinderwagenabstellplätze, noch Fahrstühle, Stillräume, genügend Sitzgelegenheiten in Warteräumen, genügend Wickeltische, … – russische Frauen schleppen ihre Babies an manchen Tagen einfach stundenlang. Wozu also einen Kinderwagen, wenn man mit ihm sowieso nirgendwo reinkommt?

Rollstuhlfahrer habe ich in fünf Jahren in Irkutsk übrigens insgesamt zwei gesehen. Das hat sicherlich viele Gründe. Erstens, Rollstühle sind teuer. Zweitens, da man öffentliche Verkehrsmittel nicht nutzen kann (Trolleybus, Bus, Tram und Bahn sind nicht zugänglich für Rollis oder Kinderwagen), braucht man ein größeres Auto. Das ist teuer. Drittens, die Straßen und Gehwege sind in sehr schlechtem Zustand. Viele Fußgänger stürzen aufgrund der Schlaglöcher oder Unebenheiten. In den Sommermonaten werden regelmäßig viele Straßen saniert. Nach dem harten Winter ist überall der Beton jedoch wieder aufgebrochen. Und viertens, im kurzen Frühling und Herbst wechselt stündlich Regen und Schnee. Dadurch sind die Straßen und Gehwege in dieser Zeit spiegelglatt. Auch den langen Winter über (Oktober bis April) liegt Schnee, der zum Teil sehr glatt ist. Ich bin im Winter in Irkutsk öfter auf dem Weg zur Arbeit gestürzt. Im Sommer stößt man häufig auf die nicht befestigten Straßen, von denen es sogar in der Irkutsker Innenstadt eine ganze Menge gibt.

Hochhäuser haben meist Fahrstühle, die oft funktionieren. Das heißt jedoch nicht, dass es eine Rampe am Eingang gibt. Selbst die zahlreichen Neubauten werden ohne Rampen gebaut. Tatiana Anatolewna Federowa, Gründerin des Irkutsker Vereins „Nadeschda“ und Mutter eines mittlerweile erwachsenen Sohnes mit infantiler Zerebralparese, sagte mir, dass es ein russisches Gesetz gibt, nachdem alle Neubauten „barrierefrei“ zu bauen seien (mit Rampe), aber mit ein bisschen Geld kann ein Bauherr die Behörden relativ schnell überzeugen, dass das nicht benötigt wird.

Wenn man mit russischen Studierenden über Barrierefreiheit spricht, sind sie kaum zu halten. Jeder hat eine Tante, eine Großmutter oder andere Verwandte, die das Haus nicht verlassen können.

Und dann sind da noch die Mütter, die ein Kind mit Behinderung bekommen und das Haus nicht verlassen. Sehr viele Frauen werden von ihren Partnern im Stich gelassen, wenn sie von der Behinderung ihres Kindes erfahren. Nach der Geburt trauen sich viele Mütter nicht auf die Straße aus Angst vor den Reaktionen der Nachbarn. Irgendwann haben sie dann die Wahl: entweder sie bleiben mit dem Kind Zuhause und können nicht arbeiten gehen oder das Kind kommt in ein Heim, wo es nicht alt wird. Keine Irkutsker Kita nimmt Kinder mit Behinderungen auf, Schulen sowieso nicht. Es gibt einige Tagesbetreuungen, die jedoch nicht für alle ausreichen und in ihren Methoden so veraltet sind, dass viele moderne Muttis ihr Kind dort nicht mal stundenweise abgeben wollen. Wer eine Großmutter oder Urgroßmutter hat, die im behinderten Enkelchen keine Verletzung der Familienehre sieht und Zeit für Betreuung hat, kann wieder arbeiten gehen, zumindest teilweise. Viele Mütter fühlen sich jedoch weder psychisch noch finanziell stark genug, um gegen die Steinzeitbedingungen zu kämpfen und mit ihrem behinderten Kind glücklich zu werden.

Vieles ist in Russland vom Geld abhängig. Wer Geld hat, baut sich selbst ein Häuschen. Wer Geld hat, kann sich auch Privatförderung nach westeuropäischem Standard bei einem Irkutsker Psychologen und „Defektologen“ kaufen, der sich regelmäßig auf dem Gebiet der physiotherapeutischen Frühförderung für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen weiterbildet, einen super Draht zu Kindern hat und 50 Euro pro Stunden verlangt, weil er der Einzige im ganzen Irkutsker Gebiet ist, der so arbeitet. Einige Mütter gehen wenigstens einmal im Monat zu ihm, damit sie wissen, sie haben alles ihnen Mögliche für ihr Kind getan. Einmal im Jahr kommt auch ein Psychologe aus Moskau nach Irkutsk, um Eltern individuell zu beraten. Wer das möchte, muss länger sparen. Der Moskauer Arzt verlangt 100 Euro pro Beratungsstunde, in denen er kein Blatt vor den Mund nimmt. Einigen Müttern wird dann schon mal knallhart gesagt, dass sie ihr fünfjähriges Kind wie ein Baby behandeln und erst einmal ihr eigenes Trauma bewältigen sollten, um das Kind nicht weiter zu traumatisieren. Auch damit haben die Mütter dann allein klar zu kommen.

Zum ersten Mal tauchte das Thema Behinderung in der russischen Presse im größeren Rahmen nach dem verhängten Adoptionsverbot für Amerikaner ab 1. Januar 2013 auf. Plötzlich wurde veröffentlicht, wie vielen russischen Kindern (darunter auch eine Menge mit Behinderungen) es in den USA gut ginge, welche enormen Entwicklungschancen sie haben und ein vergleichbar erfülltes Leben in Russland für sie nie möglich gewesen wäre. Neben den patriotischen Reaktionen („Wir Russen müssen für unsere Kinder Sorge tragen.“) wurde plötzlich auch über Lebensbedingungen in den Heimen geschrieben, über Entwicklungschancen von Kindern mit Behinderungen und schließlich über die geringe Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen in Russland. Dann wurde es wieder ruhig in der Presse.

Doch nun steht ein Großereignis an: die Paralympischen Spiele in Sotschi 2014. Die Angst der Veranstalter vor leeren Tribünen ist berechtigt. Um den Kartenverkauf ein wenig anzukurbeln, hat Ministerpräsident Medwedew nun versprochen, er werde ebenfalls teilnehmen. Das, worauf Putin keine Lust hat, muss der leidige Premier erledigen. Seine Teilnahme begründete er mit den Worten „Die Anpassung der Behinderten in unserer Gesellschaft ist für viele ein psychologisches Moment, das den Grad der Toleranz eines jeden von uns zeigt. Man muss die Menschen so akzeptieren, wie sie sind“. [russ.: Адаптация инвалидов в нашем обществе для многих – психологический момент, показывающий, как ни что другое, степень толерантности каждого из нас. Нужно принимать людей такими, какие они есть (. . .)] Zur Übersetzung muss noch ergänzt werden, dass er eigentlich nicht von Behinderten, sondern – wie allgemein üblich in Russland – von „Invaliden“ spricht.

Behindertenverbände in Russland kämpfen seit Jahren dagegen, Menschen mit völlig unterschiedlichen Beeinträchtigungen „Invaliden“ zu nennen. Dieser Begriff trennt Gesunde von Kranken und erzeugt bei jedem Russen Mitleid oder negative Gefühle. Neben der Bezeichnung „Invalide“ haben viele Russen, die ich kennenlernte sogar gleich von „Kranken“ [russ.: больных] gesprochen. Ebenso der schon oben genannte Facharzttitel „Defektologe“. Es gibt in Russland keine Physiotherapeuten. Sobald ein Kind irgendeine physische oder psychische Entwicklungsverzögerung hat, hat es einen Defekt und muss zum Defektologen. Der schickt einen dann zu den jeweiligen therapierenden Spezialisten weiter, z.B. zum Logopäden, zur Masseuse, zum Schwimmen, etc. Oder eben zum Neurologen. Und der therapiert mit Tabletten. Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sind wir dann eben bei einer Neurologin gelandet, die uns für die bessere Entwicklung unseres Kindes drei Wochen nach der Geburt gleich mal vier verschiedene Pillen verordnete, die er regelmäßig einzunehmen hätte. Und da wir dies nicht taten, wurden wir dann nicht nur von ihr, sondern auch von der behandelnden Kinderärztin als verantwortungslos bezeichnet. Wir würden das Wohl unseres Kindes gefährden, hieß es.

Ich frage mich also wirklich, wer schaut sich in Sotschi die kranken Sportler an?

Fotoausstellung „Любовь без условий“

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Ausstellungsplakat

Wir haben es geschafft. Gestern haben wir endlich die Fotoausstellung mit Bildern von Conny Wenk und dem Irkutsker Fotografenpaar Ksenia Kalinina und Andrej Kwasow im Museum „Usadba Sukachewa“ in Irkutsk eröffnet. 20 Fotos mit kleinen Supermodells und ihren Eltern. Zehn deutsche und zehn Irkutsker Kids mit Down Syndrom. Sweta und Anton Blisnjuk begrüßten alle Gäste in den Ausstellungsräumen mit Klavier und Trompete. Zuerst bedankte ich mich beim Generaldirektor des Hotels Courtyard Marriott Wolfgang Koller für die finanzielle Unterstützung der Ausstellung. Ohne seine Hilfe wäre die Ausstellung nie zustande gekommen. Anschließend bedankte ich mich bei allen elf Behindertenvereinen, die sich an der Ausstellung beteiligt haben. Auf Plakaten stellen sie die Arbeit ihrer Organisation vor. Es war nicht so leicht, diese Selbstpräsentationen zu koordinieren. Dabei hat mir Thomas sehr geholfen. Bei der Eröffnung sprachen die Kinderrechtsbeauftragte des Irkutsker Gebietes Swetlana Semenowa, die Vertreterin des Ministeriums für soziale Entwicklung, Sorgerecht und Vormundschaft im Irkutsker Gebiet Olga Tschirkowa, der Vorsitzende des Dachverbandes der Behindertenvereine im Irkutsker Gebiet Sergej Makeew sowie unsere Gäste von DownSideUp Moskau Begrüßungsworte. Auch das Fernsehen war anwesend. Ich denke, dass es eine gelungene Eröffnung war und bin sehr glücklich. Wer möchte, kann sich die Fotos noch bis 16. Juni anschauen.

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Ein Bauernhof in Buguldejka

Das erste Mal waren wir in Buguldejka, 240 km entfernt von Irkutsk, am Baikalsee. Das Dörfchen hat keine 1000 Einwohner, befindet sich am, mit der Schneeschmelze jedes Jahr im Mai das halbe Dorf überflutenden, Fluss Buguldejka. Im Dorf gibt es ein paar Geschäfte mit den für Selbstversorger wichtigsten Produkten wie Zucker, Seife oder Alkohol. Zu unserem Erstaunen gibt es sogar eine Musikschule. Und natürlich unseren netten Bio-Bauernhof. Es war wunderbar. Wir sind geritten, haben beim Melken zugeschaut, Kaninchen und Ziege gestreichelt, Enten beim Baden zugeschaut, Katzen umher geschleppt, mit Hunden gespielt, mit dem Hahn gekräht, Kühe gefüttert und viele riesige Zecken abgeschüttelt und getötet. Eine Tischtennisplatte, eine Schaukel und ein Sandkasten waren auch dort. Yuhuu. Und sogar ein kleines Gummipferd für den Tolja.

1 42 Brücke in Buguldejka Der noch zugefrorene Baikal Der noch zugefrorene Baikal_2 Der noch zugefrorene Baikal_3 In Buguldejka In der Steppe Posy Sibirische Frühjahrsblüher

Spielplatznostalgie

Dort, wo ich her komme, gab es in meiner Kindheit noch keine Abenteuerspielplätze mit Piratenbooten, Kletternetzen, Hängebrücken, Trampolinen oder Holzhütten. Es gab nur Klettergerüste aus Eisenstangen. Trotzdem war ich quasi täglich mit meinem Schwesterherz und meinen Cousinchen dort und wir spielten meist Viereckraten, Verstecken, Fangen oder Gummihoppse. Daran erinnere ich mich noch ganz genau, denn ich liebte den Spielplatz.

Was die Spielplatzdichte in Irkutsk angeht, sind wir verwöhnt. Es gibt in fast jedem Hof bzw. hinter fast jedem Haus einen Platz für Kinder mit mindestens zwei Klettergerüsten. Suchen muss man allerdings nach einem Spielplatz, der nicht an einer stinkenden, weil stark befahrenen Straße liegt, der nicht mit Katzenpisse, Hundekot, Leergut und Zigarettenstummeln voll ist oder, der ein wenig Grünzeug zu bieten hat. Zudem sind viele der Spielplätze kaputt, oft sind z.B. die Schaukeln abgerissen, die Sitzflächen auf den Wippen fehlen oder bohren Nägel in den Po, Stangen der Klettergerüste sind verbogen oder fehlen ganz, Treppenstufen sind heraus gebrochen oder Rutschen zerreißen die Hosen bei Benutzung.

Worauf jedoch häufig geachtet wird, sind gepflegte kleine Blumenbeete in liebevoll aus 5-Liter-Wasserkanistern oder alten Autoreifen gebastelten Blumentöpfen, deren Berührung (egal, ob mit dem Fuß oder dem Ball) sogleich mit lautstarkem Zorn einer immer an irgendeinem Fenster sitzenden Dame, bestraft wird.

Blumentöpfe_1 Blumentöpfe_2 Feuerwehr Klettergerüst_1 Klettergerüst_2 Rakete

Wie man sich noch tiefer in die Bildungskrise schießt – Ein Bericht aus der russischen Provinz

Heute wurde den Mitarbeitern und Studierenden der Irkutsker Staatlichen Linguistischen Universität (ISLU) zum zweiten Mal aufgetragen, bei der freien und geheimen Abstimmung für den Zusammenschluss mit der Moskauer Staatlichen Linguistischen Universität (MSLU) zu stimmen. 89% der Mitarbeiter und ungefähr genauso viele Studenten waren demnach mit einer ungewissen Zukunft ihrer Bildungseinrichtung einverstanden, denn konkrete Vorhaben werden laut Rektorin der MSLU Khaleevea erst noch ausgearbeitet. Wie die Presse berichtet, versprach Khaleeva den Studenten höhere Stipendien (viele russische Studenten studieren kostenlos, wenn sie entsprechend gute Noten bekommen, die Erlassung der Studiengebühren und ein klitzekleines monatliches Taschengeld springen dabei heraus – hier muss erwähnt werden, dass fast alle Studierenden gute Noten bekommen, denn das Lehrergehalt hängt auch von der „Leistung“ der betreuten Studierenden ab). Außerdem versprach sie die Wiedereinführung einer Fakultät für millitärische Ausbildung.

Bereits vor einem Monat war bei vesti.irk.ru zu lesen, dass die Baikaluniversität für Wirtschaft und Recht in Irkutsk ab September 2013 Spezialeinheiten für den russischen Geheimdienst FSB, für das russische Innenministerium, den Föderalen Dienst für den russischen Strafvollzug und anderen Sicherheitsbehörde ausbilden wird. Hier sollen die Studenten nicht nur Gesetze und Sicherheitsmaßnahmen kennenlernen, sondern auch Techniken der Strafverfolgung und den Gebrauch von Waffen. „Nach der fünfjährigen Ausbildung werden die Studenten nicht nur in der Lage sein, alle Aufgaben, die ihnen zugetragen werden, mit Logik und Vernunft zu erfüllen, sondern auch das nötige Handwerkszeug, sprich die Waffen, anwenden können“, schwärmt der Dekan der Fakultät für Staats- und Völkerrecht (der gleichzeitig Polizeioberst ist) Wladimir Moizeew.

Der Zusammenschluss der ISLU mit der MSLU wurde mit einem „Приказ“ (Befehl) des Russischen Bildungsministeriums am 15. März bereits besiegelt. Nun kam jedoch dazwischen, dass sich der Bildungsminister Liwanow momentan in einer denkbar schlechten Lage befindet, denn nicht nur das russische Parlament, sondern auch Bildungseinrichtungen des gesamten Landes, wie z.B. die Irkutsker Akademie der Wissenschaften fordern mittlerweile den Rücktritt des Ministers, der sich in seinem Amt seit Monaten diverser Korruptionsvorwürfe stellen muss.

Auf die Frage einer älteren Professorin für Germanistik der ISLU, ob Khaleeva den Mitarbeitern in dieser Situation nicht Mut machen bzw. irgendeine Garantie bieten kann, dass ihre Arbeitsplätze auch nach dem Zusammenschluss mit der MSLU erhalten bleiben (denn bis 2018 soll die Hochschule „wirtschaftlich effektiv“ arbeiten), antwortete die Moskauer Rektorin: „Wollen Sie mein Ehrenwort im Namen unserer Partei ‚Einheitliches Russland‘ oder welche Art von Garantie erwarten Sie?“

Meine Studenten können ihren Unmut über diese Situation kaum noch zurück halten. Ihnen fehlt jegliche Motivation für das Lehramtstudium, mit dem sie ja doch keine Arbeit finden, von der sie sich ernähren können und demnach leider darauf angewiesen sein werden, einen besserverdienenden Lebenspartner zu finden. Als ich mich neulich vor ihnen darüber lustig machte, dass die tägliche Reklame an der ISLU von Irkutsker Firmen, die Haus- und Diplomarbeiten für die Studenten schreiben, auf Kopierpapier gedruckt ist, das auf der Rückseite Verträge mit Studenten mit allen persönlichen Angaben zeigt, schaute die halbe Gruppe mit roten Köpfen nach unten.

Ich frage mich, warum alle so pessimistisch sind? Die Germanistikprofessorin kann schließlich zur Millitärfakultät wechseln. Und bis 2018 kann sie schon mal lernen, in der gerade frisch eröffneten Schießbudenkette „Patriot“, die sich im Zentrum der Stadt ausbreitet, ihre Fragen etwas nachdrücklicher zu formulieren.

Schießbude Patriot Irkutsk

Queergeneration

Seit 11. April ist in der Irkutsker Gallerie «Revолюция» die Fotoausstellung „Queergeneration“ von Yana Khankhatova zu sehen. Homosexualität ist in Russland noch immer ein großes Tabuthema, dass die Leute wenn, dann nur im privaten Kreis diskutieren möchten. Zu Sowjetzeiten wurde Homosexualität als Geisteskrankheit und Verbrechen eingestuft, für das man mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft wurde. Erst 1993 wurde Homosexualität entkriminalisiert. Der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche, allen voran des Patriarchs Kyrill, ist seitdem beim Thema Homosexualität nicht zu unterschätzen: „Wir sind gegen die Gleichstellung homosexueller Beziehungen und für natürliche Beziehungen zwischen Männern und Frauen“, sagte er 2009 noch recht vorsichtig und wiederholt dies seitdem immer deutlicher wann immer er Gelegenheit dazu bekommt. In mehreren Regionen Russlands hat sich auf kommunaler Ebene nun das „Gesetz gegen Homosexuellenpropaganda“ (das gleichzeitig gegen Bisexualität und Pädophilie ist) durchgesetzt, das angeblich Kinder und Jugendliche schützen soll. Plakate mit der Aufschrift „Schwul sein ist normal“ werden in diesen Regionen beispielsweise mit Geldstrafen geahndet, genau so wie Kinderpornographie. Die russische amtierende Gesundheitsministerin Weronika Skworzowa schoss den Vogel ab, indem sie Homosexualität mit einer Krankheit und „schädlichen vermittelten Gewohnheiten“ wie Drogensucht oder Rauchen verglich. Wir waren demnach ganz gespannt, was sich die Künstlerin aus Ulan Ude in „Queergeneration“ wagt, zu zeigen.

„Queer“, so heißt es in der Ausstellung, bedeute soviel wie „fremd“ oder „seltsam“ und wurde hier verwendet für alle nicht der Tradition entsprechenden Verhaltensmuster. Insofern nimmt die Ausstellung weniger Bezug auf Homosexualität, als vielmehr auf eine neue Form der Weiblichkeit, die in Russland bisher kaum so gezeigt wird. Ein Foto stellt z.B. eine Frau in eindeutig sexualisierter Pose dar, auf ihren Ringen steht „Fuck Love“. Ein anderes Bild zeigt eine junge Burjatin mit traditionellem Kopfschmuck und einem, ihre Brüste zum Teil entblößendem, Netzpullover. Ein anderes Bild zeigt eine burschikose Frau mit kurzen Haaren, Brille und Muskelshirt.

Da die meisten russischen Frauen, die ich kennen gelernt habe, traditionelle Frauen- und Männerrollen nicht ablehnen, ihre Weiblichkeit bewusst und gerne für diverse Zwecke einsetzen und Feminismus allgemein bzw. eine gewisse Rollendistanz komplett verweigern, fand ich die Ausstellung ziemlich gut. Auch, wenn sie nicht unsere Erwartungen von „Queer“ erfüllte.

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Frühlingsschlamm

Gestern bekommen wir ein Brief unserer Kinderklinik mit dem „Jahresbericht“ unser betreuenden Kinderärztin in die Hand gedrückt, in dem uns vorgeworfen wird, wir würden die Gesundheit unseres Kindes gefährden, da wir fast nie die Medikamente geben, die uns verschrieben werden. Angefangen hat der ganze Spaß mit der Neurologin dieser Klinik, die uns gleich nach der Geburt letztes Jahr im März dauerhaft Encephabol zur Steigerung der Gehirnaktivität verschrieben hat. Wir hatten nicht nur die Frechheit, die Empfehlung der Ärztin in Frage zu stellen und die Dauerkur zu verweigern, sondern ich drückte der Kinderärztin auch noch einen ins Russische übersetzen Artikel zur umstrittenen Wirksamkeit dieses Medikamentes in die Hand, um unsere Verweigerung zu erklären. Später erschien mir das ziemlich arrogant ihr gegenüber. Eine russische Bekannte sagte, wir hätten einfach so tun sollen, als ob wir das Zeug regelmäßig geben. Weiter ging es mit diversen Antibiotika, die uns im Laufe des letzten Jahres nicht nur bei Husten, sondern auch prophylaktisch verschrieben wurden, wenn ein anderes Familienmitglied krank war.

Dann lese ich gestern auch noch diesen bescheuerten Artikel in DIE ZEIT über Inklusion an deutschen Schulen und lerne daraus, dass ich ein inklusives Schulmodell nur befürworte, weil ich selbst „betroffen“ bin. Auch weiß ich jetzt, dass Eltern eigentlich ein Problem hätten, wenn sie ihre „verhaltensgestörten“ Kinder auf eine Regelschule schicken und, dass dieses ganze Inklusionsvorhaben nur „die Welt für Behinderte ein bisschen besser machen will“. Interessant auch zu erfahren, dass ich nicht in der Wirklichkeit lebe.

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Nach diesem Frühling muss mal wieder was Schönes kommen.

Frühförderkurse in Irkutsk

Auf Empfehlung einer Mutter einer dreijährigen Tochter mit Down Syndrom, bin ich heute mit Tolja in das „Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen“ gefahren. Immer freitags findet dort kostenfrei für alle Interessierten ein anderthalbstündiger Frühförderkurs statt. Ich war ganz gespannt, was uns dort erwartet. Zuerst wurden wir in den Sensorikraum geführt. Hier durften die Kinder 30 Minuten ihre Sinne trainieren. Mit uns waren noch 4 Kinder zwischen ein und fünf Jahren mit Down Syndrom. Es gab eine Spielkiste mit Bällen, Lichtersäulen, Matratzen, eine Werkbank aus Holz, Massagebälle, einen Plastiktunnel zum Durchkrabbeln und einen Teppich mit vielen kleinen Lichtern. Zwischendurch wurde für 10 Minuten das Licht ausgemacht, so dass man die vielen Lichter schön sehen konnte. Eine Psychologin ging abwechselnd zu jedem Kind und animierte es zum Spielen. Tolja wollte sich in diesem Raum fast ausschließlich an der Werkbank zu Schaffen machen. Die Psychologin verbot ihm jedoch, die verschiedenen Holzteile in den Mund zu nehmen, was ihm gar nicht gefiel. Als ein anderes Mädchen mit Tolja spielen wollte, wurde es von der Mama zurechtgewiesen, dass es nur die Hände von Tolja fassen sollte und nicht ihn überall anzufassen habe. Tolja war die gesamte Zeit überwältigt von den vielen Lichtern und Leuten und beobachtete meist das Geschehen. Aufgrund des Zeitmangels setzten die anderen Eltern ihre Kinder hintereinander an jede Fühl-, Spiel- oder Lichtquelle. Nach 30 Minuten wurden wir aufgefordert, den Sensorikraum wieder zu verlassen. Eine Pädagogin wartete auf uns, um die 30minütige „pädagogische Förderung“ durchzuführen. Dort eilten wir sogleich hin. Diese Förderung bestand aus 15 Minuten zwei Trickfilme anschauen (Mascha und der Bär, eine im russischen TV sehr bekannte Kinderserie). Danach wurden den Kindern Fragen zu den beiden Filmen gestellt, die sie beantworten sollten. Danach sollten die Kinder noch ein Frühlingsbild aus Servietten basteln, was den meisten Kindern nicht so gut gelang, weshalb die Mütter dann mehr oder weniger das hübsche Bild gestalteten. Die Kinder, die sich nicht beteiligten, wurden von der Pädagogin ermahnt oder ignoriert. Danach eilten wir zur Musikförderung. Dreißig Minuten wurden die Kinder animiert, mit Rasseln, Tüchern oder Xylophonen Töne zu erzeugen, während die Musiktherapeutin Klavier spielte. Sie sang auch ab und zu und leitete rhythmische Bewegungen mit Händen und Beinen an. Zwischendurch zeigte sie an einem Computer verschiedene Bilder eines Hahnes und es ertönte ein Lied über einen Hahn im Hintergrund der Diashow. Wenn sie nicht ständig das Instrument, das Lied, die Handpuppen oder das Medium gewechselt hätte, wäre es interessant gewesen. Aber auch hier fühlte ich mich getrieben, denn die Dame führte ihr „Programm“ durch und auch sie forderte uns nach 30 Minuten auf, den Raum zu verlassen.
Nach diesen anderthalb Stunden Förderung war ich fix und alle. Kaum saßen wir im Auto fielen Tolja die Augen zu.

Den Stress tun wir uns nicht nochmal an.

Welt-Down-Syndrom-Tag 2013 in Irkutsk

Am 21. März werden wir den ersten Geburtstag von Anatol feiern. Hurra! Gleichzeitig feiert die Welt an diesem Tag schon seit 2006 den Welt-Down-Syndrom-Tag. Menschen mit Down Syndrom möchten an diesem Tag auf sich Aufmerksam machen, es werden zahlreiche Veranstaltungen weltweit durchgeführt, nicht zuletzt, um die durch den PraenaTest vom Aussterben bedrohten Menschen mit DS zu feiern und mit ihren vielen Fähigkeiten und Talenten zu bewundern.

In Sibirien ist Mitte März noch nicht wirklich dazu geeignet, um einen Marathon zu veranstalten oder gar auf der Straße zu tanzen oder zu singen. Denn es ist noch sehr kalt und durch den gerade schmelzenden Schnee gleicht die Stadt einer riesigen schlammigen Mülldeponie. Jedenfalls kein Setting, um sich lange draußen aufzuhalten. Deshalb fanden die Feierlichkeiten auch im Puppentheater statt. Und zwar schon heute, denn am Donnerstag ist das Theater besetzt.

Aufgrund der Dinosauriergrippe konnte ich leider nicht teilnehmen. Habe Anatols Tagesmutti aber mit meinen 100 „Down Syndrom – Na und?“ – Lesezeichen losgeschickt, um diese zu verteilen und Fotos zu machen. Es waren ca. 20 adrett gekleidete Menschen mit DS im Puppentheater, meist Kinder, zusammen mit ihren ebenfalls heraus geputzten Eltern. An den Wänden hingen Alltags-Fotos von Irkutsker Familien, die kleineren Kinder durften gemeinsam ein großes Bild anmalen und eine Gruppe Jugendlicher/Erwachsener führte das Kindertheater «Теремок» auf (ein russisches Volksmärchen, in dem es um einen Stall geht, der von einem Bären zerstört wird und, der schließlich gemeinsam von allen Tieren wieder aufgebaut werden muss). Zudem spielten ein paar Schülerinnen der Irkutsker Waldorfschule Flöte und Schauspieler des Puppentheaters moderierten bzw. spielten die Animateure durch die Veranstaltung.

Ob jemand außerhalb der Irkutsker DS-Community von diesem Tag im Puppentheater erfährt, bleibt ein Rätsel. Bisher habe ich jedenfalls nirgens etwas dazu gelesen.

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