Wenn Aufgeben keine Alternative mehr ist

Wir liefen an einer Bushaltestelle an einem Plakat vorbei. Ich hielt inne, mir liefen kurz die Tränen herunter.
Lili (6): Was ist los Mama?
Ich: Der Mann auf dem Plakat hat Blutkrebs. Wahrscheinlich muss er bald sterben. Daneben steht der Satz „Kennst du das, wenn Aufgeben keine Alternative mehr ist?“. Das hat mich gerade sehr traurig gemacht.
Lili: Was heißt das denn?
Ich: Wenn du es nicht schaffst, die gesamte Strecke mit Fahrrad zu fahren, dann kannst aufgeben, weil du entweder schieben kannst, wir eine Pause machen oder ich dir helfe. Wenn man aber Krebs hat wie der Mann, dann kann man nicht einfach aufgeben und anders weiter machen. Auch helfen kann dann manchmal nicht mal ein Arzt. Man kann nur weiter versuchen gegen den Krebs zu kämpfen.
Lili: Ja, das ist traurig Mama.
Ich: Wenn man ein schlechtes oder trauriges Gefühl hat, dann muss man unbedingt weinen, damit dieses Gefühl raus kommt. Sonst bleibt es im Körper. Ich will nicht, dass meine Traurigkeit im Körper bleibt, deshalb habe ich geweint.
Lili: Aber weißt du Mama, ich verstehe das noch nicht so gut. Ich weiß noch nicht genau, was Blutkrebs bedeutet. Deshalb muss ich nicht weinen. Du bist erwachsen und weißt schon, was das bedeutet. Deshalb weinst du.
Ich: Menschen mit Down Syndrom bekommen öfter Blutkrebs als Menschen ohne Down Syndrom. Deshalb habe ich auch ein bisschen an deinen Bruder gedacht.
Lili: Ich hoffe, dass Anatol kein Blutkrebs bekommt, weil dann muss ich auch weinen. Dann weint ja unsere ganze Familie. Immer, wenn jemand stirbt, weint die ganze Familie.

„Woran merkt man eigentlich, dass man stirbt?“

Schon lange wollte ich etwas zum Buch „Am liebsten bin ich Hamlet“ von Sebastian Urbanski schreiben, das mich sehr beeindruckt hat. Kurz zum Inhalt: Das Buch beginnt mit der Beschreibung seiner Arbeit als Synchron-Sprecher im Film „Mee too“. Hier gab Sebastian Urbanski dem Schauspieler Pablo Pineda eine deutsche Stimme. Dann kommt ein Sprung zurück zu seiner Geburt und wie seine Eltern und Großeltern die Diagnose Down Syndrom erlebten und anschließend damit umgingen. Im Anschluss daran erzählt Urbanski, wie er schwimmen und wie er anhand der Geburts- und Sterbedaten auf den Grabsteinen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin rechnen lernte. Er erzählte von seinem geliebten Kater Poldi und wie er ihn aufgrund einer schlimmen Krankheit verlor. Dann beschreibt er noch seine schwierige Beziehung zu Jessi, einer Frau, die er sehr liebte und die ihn leider zu oft sitzen ließ. Lange Kapitel des Buches widmen sich seiner Schauspielerei und wie intensiv er die Stücke und die Rollen, in die er schlüpft, wahrnimmt.

Am meisten beeindruckte mich seine intensive Beschäftigung mit dem Sterben und dem Körper – inspiriert durch das Theater. Sebastian Urbanski ist ja Schauspieler im Theater Ramba Zamba in Berlin. In verschiedenen Dokumentationen hatte ich Ausschnitte einzelner Theaterstücke gesehen, die zum Teil heftige Themen bearbeiteten. Ich erinnere mich an ein Stück zum Thema Selektion und Pränataldiagnostik, in dem die Schauspieler im Stück Babies nach Brauchbarkeit sortierten. Was nicht perfekt war, wurde weggeschmissen. Seit dem ich das sah, fragte ich mich, wie die Schauspieler des Ramba Zamba-Ensembles mit diesen Themen klar kamen? Selbst auf mich als Mensch ohne Behinderung hatte das so eine starke Wirkung, dass ich nur Weinen musste und kaum damit klar kam. In seinem Buch beschreibt Sebastian Urbanski nun genau diesen Konflikt, den er beim Spielen eines Stückes zur Euthanasie-Thematik empfand:
„[…] Das Stück hatte mich so geschafft, dass ich an die Fahrt nach Hause keine Erinnerung mehr habe. Dort angekommen, ging ich gleich nach oben in mein Zimmer und legte mich so, wie ich war, ins Bett. Schlafen konnte ich aber trotz meiner Erschöpfung nicht. Stattdessen hörte ich die Schreie aus den Einspielungen und sah die Leichenberge, die seitlich projiziert worden waren. Es war grauenhaft. Die abgemagerten, teilweise völlig verrenkten Körper. Das Leid und die Leere, die einem aus tiefen, dunklen AUgenhöhlen entgegenstarrten. Die zerstörten Gesichter.[…] Das setze mir genauso zu wie die Rolle des Desserteurs, in den ich mich so hineingelebt hatte, dass ich dachte, selber mit verbundenen Augen erschossen zu werden.[…] Schließlich hatten wir mit dem Wissen im Hinterkopf auf der Bühne gestanden, im Ernstfall die ersten Opfer zu sein.[…] Mein Vater war aufgebracht und fand, dass mit dieser Inszenierung die Grenze des Erträglichen überschritten worden sei. Zwar solle man das Publikum aufrütteln und warnen, damit sich so etwas wie Krieg und die Vernichtung der Juden nicht wiederhole, aber auch das Publikum, darunter viele Menschen mit Behinderung, sei vollkommen überfordert gewesen. Doch nicht nur sie hatten damals zum Teil die Vorstellung verlassen. Auch andere Zuschauer hielten es nicht mehr aus, uns Schauspieler mit Behinderung jene spielen zu sehen, die unter den Nazis getötet worden wären. Ich stellte es mir vor allem für den Kollegen schlimm vor, der im Rollstuhl sitzt. Aufgrund seiner sichtbaren Behinderung würde man ihn vermutlich als Ersten aussortieren und er könnte sich am wenigsten wehren. Anders als manche geistig behinderte Schauspieler versteht er ja auch alles sehr gut, während mancher von uns nicht immer vollständig erfasst, was auf der Bühne vor sich geht. Ich frage mich noch heute, was er empfand, als ihm einmal bei der Probe, auf den Kopf zugesagt wurde, er würde auf der Todesliste ganz oben stehen. Wie fühlt es sich eigentlich an zu sterben?“

Sebastian Urbanski bekam Albträume, auch die vielen Gespräche mit seinen Eltern halfen nichts. Was ihm in dieser Zeit half, war die Beschäftigung mit dem Körper, den Organen und ihren Funktionen. Ein Buch, das viele Abbildungen hatte, las er immer wieder und nahm es überall mit hin. Mit dem Wissen darüber, wie in seinem Körper was funktioniert, überprüfte er fortan regelmäßig, ob in ihm alles arbeitete: er lauschte seinem Atem, probierte unterschiedlche Atemtechniken aus, untersuchte seinen Puls, hielt sich die Ohren zu, um das Rauschen seines Blutes zu hören. Irgendwann war es dann soweit: er war überzeugt davon, dass er jetzt sterben müsse, dass sein Herz aufhöre zu schlagen. Er bekam Panik, Schweißausbrüche, Angst.
Nachdem die Ärzte bestätigten, dass mit seinem Herzen alles in Ordnung sei, ging es mit ihm wieder bergauf.
Einen kurzen Rückfall brachte die gemeinsame Fahrt zum Konzentrationslager Majdanek.“Schaut euch das an. In diesen Baracken hätte man euch umgebracht.“, hörten die Schauspieler. So etwas hatte Urbanski auf einer DVD von Spiegel-TV schon gesehen. Aber hier, in den niedrigen, düsteren Baracken, wirkte alles noch viel schlimmer. Sie wollten gehen, wurden aber zum Bleiben aufgefordert. „Nein, ihr müsst es euch ansehen. Ihr wärt alle verbrannt worden.“ Obwohl er wußte, dass das alles der Vergangenheit angehörte und nur gezeigt wurde, damit sich dies nicht wiederhole, verstörte es ihn und die anderen der Gruppe sehr. Für seine Eltern grenzte dieser Besuch des KZs an Misshandlung. Sie riefen die Eltern der anderen Schauspieler an. Sebastian Urbanski bekam wieder Albträume. Er hoffte insgeheim, dass sie endlich wieder im Theater an Stücken arbeiteten, die mehr Lebensfreude ausstrahlten und ihn nicht so belasten würden.

Und es kam wirklich so. Es folgten hoffnungsvolle Stücke, auch übernahm er eine Hauptrolle in dem Film „So wie du bist“, bei dessen Dreharbeiten er auch noch enger mit Juliana Götze zusammen arbeiten konnte. Außerdem spielten sie nun Shakespeare und die Rolle des Hamlet wurde das Aufregenste, was Urbanski am Theater je gespielt hatte. Auch zog er in dieser Zeit mit 5 weiteren Leuten in eine WG und Kai Pflaume drehte mit ihm und ein paar anderen Menschen mit Down Syndrom die tolle Doku „Zeig mir deine Welt„, die super beim Fersehpublikum ankam. Das alles machte ihm wieder Mut.

„Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mich „behindert“ oder durch das Down Syndrom beeinträchtigt fühle. Und da kann ich ganz klar sagen: überhaupt nicht! Dass ich das Syndrom habe, wird mir nur dann bewusst, wenn ich meinen Schwerbehindertenausweis vorzeigen muss, zum Beispiel um eine Ermäßigung bei Eintrittdgeldern zu bekommen. Im Ausweis festgehalten ist mein Behinderungsgrad, mehr nicht. Klar ist das Down Syndrom bei Arztbesuchen mal Thema, aber es steht nicht im Vordergrund, weil es eben keine Krankheit ist, obwohl das viele denken. Ich leide nicht am Down Syndrom!“

Urbanski endet sein Buch mit dem Satz: „Das Leben ist zwar nicht immer einfach, aber es ist viel zu schön, um sich von irgendetwas zurückhalten zu lassen.“

Sehr schönes Buch. Toller Mann. Interessantes Leben.

Urbanski, S.: Am liebsten bin ich Hamlet
Fischer Verlag, 2015, 14,99 Euro

Arsch hoch! Inklusion gestalten!

„Inklusion ist doch nur eine leere Worthülse.“, höre ich immer und immer und immer wieder. Von enttäuschten Eltern behinderter Kinder, von enttäuschten Menschen mit Behinderung, von enttäuschten Pädagoginnen und Pädagogen. Ich kann es nicht mehr hören!

Was erwarten diese Menschen eigentlich? Jahrhunderte lang wurden Menschen mit Behinderung als Strafe Gottes gesehen und hauptsächlich als defizitär betrachtet. Lange wurden sie nur nach ihrem medizinischen und/oder gesellschaftlich relevanten Nutzen beurteilt. Es gab eine Zeit, in der sie systematisch in diesem Land, in den Einrichtungen, in denen wir noch immer tagtäglich ein- und ausgehen, diskriminert und getötet wurden. Zudem werden Menschen mit Behinderung in den Medien noch immer gern auf ihre Behinderung reduziert bzw. nur im medizinischen Kontext dargestellt. Das wirkt (nach). Fast alle heutigen Mediziner, Pädagogen, Medien und Behörden haben sich nicht mit der Geschichte ihrer Institution auseinander gesetzt.
Hinzu kommt außerdem, dass die Mehrheit der Mitarbeiter in den oberen Managementebenen der großen Behinderteneinrichtungen kurz vor der Rente sind. Sie haben Einrichtungen aufgebaut, die zu dieser Zeit gewollt und fortschrittlich waren. Sie haben Fördermöglichkeiten und Wohlfühlräume geschaffen. Leider hatten Nichtbehinderte dort oft nichts zu suchen und nun sind die Einrichtungen mühselig damit beschäftigt die homogenen Schonräume zu öffnen und zu mischen. Alle Seiten hätten es so viel bequemer, wenn alles so bleiben würde, wie es ist.

Was erwarten die Menschen? Dass alle ganz bereitwillig ihre eigenen Strukturen auflösen? Dass ihnen von heut auf morgen die Inklusion hübsch verpackt serviert wird und sie nur noch mitmachen brauchen? Erwarten sie, dass jeder Mitmensch weiß, was sie wirklich brauchen und wollen?

Ab gehts! Sag laut, was du willst! Gestalte mit, wo du kannst! Damit das Ganze eben nicht mehr so lange dauert!

Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Selbstbestimmung, Pränataldiagnostik und Abtreibung

Das Recht auf Abtreibung war für mich immer ein selbstverständliches Freiheitsrecht und es ist für mich kaum vorstellbar, dass Frauen in der Bundesrepublik dieses Recht noch gar nicht so lange haben. Bis ich 30 Jahre alt wurde hatte ich für mich entschieden, dass ich abgetrieben hätte wenn ich schwanger geworden wäre. Ich hatte noch Pläne, war nicht bereit für Kinder. Da ich mich entschieden hatte, wäre es mir völlig egal gewesen, ob in meinem Bauch ein Kind mit oder ohne Behinderung oder sonstwas herangewachsen wäre. Ich stellte mein eigenes Leben an erster Stelle, ich wollte frei und unabhängig sein.

Dann bekam ich mit 30 und mit 33 Jahren zwei absolute Wunschkinder. Seit der Geburt unseres zweiten Kindes wird mir nun häufig ein Gespräch über Pränataldiagnostik aufgedrängt. Damit hatte ich mich vorher nie beschäftigt. In den Schwangerschaften kümmerte ich mich nicht darum. Ich machte immer nur die nötisten Untersuchungen, ich brauchte keine Fotos, 3D und tamtam. Ich habe die Kinder nicht in Deutschland bekommen und weiß von daher nicht, inwiefern mir hier pränatale Diagnostik mehr aufgedrängt worden wäre als dort wo ich war; dazu kann ich nichts sagen. Das interessierte mich jedenfalls wenig. Aber ich hatte damals keine bewusste Haltung der Bejahung eines jeden Lebewesens. An die Möglichkeit der Behinderung bei unseren Babies dachte ich zwar, aber diese Gedanken waren eher abstrakt. Meine Ablehnung aller zusätzlichen Tests resultierte aus einem unbeugsamem Optimismus heraus und aus einem starken Glauben an meine eigene Kraft und Intuition. Auch, dass Sascha betonte, er wolle jede „Möhre“ lieb haben, gab mir den Mut, alles einfach auf uns zukommen zu lassen und dann gemeinsam anzupacken.

Da unser zweites Kind Down Syndrom hat, verstärkte sich nach seiner Geburt in meinem Umfeld die Diskussion über Pränataldiagnostik. Bekannte oder Freunde fragten mich plötzlich, ob ich „es“ in der Schwangerschaft schon gewusst oder getestet hatte. Gleichzeitig hatte ich plötzlich mit Leuten aus der Behinderten-Szene zu tun, die Frauen verurteilen, wenn sie ein Kind mit DS abtrieben. Das sei Mord, das sei Selektion, das sei menschenverachtend. „Die Frauen bräuchten dringend mehr Beratung und Aufklärung über das Down Syndrom, dann würden sie nicht alle abtreiben“, hieß es von einigen. Ich fühlte mich immer unwohl bei diesen Diskussionen. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung und auf Abtreibung, dachte ich. Warum also kein Kind mit Behinderung abtreiben? Ich sah diverse Gemeinsamkeiten aber auch Konflikte zwischen der Frauen- und der Behindertenbewegung, konnte sie jedoch nie wirklich fassen.

Und jetzt hat Kirsten Achtelik ein lesenswertes Buch veröffentlicht, in dem sie sich genau mit diesem Problem auseinandersetzt. Das Buch heißt „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ und es machte mir die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Themas erst richtig bewusst. Ich greife hier nur ein paar spannende Gedanken aus dem Buch auf:

Ein entscheidendes Zitat war für mich z.B. das Folgende von Theresia Degener: „Nicht die Frauenbewegung ist für die Zunahme von Humangenetik und pränataler Diagnostik verantwortlich […] . Eine Veränderung der Zustände sei aber nicht durch mehr Fremdbestimmung, also Verbote, zu erreichen, sondern dadurch, dass Betroffene ihre Lage kollektiv zu ändern versuchen.“ (in: Degener/Köbsell (1992): Hauptsache, es ist gesund? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle.)

Interessant fand ich auch, dass Achtelik die immer wieder vorgebrachte Forderung einer Verbesserung und Ausweitung von Beratung als problematisch betrachtet: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Stattdessen sollte vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen. Es folgt der m.E. schönste Satz des Buches: „Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden!“

Im letzten Teil des Buches macht Achtelik einige Vorschläge, was getan werden könne, um der Tendenz zu einer immer weiteren Normalisierung von selektiver Diagnostik und anschließenden Abtreibungen entgegen zu wirken, u.a.: „Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes! Es ist wichtig […] Teilhabe für alle an allem zu ermöglichen und Normen, Vorurteile und Diskurse zu verändern. […] Wir alle sind auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Sowohl Feministinnen als auch Behindertenrechtsaktivistinnen haben ein Interesse daran, diese scheinbar privaten Bedürfnisse zu politisieren und zu einem zentralen Bestandteil gemeinsamer politischer Auseinandersetzungen zu machen.“

Selbstbestimmung ohne Selektion. Tolles Buch! Unbedingt lesen!

Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Verbrecher Verlag Berlin