Die beste Schule für das Kind?

„Ja, schulische Inklusion ist ein Menschenrecht, sie ist wichtig und notwendig, alle sollen gemeinsam lernen können. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Aber ist das wirklich das Beste für Ihr Kind mit Down Syndrom der oder die einzige Schülerin mit einer geistigen Behinderung unter ausschließlich „normal entwickelten“ in der Klasse zu sein?“ Das ist eine Frage, die ich als Mutter eines Kindes mit Down Syndrom von anderen Eltern häufig gestellt bekomme.

Abgesehen davon, dass die Frage anmaßend ist (Ich frage ja auch niemanden, ob sie bei ihrer Schulwahl tatsächlich das Wohl ihres Kindes im Auge haben.), entsteht diese Frage entweder aus einem tiefen Leistungs- und Vergleichsdenken heraus oder aus Mitleid für das arme „benachteiligte“ Kind. Viele Menschen haben ein solches Denken leider verinnerlicht, auch wenn sie es oft nicht bös meinen. Ich habe aber das große Glück, dass ich mich neben all den anfänglichen Sorgen und Ängsten um unseren Sohn, frei machen konnte von diesem schrecklichen Leistungsdenken, von Vergleichen mit anderen Müttern und deren Kindern und von unnötigem Mitleid. Trotzdem trifft mich die Frage natürlich direkt ins Herz. Denn diese Frage stellen sich ja alle Eltern tagtäglich: Was ist das Beste für mein Kind? Und wer weiß das?

Das Leben mit unserem Sohn mit Down Syndrom ist überraschend. Wir wissen nicht, wie er sich weiter entwickeln wird und, was auf uns noch zukommt. Dadurch beobachte ich ihn noch genauer, wie er am besten lernen könnte, wie und was er versteht, wie er sich Abläufe merkt, wie er mit anderen Kindern und Erwachsenen umgeht, wie und wann er lautiert oder sogar einzelne Wörter spricht, was er sagen will, wofür er sich besonders interessiert, was ihn ermüdet usw. Ich weiß noch, wie ich mich bei unserer Tochter gefreut habe als sie mir endlich sagen konnte, was ihr weh tut oder was sie möchte wenn sie weint. Wie sehr genieße ich mittlerweile die Gespräche mit ihr. Wie sehr überraschen mich immer wieder ihre klugen Bemerkungen. Die Beziehung zu unserem Sohn mit Down Syndrom entwickelte sich genauso schön, aber auf einer völlig anderen Ebene. Mit ihm kommuniziere ich viel mehr über Mimik und Gestik. Seine Körperhaltung und seine Augen signalisieren mir, wie es ihm geht. Zudem vergisst er schnell und freut sich über (fast) jedes Angebot. Bricht er gerade noch zutiefst traurig zusammen, weil er kein Eis bekommt, so kann er zwei Minuten später völlig selbstverständlich und glückselig sein Wurstbrot essen als ob gerade nichts gewesen ist. Haute er gerade noch zehn Minuten stinksauer an die Kinderzimmertür, weil die großen Mädchen ihn nicht mitspielen lassen wollen, so puzzlet er kurz darauf angeregt und fröhlich mit mir als ob ihm die Ablehnung der Mädchen völlig unwichtig ist. Wenn er spürt, dass man sich für ihn interessiert, wenn man ihm freundlich begegnet und ihm Angebote macht, dann ist er immer dabei und wirkt auf mich extrem ausgeglichen und zufrieden.

Wenn mich also jemand fragen würde, welche die beste Schulform für unseren Sohn wäre, würde ich demnach antworten: eine mit klaren Strukturen (Rhythmus), mit vielen visuellen Anreizen, in der die Lehrer freundlich auf ihn zugehen, nicht ihr „Programm“ durchziehen, sondern ihm viele Angebote machen und ihn dann selbst entdecken lassen bzw. auf seine Signale reagieren. Wenn man sich auf ihn einlässt, versteht man sehr gut, wofür er sich interessiert und was er weiter lernen möchte. Auch würde ich sagen, dass er enorm von anderen Kindern profitiert, Kinder, die er immitiert, die ihn auf ihre Art motivieren, etwas auch zu können. Eigentlich die basalen Lernvoraussetzungen für jedes Kind. Bei einem Kind mit DS sind diese Voraussetzungen nur ganz besonders deutlich, weil es sich eben nicht „kontrollieren“ kann, sondern diese kindliche Neugierde und Affektsteuerung wahrscheinlich immer behalten wird. Für ein „Funktionieren“ in der Gesellschaft mag das von großem Nachteil sein. Als menschliches Charakteristikum ist es bewunderswert. Vor genervten, gestressten, ignoranten oder sogar böswilligen Mitschülern und Lehrern kann ich unseren Sohn nicht bewahren, weder an der Förderschule noch an der Regelschule. Es geht mir auch nicht um einen Schulabschluss oder darum, ihn mir nicht in einer Werkstatt für Behinderte vorstellen zu können. Keineswegs. Es geht mir einzig und allein darum, dass er glücklich ist und bleibt, egal in welchen Institutionen er sich rumtreibt und wie gut oder, ob er überhaupt irgendwann einmal lesen und schreiben kann. Das Wunderbare bei einem Kind mit einer geistigen Behinderung ist nämlich, dass ich mich als Mutter entspannen kann! Ich habe nicht den Druck, mich dafür verantwortlich zu fühlen, dass das Kind das Abitur schafft und einmal studiert. Ich habe ja nicht einmal den Druck, dass das Kind im Zahlenraum bis 100 dividieren können muss. Das Kind MUSS gar nichts, im Gegenteil. Ich freue mich stattdessen über seine Neugierde, Offenheit und jedes einzelne Wort, das er spricht. Und eine Kindheit ohne Können-müssen ist doch die schönste Kindheit, die man haben kann! Durch ihn habe ich auch im Umgang mit unserer Tochter viel gelernt.

Eine Entscheidung für oder gegen eine Schule bzw. für oder gegen Inklusion ist für mich als Mutter keine theoretische Entscheidung und wenig an pädagogischen Konzepten oder Bedingungen geknüpft. Das Recht des Kindes auf inklusive Beschulung steht für mich zwar an erster Stelle. Derzeit sind aber die praktischen Erfahrungen von vielen Hamburger Eltern von Schülern mit DS sowohl an den Förderschulen als auch in der Inklusion ziemlich unbefriedigend. Ich bin so froh, dass ich jetzt keine Entscheidung treffen muss. Würde unser Sohn dieses Jahr eingeschult, dann wäre mein Schulwahlkriterium wahrscheinlich zuerst ein klares „Wir interessieren uns für Ihr Kind! Lassen Sie es uns gemeinsam angehen!“ In erster Linie wäre mir also wichtig, dass man freundlich ist und sich auf ihn einlassen will. So wenig.

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„Woran merkt man eigentlich, dass man stirbt?“

Schon lange wollte ich etwas zum Buch „Am liebsten bin ich Hamlet“ von Sebastian Urbanski schreiben, das mich sehr beeindruckt hat. Kurz zum Inhalt: Das Buch beginnt mit der Beschreibung seiner Arbeit als Synchron-Sprecher im Film „Mee too“. Hier gab Sebastian Urbanski dem Schauspieler Pablo Pineda eine deutsche Stimme. Dann kommt ein Sprung zurück zu seiner Geburt und wie seine Eltern und Großeltern die Diagnose Down Syndrom erlebten und anschließend damit umgingen. Im Anschluss daran erzählt Urbanski, wie er schwimmen und wie er anhand der Geburts- und Sterbedaten auf den Grabsteinen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin rechnen lernte. Er erzählte von seinem geliebten Kater Poldi und wie er ihn aufgrund einer schlimmen Krankheit verlor. Dann beschreibt er noch seine schwierige Beziehung zu Jessi, einer Frau, die er sehr liebte und die ihn leider zu oft sitzen ließ. Lange Kapitel des Buches widmen sich seiner Schauspielerei und wie intensiv er die Stücke und die Rollen, in die er schlüpft, wahrnimmt.

Am meisten beeindruckte mich seine intensive Beschäftigung mit dem Sterben und dem Körper – inspiriert durch das Theater. Sebastian Urbanski ist ja Schauspieler im Theater Ramba Zamba in Berlin. In verschiedenen Dokumentationen hatte ich Ausschnitte einzelner Theaterstücke gesehen, die zum Teil heftige Themen bearbeiteten. Ich erinnere mich an ein Stück zum Thema Selektion und Pränataldiagnostik, in dem die Schauspieler im Stück Babies nach Brauchbarkeit sortierten. Was nicht perfekt war, wurde weggeschmissen. Seit dem ich das sah, fragte ich mich, wie die Schauspieler des Ramba Zamba-Ensembles mit diesen Themen klar kamen? Selbst auf mich als Mensch ohne Behinderung hatte das so eine starke Wirkung, dass ich nur Weinen musste und kaum damit klar kam. In seinem Buch beschreibt Sebastian Urbanski nun genau diesen Konflikt, den er beim Spielen eines Stückes zur Euthanasie-Thematik empfand:
„[…] Das Stück hatte mich so geschafft, dass ich an die Fahrt nach Hause keine Erinnerung mehr habe. Dort angekommen, ging ich gleich nach oben in mein Zimmer und legte mich so, wie ich war, ins Bett. Schlafen konnte ich aber trotz meiner Erschöpfung nicht. Stattdessen hörte ich die Schreie aus den Einspielungen und sah die Leichenberge, die seitlich projiziert worden waren. Es war grauenhaft. Die abgemagerten, teilweise völlig verrenkten Körper. Das Leid und die Leere, die einem aus tiefen, dunklen AUgenhöhlen entgegenstarrten. Die zerstörten Gesichter.[…] Das setze mir genauso zu wie die Rolle des Desserteurs, in den ich mich so hineingelebt hatte, dass ich dachte, selber mit verbundenen Augen erschossen zu werden.[…] Schließlich hatten wir mit dem Wissen im Hinterkopf auf der Bühne gestanden, im Ernstfall die ersten Opfer zu sein.[…] Mein Vater war aufgebracht und fand, dass mit dieser Inszenierung die Grenze des Erträglichen überschritten worden sei. Zwar solle man das Publikum aufrütteln und warnen, damit sich so etwas wie Krieg und die Vernichtung der Juden nicht wiederhole, aber auch das Publikum, darunter viele Menschen mit Behinderung, sei vollkommen überfordert gewesen. Doch nicht nur sie hatten damals zum Teil die Vorstellung verlassen. Auch andere Zuschauer hielten es nicht mehr aus, uns Schauspieler mit Behinderung jene spielen zu sehen, die unter den Nazis getötet worden wären. Ich stellte es mir vor allem für den Kollegen schlimm vor, der im Rollstuhl sitzt. Aufgrund seiner sichtbaren Behinderung würde man ihn vermutlich als Ersten aussortieren und er könnte sich am wenigsten wehren. Anders als manche geistig behinderte Schauspieler versteht er ja auch alles sehr gut, während mancher von uns nicht immer vollständig erfasst, was auf der Bühne vor sich geht. Ich frage mich noch heute, was er empfand, als ihm einmal bei der Probe, auf den Kopf zugesagt wurde, er würde auf der Todesliste ganz oben stehen. Wie fühlt es sich eigentlich an zu sterben?“

Sebastian Urbanski bekam Albträume, auch die vielen Gespräche mit seinen Eltern halfen nichts. Was ihm in dieser Zeit half, war die Beschäftigung mit dem Körper, den Organen und ihren Funktionen. Ein Buch, das viele Abbildungen hatte, las er immer wieder und nahm es überall mit hin. Mit dem Wissen darüber, wie in seinem Körper was funktioniert, überprüfte er fortan regelmäßig, ob in ihm alles arbeitete: er lauschte seinem Atem, probierte unterschiedlche Atemtechniken aus, untersuchte seinen Puls, hielt sich die Ohren zu, um das Rauschen seines Blutes zu hören. Irgendwann war es dann soweit: er war überzeugt davon, dass er jetzt sterben müsse, dass sein Herz aufhöre zu schlagen. Er bekam Panik, Schweißausbrüche, Angst.
Nachdem die Ärzte bestätigten, dass mit seinem Herzen alles in Ordnung sei, ging es mit ihm wieder bergauf.
Einen kurzen Rückfall brachte die gemeinsame Fahrt zum Konzentrationslager Majdanek.“Schaut euch das an. In diesen Baracken hätte man euch umgebracht.“, hörten die Schauspieler. So etwas hatte Urbanski auf einer DVD von Spiegel-TV schon gesehen. Aber hier, in den niedrigen, düsteren Baracken, wirkte alles noch viel schlimmer. Sie wollten gehen, wurden aber zum Bleiben aufgefordert. „Nein, ihr müsst es euch ansehen. Ihr wärt alle verbrannt worden.“ Obwohl er wußte, dass das alles der Vergangenheit angehörte und nur gezeigt wurde, damit sich dies nicht wiederhole, verstörte es ihn und die anderen der Gruppe sehr. Für seine Eltern grenzte dieser Besuch des KZs an Misshandlung. Sie riefen die Eltern der anderen Schauspieler an. Sebastian Urbanski bekam wieder Albträume. Er hoffte insgeheim, dass sie endlich wieder im Theater an Stücken arbeiteten, die mehr Lebensfreude ausstrahlten und ihn nicht so belasten würden.

Und es kam wirklich so. Es folgten hoffnungsvolle Stücke, auch übernahm er eine Hauptrolle in dem Film „So wie du bist“, bei dessen Dreharbeiten er auch noch enger mit Juliana Götze zusammen arbeiten konnte. Außerdem spielten sie nun Shakespeare und die Rolle des Hamlet wurde das Aufregenste, was Urbanski am Theater je gespielt hatte. Auch zog er in dieser Zeit mit 5 weiteren Leuten in eine WG und Kai Pflaume drehte mit ihm und ein paar anderen Menschen mit Down Syndrom die tolle Doku „Zeig mir deine Welt„, die super beim Fersehpublikum ankam. Das alles machte ihm wieder Mut.

„Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mich „behindert“ oder durch das Down Syndrom beeinträchtigt fühle. Und da kann ich ganz klar sagen: überhaupt nicht! Dass ich das Syndrom habe, wird mir nur dann bewusst, wenn ich meinen Schwerbehindertenausweis vorzeigen muss, zum Beispiel um eine Ermäßigung bei Eintrittdgeldern zu bekommen. Im Ausweis festgehalten ist mein Behinderungsgrad, mehr nicht. Klar ist das Down Syndrom bei Arztbesuchen mal Thema, aber es steht nicht im Vordergrund, weil es eben keine Krankheit ist, obwohl das viele denken. Ich leide nicht am Down Syndrom!“

Urbanski endet sein Buch mit dem Satz: „Das Leben ist zwar nicht immer einfach, aber es ist viel zu schön, um sich von irgendetwas zurückhalten zu lassen.“

Sehr schönes Buch. Toller Mann. Interessantes Leben.

Urbanski, S.: Am liebsten bin ich Hamlet
Fischer Verlag, 2015, 14,99 Euro

Arsch hoch! Inklusion gestalten!

„Inklusion ist doch nur eine leere Worthülse.“, höre ich immer und immer und immer wieder. Von enttäuschten Eltern behinderter Kinder, von enttäuschten Menschen mit Behinderung, von enttäuschten Pädagoginnen und Pädagogen. Ich kann es nicht mehr hören!

Was erwarten diese Menschen eigentlich? Jahrhunderte lang wurden Menschen mit Behinderung als Strafe Gottes gesehen und hauptsächlich als defizitär betrachtet. Lange wurden sie nur nach ihrem medizinischen und/oder gesellschaftlich relevanten Nutzen beurteilt. Es gab eine Zeit, in der sie systematisch in diesem Land, in den Einrichtungen, in denen wir noch immer tagtäglich ein- und ausgehen, diskriminert und getötet wurden. Zudem werden Menschen mit Behinderung in den Medien noch immer gern auf ihre Behinderung reduziert bzw. nur im medizinischen Kontext dargestellt. Das wirkt (nach). Fast alle heutigen Mediziner, Pädagogen, Medien und Behörden haben sich nicht mit der Geschichte ihrer Institution auseinander gesetzt.
Hinzu kommt außerdem, dass die Mehrheit der Mitarbeiter in den oberen Managementebenen der großen Behinderteneinrichtungen kurz vor der Rente sind. Sie haben Einrichtungen aufgebaut, die zu dieser Zeit gewollt und fortschrittlich waren. Sie haben Fördermöglichkeiten und Wohlfühlräume geschaffen. Leider hatten Nichtbehinderte dort oft nichts zu suchen und nun sind die Einrichtungen mühselig damit beschäftigt die homogenen Schonräume zu öffnen und zu mischen. Alle Seiten hätten es so viel bequemer, wenn alles so bleiben würde, wie es ist.

Was erwarten die Menschen? Dass alle ganz bereitwillig ihre eigenen Strukturen auflösen? Dass ihnen von heut auf morgen die Inklusion hübsch verpackt serviert wird und sie nur noch mitmachen brauchen? Erwarten sie, dass jeder Mitmensch weiß, was sie wirklich brauchen und wollen?

Ab gehts! Sag laut, was du willst! Gestalte mit, wo du kannst! Damit das Ganze eben nicht mehr so lange dauert!

Ich bin jetzt bei den Großen!

Im Sommer ist Anatol von der Krippe in den Elementarbereich gewechselt. Was für eine Umstellung! Die Kinder sind alle größer, schneller und geschickter als die „Babies“ in der Krippe. Die großen Kinder sprechen alle, ziehen sich ganz alleine an, gehen alleine aufs Klo und spielen Rollenspiele. Auch laufen sie die gesamte Strecke allein wenn Ausflüge gemacht werden. Sie machen nicht mal mehr Mittagschlaf!
Anatol ist das einzige Kind mit Down Syndrom in der Gruppe und die gleichaltrigen Jungs, mit denen er in der Krippe gespielt hatte, überragen ihn mittlerweile um einen Kopf. Alles ist nun anders und ich hatte wie immer ein bisschen Angst, wie er diesen Gruppenwechsel erlebt und verkraftet. Manchmal würde ich gern den ganzen Tag wie ein kleines Mäuschen auf seiner Schulter sitzen und beobachten, wie der Kindergartentag so verläuft. Er selbst kann ja noch nicht erzählen, wie es war. (Lili konnte zwar immer erzählen, wie es war, hatte es aber trotzdem nie gemacht;) Also bin ich darauf angewiesen, wie die Erzieherinnen Anatols Kita-Erleben einschätzen. Ich vertraue auf ihr Urteil.

Was ich erlebe ist, dass Anatol sich morgens freut in die Kita zu gehen. Er rennt häufig in die Gruppe und ich muss um das Abschiedsküsschen extra bitten, sonst wär er sofort weg. Ich erlebe auch, dass die anderen Kinder immer rufen „Da kommt Tolja!“ und sich freuen. Wenn ich ihn am Nachmittag abhole, dann spielt er meist allein im Sandkasten und sobald er mich sieht, rennt er mir entgegen. Bisher haben die Erzieherinnen immer berichtet, dass er sich in der Gruppe wohl fühlt und, dass den anderen Kindern im Morgenkreis sofort auffällt, wenn Anatol mal fehlt.

Was braucht Anatol als Junge mit DS, was andere Kinder in der Gruppe nicht brauchen?

Zunächst bekommt Anatol aufgrund seiner Behinderung einen Kita-Gutschein mit Zuschlagstufe 1 (Eingliederungshilfe bis zu 8 Stunden). Damit erhält die Kita monatlich 1808 Euro für seine Betreuung. Die Zuschlagstufen sind abhängig vom Betreuungs- und Therapie-Bedarf des Kindes. Dieser Bedarf wurde vom Jugendpsychiatrischen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg festgestellt. Meines Wissens bekommen Kinder mit DS in Hamburg fast alle die Zuschlagstufe 1 in der Kita. Der Bedarf geht bis zur Zuschlagstufe 5 bei sehr hohem Betreuungs- und Therapiebedarf. Die Kita muss dann selbst entscheiden, wie dieses Geld sinnvoll im Sinne des Kindes eingesetzt wird.

In Anatols Gruppe ist eine Heilerzieherin und eine Erzieherin. Beide kümmern sich um alle Kinder in der Gruppe. Anatol bekommt keine Extra-Betreuung im Sinne einer persönlichen Begleitung. Das finde ich auch in Ordnung. Er braucht aber noch Hilfe in verschiedenen Alltagssituationen: Wickeln, Anziehen, Kinderwagen bei Ausflügen, Unterstützung bei feinmotorischen Angeboten, Stillsitzen lernen und bei der Gruppe bleiben bzw. nicht einfach Abhauen.
Außerdem haben wir zusammen mit den Erzieherinnen beobachtet, dass Anatol ohne Mittagschlaf den Tag nicht übersteht. Deshalb hat die Kita-Leitung in ihrem Büro eine Schlaf-Ecke eingerichtet, in der Anatol täglich seinen Mittagschlaf machen kann.

Zum therapeutischen Bedarf: zusammen mit der Physiotherapeutin haben wir entschieden, dass Anatol keine Physiotherapie mehr braucht. Deshalb machen wir nur noch zweimal pro Woche Logopädie. Die Logopädin kommt zu ihm in die Kita. Dort gibt es noch einige andere Kinder, die Sprachtherapie bekommen. Sie schreibt mir in ein kleines Heftchen, was sie zusammen gemacht haben. Anatol spricht ja noch nicht. Da er der Einzige ist, der im Morgenkreis am Montag nicht erzählen kann, was er am Wochenende gemacht hat, haben wir einen BigPoint gekauft. Auf dieses Gerät kann eine 30sekündige Botschaft aufgenommen werden, die das Kind dann selbstständig abspielen kann. Andere Eltern von Kindern mit DS haben mir berichtet, dass sie das mit einem kleinen Fotoalbum gemacht haben. Diese Variante werden wir auch angehen, wenn er ein bisschen mehr spricht und dazu ein paar Worte selbst sagen kann. Solange das aber nicht der Fall ist, spricht seine Schwester auf den BigPoint. Sie macht das super. Letztes Wochenende sprach sie auf das Gerät: „Anatol ist mit seiner Feuerwehr gefahren und dann hat er mit Papa aus dem Fenster geguckt. Am Sonntag hatte er dann Besuch von Frederick. Der Kleine hat auch eine Behinderung.“ Das sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit wie sie wohl nur Geschwister von behinderten Kindern sagen können. Ich fand das großartig.
Erstaunlich finde ich auch, dass Anatol durch den Gruppenwechsel häufiger Worte wiederholt. Die sprechende Umgebung scheint ihm sehr gut zu tun. Verstehen tut er ja schon ausgezeichnet.

Dann haben wir in der Kita noch zwei Dinge gemacht, die mir wichtig waren. Zum einen hatten wir Anfang des Sommers Birte Müller eingeladen. Sie hat ihr Buch „Planet Willi“ vorgestellt und von ihrem Sohn mit Down Syndrom erzählt. Sie macht das sehr kindgerecht und witzig, so dass alle Kinder und Erzieher total begeistert von ihr waren.
Außerdem habe ich im Anschluss eines Elternabends allen Eltern angeboten, ein wenig über das Down Syndrom zu erzählen. Das war freiwillig und ich war erstaunt, wie viele Eltern sich dafür interessierten. Ich merkte plötzlich, dass viele Eltern, die ich schon seit zwei Jahren kenne, sich zum Teil nicht trauten, mir Fragen zum Down Syndrom zu stellen. Jetzt hatten sie die Gelegenheit und das war ganz gut so.

Nun bin ich gespannt, ob Anatol tatsächlch Spielkameraden oder Freunde im Elementarbereich findet. Er ist jetzt 3 1/2 Jahre alt. Bei Liljana hat es glaube ich erst mit 4 oder sogar 5 Jahren begonnen, dass sie festere Freundinnen hatte. Wir haben viel Zeit.

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Selbstbestimmung, Pränataldiagnostik und Abtreibung

Das Recht auf Abtreibung war für mich immer ein selbstverständliches Freiheitsrecht und es ist für mich kaum vorstellbar, dass Frauen in der Bundesrepublik dieses Recht noch gar nicht so lange haben. Bis ich 30 Jahre alt wurde hatte ich für mich entschieden, dass ich abgetrieben hätte wenn ich schwanger geworden wäre. Ich hatte noch Pläne, war nicht bereit für Kinder. Da ich mich entschieden hatte, wäre es mir völlig egal gewesen, ob in meinem Bauch ein Kind mit oder ohne Behinderung oder sonstwas herangewachsen wäre. Ich stellte mein eigenes Leben an erster Stelle, ich wollte frei und unabhängig sein.

Dann bekam ich mit 30 und mit 33 Jahren zwei absolute Wunschkinder. Seit der Geburt unseres zweiten Kindes wird mir nun häufig ein Gespräch über Pränataldiagnostik aufgedrängt. Damit hatte ich mich vorher nie beschäftigt. In den Schwangerschaften kümmerte ich mich nicht darum. Ich machte immer nur die nötisten Untersuchungen, ich brauchte keine Fotos, 3D und tamtam. Ich habe die Kinder nicht in Deutschland bekommen und weiß von daher nicht, inwiefern mir hier pränatale Diagnostik mehr aufgedrängt worden wäre als dort wo ich war; dazu kann ich nichts sagen. Das interessierte mich jedenfalls wenig. Aber ich hatte damals keine bewusste Haltung der Bejahung eines jeden Lebewesens. An die Möglichkeit der Behinderung bei unseren Babies dachte ich zwar, aber diese Gedanken waren eher abstrakt. Meine Ablehnung aller zusätzlichen Tests resultierte aus einem unbeugsamem Optimismus heraus und aus einem starken Glauben an meine eigene Kraft und Intuition. Auch, dass Sascha betonte, er wolle jede „Möhre“ lieb haben, gab mir den Mut, alles einfach auf uns zukommen zu lassen und dann gemeinsam anzupacken.

Da unser zweites Kind Down Syndrom hat, verstärkte sich nach seiner Geburt in meinem Umfeld die Diskussion über Pränataldiagnostik. Bekannte oder Freunde fragten mich plötzlich, ob ich „es“ in der Schwangerschaft schon gewusst oder getestet hatte. Gleichzeitig hatte ich plötzlich mit Leuten aus der Behinderten-Szene zu tun, die Frauen verurteilen, wenn sie ein Kind mit DS abtrieben. Das sei Mord, das sei Selektion, das sei menschenverachtend. „Die Frauen bräuchten dringend mehr Beratung und Aufklärung über das Down Syndrom, dann würden sie nicht alle abtreiben“, hieß es von einigen. Ich fühlte mich immer unwohl bei diesen Diskussionen. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung und auf Abtreibung, dachte ich. Warum also kein Kind mit Behinderung abtreiben? Ich sah diverse Gemeinsamkeiten aber auch Konflikte zwischen der Frauen- und der Behindertenbewegung, konnte sie jedoch nie wirklich fassen.

Und jetzt hat Kirsten Achtelik ein lesenswertes Buch veröffentlicht, in dem sie sich genau mit diesem Problem auseinandersetzt. Das Buch heißt „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ und es machte mir die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Themas erst richtig bewusst. Ich greife hier nur ein paar spannende Gedanken aus dem Buch auf:

Ein entscheidendes Zitat war für mich z.B. das Folgende von Theresia Degener: „Nicht die Frauenbewegung ist für die Zunahme von Humangenetik und pränataler Diagnostik verantwortlich […] . Eine Veränderung der Zustände sei aber nicht durch mehr Fremdbestimmung, also Verbote, zu erreichen, sondern dadurch, dass Betroffene ihre Lage kollektiv zu ändern versuchen.“ (in: Degener/Köbsell (1992): Hauptsache, es ist gesund? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle.)

Interessant fand ich auch, dass Achtelik die immer wieder vorgebrachte Forderung einer Verbesserung und Ausweitung von Beratung als problematisch betrachtet: „Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies einen enormen moralischen Druck auf Schwangere aus statt sie zu unterstützen.“ Stattdessen sollte vor jeder pränatalen Diagnostik psychosoziale Beratung stattfinden, mit deren Hilfe die Schwangeren ganz am Anfang der Schwangerschaft herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen. Es folgt der m.E. schönste Satz des Buches: „Das Recht auf Nichtwissen kann heute nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden!“

Im letzten Teil des Buches macht Achtelik einige Vorschläge, was getan werden könne, um der Tendenz zu einer immer weiteren Normalisierung von selektiver Diagnostik und anschließenden Abtreibungen entgegen zu wirken, u.a.: „Wenn die Mehrfachbelastungen sowie gesellschaftliche und eigene Perfektionserwartungen Schwangere dazu bringen, sich ein möglichst pflegeleichtes Kind zu wünschen, kann unsere Antwort nur sein: Umsturz aller Verhältnisse, in denen wir, unsere Lieben und alle anderen pflegeleicht sein müssen! Für ein Zulassen von Schwäche, Ambivalenzen, Unlust und Kaputtheit! Gegen die Idee der perfekten, strahlenden, immer einsatzbereiten Mutter! Gegen die Illusion des gesunden, perfekten, talentierten, superschlauen und immer freundlichen Kindes! Es ist wichtig […] Teilhabe für alle an allem zu ermöglichen und Normen, Vorurteile und Diskurse zu verändern. […] Wir alle sind auf Pflege und Fürsorge angewiesen. Sowohl Feministinnen als auch Behindertenrechtsaktivistinnen haben ein Interesse daran, diese scheinbar privaten Bedürfnisse zu politisieren und zu einem zentralen Bestandteil gemeinsamer politischer Auseinandersetzungen zu machen.“

Selbstbestimmung ohne Selektion. Tolles Buch! Unbedingt lesen!

Achtelik, Kirsten (2015): Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Verbrecher Verlag Berlin

Dilemma Dankbarkeit

Ich empfehle jedem unbedingt das neue Buch von Udo Sierck und Nati Radtke „Dilemma Dankbarkeit„. Es ist einfach großartig. Es geht hierin um die antrainierte Rolle von vielen behinderten Menschen, „brav, dankbar und ein bisschen doof“ zu sein/bleiben. Der Zeitgeist lautet: Sei zufrieden mit dem, was du hast. „Dieser Aspekt des Zeitgeistes fordert die Renaissance der Demut“, heisst es im Klappentext.

Die beiden Autoren, die seit vielen Jahren in der politischen Behindertenbewegung aktiv sind, meinen, dass Behinderte mehr denn je als Dankbarkeits-Apostel gelten, die der Aufwertung jener dienen, die sich mit ihnen abgeben.

Das Buch nähert sich dem Phänomen Dankbarkeit historisch und aktuell aus verschiedenen Perspektiven: Dankbarkeit in Philosophie und Literatur, Dankbarkeit als christliches Rituale, Dankbarkeit und Esoterik, Dankbarkeit kontra Emanzipation, Dankbarkeit und Wissenschaft sowie Dankbarkeit und Gerechtigkeit.

An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel aus dem Kapitel ‚Dankbarkeit als christliches Ritual‘ zitieren: Die Schriftstellerin Christa Schlett beschreibt ironisch distanziert ihre Erfahrungen mit christlicher Nächstenliebe: „Wenn ich mein Leben betrachte, so sind es bald 24 Jahre, die ich damit verbrachte, erst Behinderter zu sein und dann erst Mensch. Das hört sich hart an und ein wenig bitter aber man macht so seine Erfahrungen: Als ‚Nehmender‘ sei man doch immer wieder zu unterwürfiger Dankbarkeit und Katzbuckedienerei verurteilt. Erklärte mir vor wenigen Wochen doch erst wieder ein Verwandter mit gerechtem Ernst, dass wohl jedermann in den sogenannten Himmel komme, welcher an meiner Person Christenpflicht übe. Ja, nun weiß ich endlich, zu was ich in der Welt nützlich bin. Ist es nicht eine feine Sache, wenn man so vielen Menschen zur Seligkeit verhelfen kann…?“ [aus: Schlett, Chr.: …Krüppel sein dagegen sehr. Wuppertal 1970. zit.in: Ernst Klee, Behindertenreport, Frankfurt a.M.]

Wunderbar nachvollziehbar ist für mich das Kapitel ‚Dankbarkeit und Esoterik‘, denn es beschreibt mehrere Phänomene, die ich derzeit beobachte und noch nicht ordnen konnte. Zum Beispiel der allgegenwärtige Trend der Ratgeberliteratur, die nicht selten mit einer Behauptung beginnen, die bedenkenlos bekanntes sozialdarwinistisches Gedankengut „für ein Leben in Fülle“ aufgreift. Dankbarkeit, heißt es da, „sei ganz wichtig in unserem Leben; tiefe Dankbarkeit schafft innere Zufriedenheit und ein starkes Immunsystem – denn in einem gesunden Körper befindet sich ein gesunder Geist.“ Dazu führen Sierck und Radtdke einen Sinnspruch an, der Behinderung als Abschreckungsmodell nutzt: „Ich weinte, dass ich keine Schuhe mehr hatte, bis ich jemanden traf, der keine Füße mehr hatte.“

Dankbarkeit gilt einerseits als positives Lebensgefühl, andererseits kann sie in Selbsterniedrigung enden. Die Autoren fordern mit dem Buch die Reflexion über das Dilemma der Dankbarkeit.

Nati Radtke / Udo Sierck
Dilemma Dankbarkeit
ISBN 978-3-940865-92-2 I 2015
148 Seiten I 16 €

Behinderung ist kein schweres Schicksal!

Da schickte mir also eine Freundin den link zu einem facebook-Post von Veit Lindau, einem dieser „Lebe bewußter!- Gurus“, die ihre Weisheiten in banalen Lebenssprüchen von sich geben, für die sie tagtäglich über hunderttausend Likes bekommen und deren Bücher in Deutschland weggehen wie warme Semmeln. In diesem Fall teilte Herr Lindau mit allen Facebook-Fans sein Toilettenerlebnis mit einem Vater und seinem behinderten Kind:
„Gerade habe ich auf einer öffentlichen Toilette beobachtet, wie ein Vater seinem ca. 18jährigem gehandicapten Sohn auf eine berührende und zarte Weise half. Ich musste an all die Träume denken, die er als Vater vor der Geburt seines Sohnes wahrscheinlich hatte und die er hingeben musste, weil das Leben es anders wollte. Gerade eben fühle ich einen tiefen und stillen Respekt für all die Menschen da draußen, die ihren in irgendeiner Form gehandicapten Kindern und Angehörigen dienen – jeden Tag. Was ihr an selbstloser Liebe in die Welt bringt ist so, so, so kostbar. Ich verneige mich aufrichtig.“

114000 Likes. Wahnsinn.

Ich antworte meiner Freundin daraufhin:
Liebe […], ich freue mich wenn du ab und zu an mich denkst. Meine Träume die ich vor Anatols Geburt hatte, kann ich aber auch ganz gut MIT ihm verwirklichen. Ich teile auch nicht die Vorstellung, dass man einem behinderten Angehörigen sein Leben lang „dient“. Sicherlich mag das bei schwerst mehrfach behinderten Kindern noch etwas anderes sein als beim Down Syndrom. Das weiß ich nicht. Menschen, die behinderten Angehörigen in Situationen helfen, die sie nicht allein schaffen, sind für mich keine Helden, sondern ganz normale Leute. Eventuell können manche einige Dinge nicht mehr tun oder haben weniger Zeit dazu. Dafür gewinnen sie aber auch ganz viel dazu. Erst durch den behinderten Angehörigen lernen sie häufig sehr nette Leute kennen, neue Aktivitäten auszuprobieren, teilen ihre Zeit manchmal besser ein und leben ab und zu ein bisschen aufmerksamer. Sie setzen sich oft etwas mehr mit bestimmten Themen auseinander und haben deshalb oft einen anderen Umgang mit Behinderung entwickelt: für viele ist Behinderung etwas völlig Normales, also weder Schlimmes noch Großartiges, weder etwas Heldenhaftes noch etwas Minderwertiges. Wenn man sich vor ihnen „aufrichtig verneigt“ kommt das eher wie Mitleid rüber. Lieben Gruß, […]

Erinnert hat mich das auch an die wunderbare TED-Speech von Stella Young, die mit der Glasknochenkrankheit geboren wurde und den Begriff „Inspiration Porn“ bekannt gemacht hat, in der sie sagte „I’m not your inspiration, thank you very much.“.

Hm. Natürlich meinen Mitmenschen, die dieses tiefe Mitleid mit oder diesen Respekt vor Behinderten oder ihren Angehörigen empfinden, es wirklich ernst. Sie wollen einem damit etwas Gutes tun, etwas Nettes sagen, Empathie zeigen, Anteilnahme aussprechen usw. Noch immer weiß ich nicht, wie ich darauf reagieren soll. Denn ich brauche das nicht und finde das ziemlich doof. Weiß aber, dass viele Behinderte oder Angehörige von Behinderten das sehr wohl brauchen. Außerdem brauchen das wahrscheinlich die Leute selbst, die dieses tiefe Mitleid haben, weil sie sich in dieser Form mit diesem Thema erst einmal auseinandersetzen.

Ähnlich unverständlich bleibt mir das folgende vergleichbare und ebenfalls sehr verbreitete Phänomen: am 26. April wird z.B. auf ARD der Beitrag „Sophie findet ihren Weg“ gezeigt. Hier wird das Leben eines 20-jährigen Mädchens mit Down Syndrom vorgestellt. 2006 gab es schon einmal eine Reportage über dieses damals 6jährige Mädchen, die man sich in der Mediathek anschauen kann. Sophies Mutter beschrieb damals ihre Tochter als „göttliches Geschenk“, als Aufgabe, die ihr Gott mit auf den Weg gegeben hat. Bei solchen Äußerungen stehen mir auch immer die Häärchen zu Berge. Es wird hier von einem schweren Schicksal ausgegangen, das einen getroffen hat und das man bewältigt, indem man es als gottgewollte Lebensaufgabe ansieht, die nur „auserwählten, starken Eltern“ auferlegt wird und die letztendlich ihren tiefen Sinn irgendwann haben wird.

Es gibt scheinbar wirklich sehr wenig Behinderte und sehr wenig Angehörige, die diesen Schicksals-Unsinn nicht glauben. Wenige auch, die dieses weit verbreitete, romantische Mitleids-Gedöns ziemlich nervt.

Mich nervt es. Menschen mit Behinderung sind für mich ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und nichts Besonderes. Sie wollen nicht gleich behandelt werden wie alle, sondern die gleichen Rechte wie alle. Auch Menschen mit Behinderung oder ihre Angehörigen können Arschlöcher sein. Eine Behinderung ist kein schweres Schicksal. Stattdessen ist eine schwerst mehrfach behindernde Umgebung unerträglich.

*update:

Gerade habe ich erfahren, dass Veit Lindau nun auch noch ein Buch („Zauberbuch“) mit den Bildern der behinderten „Engelein“ plant, die derzeit tausende von Eltern stolz unter seinen facebook-Post als Kommentar hoch laden. Der Erlös des Buches soll gespendet werden, damit man dem Vorzeige-Geschäftsmann nicht vorwerfen kann, er wolle mit dieser „kreativen Idee“ jetzt ordentlich Kohle machen. Macht er trotzdem damit. Und das tatsächlich so unglaublich viele Eltern bereit sind, ihre Kinder als Aushängeschild für eine gute moralische Aktion des verherrlichten Gurus zu missbrauchen, macht mich sprachlos. In einem der wenigen kritischen Kommentare auf facebook heißt es: „Ich kann mir natürlich vorstellen, dass es für die Eltern schön ist und ein Gefühl gesehen zu werden. Aber das was ich sehe ist ein Gewinn-orientierter Typ der versucht, an jeder Straßenecke und auf jedem öffentlichen Klo ’n Euro zu machen.“ Oder auch dieser Kommentar: „Leute, welche mir erzählen wie toll ich was eigentlich total Normales mache, unterstellen mir dadurch, dass mein Leben erstmal grundsätzlich weniger gut wäre als von jemandem ohne Einschränkung und ich das dadurch, dass ich das „alles so toll mache“ erstmal kompensieren müsste. Diese Dreistigkeit nervt mich!“

Die Auswirkungen der Schulreform auf die Inklusion in Hamburg

Im Oktober 2009 wurde durch die Hamburgische Bürgerschaft eine Schulreform beschlossen. Ein Teil der Reform sah vor, statt der bisherigen vierjährigen Grundschule eine sechsjährige Primarschule in HH einzuführen. Seit Jahren schon sprechen sich Bildungsforscher für ein längeres gemeinsames Lernen und gegen das frühe Aussortieren von Kindern aus. Eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre wäre ein wichtiger Schritt für die Chancengleichheit im Hamburger Bildungssystem und damit für Inklusion gewesen.

Doch durch einen Volksentscheid am 18. Juli 2010 wurde die geplante sechsjährige Primarschule aufgehoben. Die vierjährige Grundschule blieb bestehen. Walter Scheuerl schaffte es mit der Initiative „Wir Wollen Lernen“ über 180.000 Unterschriften gegen das verlängerte gemeinsame Lernen zu sammeln. Eltern sollten weiterhin das Recht haben, ihre Kinder so früh wie möglich auf ein Gymnasium zu schicken. Ein weiterer Beweis dafür, dass das Elternwahlrecht für eine umfassende Entwicklung inklusiver Schulstrukturen auch hinderlich sein kann.

Welches waren die Argumente einiger Eltern, die sich der Initiative Wir Wollen Lernen (WWL) damals anschlossen und für den Erhalt der vierjährigen Grundschulzeit kämpften? Während einer Befragung wurden damals folgende Meinungen geäußert:

„Wir sind für ein leistungsorientiertes Schulsystem!“
„Wir sind davon überzeugt, dass gute Schüler nicht von schlechten oder mittleren Schülern profitieren.“
„Dass ein Kind eines Vorstandsvorsitzenden mit einem Arbeiterkind nachmittags miteinander spielt und davon profitiert, mag vielleicht manchmal funktionieren, aber in der Regel wird das nicht der Fall sein.“
„Man muss nicht die sozial Bevorteilten benachteiligen, um die sozial Schwächeren zu bevorteilen.“
„Wir haben in den 1980er Jahren systematisch ein akademisches Proletariat heran gezüchtet, das für die wissenschaftliche Laufbahn und für eine gehobene akademische Laufbahn gar nicht fähig ist.“

Vollkommen absurd erscheint, dass Einige die Initiative WWL und damit die vierjährige Grundschule aufgrund einer besseren Chancengleichheit, Bildungsvielfalt und Freiheit unterstützten. Augenscheinlich geht es bei einer früheren Selektierung nur um erwartete Bildungsvorteile für diejenigen, die am Gymnasium lernen (sollen).

Menschen, die sich als gesellschaftliche Elite empfinden, leiten daraus vor allem Rechte für sich selbst ab, sagte der Elite-Forscher Michael Hartmann in der ARD-Sendung panorama zum Hamburger Schulstreit. Sie hätten das Recht auf höheres Einkommen oder das Recht auf bessere Bildung. Dass tausenden Kindern ihr Lebensweg immens erschwert wird, spielt für sie keine Rolle. In seinem Dossier „Deutsche Eliten: Die wahre Parallelgesellschaft“ beschreibt Hartmann, dass jene Personen häufig ein Charakteristikum eint: die verinnerlichte und akzeptierte Ungleichbehandlung von Menschen. Ulrike Winkelmann forderte 2010 in der Wochenzeitung freitag diese Eliten sogar auf, sich endlich zu integrieren.

Die Eliten anstelle der „Schmuddelkinder und Behinderten“ hätten ein Recht auf bessere Bildung, weil sie es sich hart erarbeitet hätten, so ihre Logik. Ihre eigenen Leistungen werden meist hochstilisiert. Ein Beispiel ist die Aussage des langjährigen Vorstands- und jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden und Erben des Otto-Konzerns Michael Otto in einem Gespräch mit Kevin Costner im „Manager Magazin“ im November 2011. Hierin verglich er seine Karriere mit der des Schauspielers als Selfmademan, der „ein mittelständisches Unternehmen zu einer großen Unternehmensgruppe weiterentwickelt“ habe. Das „mittelständische Unternehmen“, dessen Leitung er 1981 als Vorstandschef übernahm, hatte aber schon Ende der 1970er Jahre einen Umsatz von deutlich über drei Milliarden Euro und mehr als 11.000 Beschäftigte. Damit zählte es zu den 100 größten Konzernen Deutschlands. Michael Ottos Aussage zeigt, wie tief verwurzelt der Glaube an die eigene Leistung als Grundlage des verfügbaren familiären Reichtums ist. Selbst Milliardenvermögen werden als Resultat eigener Leistung begriffen.
Unbestritten verschafft die familiäre Herkunft spürbare Vorteile, das Leistungsprinzip sollte aber unbedingt infrage gestellt werden.

Der Hamburger Volksentscheid zeigte, wie das deutsche Bürgertum mittels Einfluss, Geld und Macht ihre Pfründe verteidigt. Der Bildungsforscher Rösner sagte dazu, sie hätten Angst, dass ihren Kindern durch Konkurrenz aus Aufsteigerfamilien der Weg zu den attraktiven beruflichen Positionen erschwert werde. „Wenn sich mehr um die Fleischtöpfe drängen, ist nicht mehr gesichert, dass der eigene Sohn oder die eigene Tochter satt wird.“ Zuvor (2008) war das Volksbegehren der Initiative „Eine Schule für alle“ in Hamburg gescheitert.

Und auch heute, sechs Jahre später im Februar 2015, droht Scheuerl mit der erneuten Mobilisierung des „Volkes“. Die körperlich behinderten Schüler, so Scheuerl im Abendblatt, könne man auf den Gymnasien gern integrieren, aber nicht die Anderen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ein Kind mit Down Syndrom z.B. senke doch eindeutig das Niveau der Klasse und bremse den Lernprozess. Viele Beispiele zeigen jedoch, dass das nicht sein muss.

Implizit stellt Scheuerls Antibildungsinitiative die Frage „Was können Kinder von einem Flüchtlingskind oder einem geistig behinderten Kind schon lernen?“
Wie wäre es mit Gerechtigkeitssinn, Hilfsbereitschaft, Lebensfreude, Weltwissen, Sprachkenntnissen, Perspektivenvielfalt, mit der Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft und dem Respekt gegenüber jedem einzelnen Bürger, mit der Bereitschaft zu Entwicklung und Innovation und damit, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen? Alles Werte, die im leistungsorientierten Erziehungsverständnis von Scheuerl und Co. keine Rolle spielen. Zum Glück bleibt er der Bürgerschaft in der kommenden Legislaturperiode erspart. Hamburgs Schullandschaft braucht dringend positive Entwicklung und keine erzkonservativen Stänkerer.

Ein wichtiger Schritt zum gemeinsamen Lernen wurde durch Scheuerl und Co. verhindert. Sicherlich wirkt auch noch ihre schmutzige Öffentlichkeitsarbeit nach, die vor fünf Jahren die Hamburger Schulbehörde verunsicherte.

Ein weiterer Rückschlag für die Inklusion in Hamburg war im Rahmen der Schulreform der Beschluss der Abschaffung der Integrationsklassen, mit der ein langjährig erfolgreiches und deutschlandweit gelobtes Modell gekippt wurde. Statt der Integrationsklassen und integrativen Regelklassen sollte flächendeckend Inklusion stattfinden. Dies war nicht genug durchdacht. Die Probleme häuften sich. Man versuchte wieder die Kompetenzen zu bündeln, indem man sogenannte Schwerpunktschulen festlegte. Diese versuchten dann mit viel weniger Ressourcen das anzubieten, was sie damals im Intergrationsklassen-Modell konnten. Zudem gab es in den letzten Jahren auch noch eine falsche Berechnung der Ressourcen für die Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Sprache und Emotionale Entwicklung, mit denen Hamburger Schulen zusätzlich überfordert waren.

Diese Entwicklungen führten letztendlich dazu, dass immer mehr Eltern von Kindern mit speziellem Förderbedarf wie Sehen, Hören, Geistige oder Motorische Entwicklung und Autismus ihre Kinder aus den Regelschulen raus nahmen und sich bei der Wahl einer weiterführenden Schule für eine Sonderschule entscheiden mussten, weil sich die Lernbedingungen für ihr Kind an Regelschulen verschlechterten. Auch Eltern von Kita-Kindern mit Behinderung wurden verstärkt verunsichert durch diese Entwicklung und entschieden sich deshalb bei der Einschulung gleich für die Sonderschule. Ein sehr trauriger Rückschritt für inklusives Lernen in Hamburg.

Seit 2008 wurden systematisch eine Reihe von Möglichkeiten für die Entwicklung von inklusiven Strukturen in Hamburgs Schulen verschenkt bzw. bewusst verhindert. Kein Wunder, dass die Inklusion derzeit von vielen Beteiligten abgelehnt wird.

Coole Muddis

Nach der Geburt eines Kindes mit Behinderung heißt es ja immer wieder, dass man sich andere Mütter suchen soll, die auch ein behindertes Kind haben. Dass ich jedoch mit vielen Eltern von behinderten Kindern absolut keine Identifikationsmomente habe, merkte ich schnell und darüber habe ich ja auch hier im Blog schon öfter mal geschrieben.

Erst jetzt lerne ich nach und nach im Web (und in real life!) Mütter kennen, die ich absolut mag und die ich vermutlich ohne unser Kind niemals kennen gelernt hätte und mit denen ich durchaus etwas teile, das ich noch nicht in Worte fassen kann. Wie z.B. Kerrin, die gestern genau das aussprach und auch das Gefühl äußerte, dass es jetzt eine andere Generation von Eltern gibt, die die Geburt ihres behinderten Kindes nicht mehr als DAS traumatische Ereignis erlebt haben, an dem sie bis zu ihrem Lebensende zu knabbern haben. Sondern Eltern, die heute damit entspannter und selbstbewusster umgehen können, die die Behinderung viel offener thematisieren können und deshalb eine ganz andere Energie und Kraft entwickeln, sich für die Rechte auf bedingungslose Teilhabe ihrer Kinder einzusetzen als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Das wäre eine große Chance für die Inklusion. Diese Worte haben mich total motiviert. Es gibt sie doch. Die Eltern behinderter Kinder, die cool sind und die Spaß machen. Und mit denen man zusammen ins Rathaus marschieren will. Hach. Seufz. Schön.