Was, wenn er kein Pablo Pineda wird?

Gleich nach der Geburt unseres Sohnes haben mich die Fotos von Conny Wenk total aufgebaut. Zu dieser Zeit waren genau diese Fotos genau das, was ich brauchte. Sie haben mir mehr Mut gemacht als jeder Blog-Text. Immer wieder schaute ich sie mir an. Auch überlegte ich, ob ich mir nicht einen ihrer Kalender kaufe. Sascha wollte so einen Kalender aber nicht. Er fand es schon damals komisch, sich Down Syndrom- Kinder an die Wand zu hängen. Nicht, weil sie nicht hübsch oder niedlich waren, sondern, weil er einfach keinen Kinderfoto-Kalender wollte. Und dann auch noch alles Kindern mit Down Syndrom. Das war ihm ein wenig zuviel Kitsch. Mittlerweile habe ich auch einen etwas anderen Blick auf diese Fotos. Heute frage ich mich immer wieder, warum die Schönheit des Kindes so wichtig ist? Was, wenn mein Kind mit Down Syndrom nicht so cool aussieht wie die auf Conny Wenks Bildern? Ist mein Kind dann nicht geeignet für die Image-Kampagnen der Down-Syndrom-Vereine? Klar will man mit hübschen Fotos das veraltete Bild vom Down Syndrom überwinden. Aber wenn mein Kind mit Down Syndrom eine starke Muskelschwäche hat und einen schlechten Mundschluss ist es doch trotzdem ein auf seine Art einzigartiger wunderbarer Mensch, den es sich zu zeigen lohnt. Dieser Drang, fast täglich viele Fotos des Kindes zu machen, um dann am Monatsende fünf Bilder zu haben, auf denen es ‚glänzt‘ wie ein kleines Modell und, auf dem man das Down Syndrom nicht sieht. Schrecklich.

In ähnlicher Weise hat sich mein Blick auf Intelligenz verändert. Ich weiß noch, dass ich mich nach der Geburt viel mit geistiger Behinderung beschäftigt habe. Es interessierte mich wahnsinnig (auch unabhängig von unserem Sohn), was das eigentlich bedeutet? Wie lernen Menschen mit Down Syndrom überhaupt? Ich dachte früher immer, dass sie einfach langsamer lernen und verstehen. Aber so einfach ist das ja nicht. Und wie sie nun am besten lernen können, das weiß noch immer keiner so genau. Insofern finde ich es sehr spannend, so einen Kandidaten und sein Lernverhalten hautnah miterleben und beobachten zu können. Jedenfalls war nach der Geburt ja klar, dass wir so aufmerksame Eltern sein werden, dass der Junge einmal trotz Down Syndrom die Hochschule erfolgreich absolvieren wird. Gibt ja genug Vorbilder dafür. Sechs Monate nach der Geburt sagte ich dann plötzlich mal in einem schwachen Moment weinend zu meiner Schwester: „Ist ja auch vollkommen egal, ob er das Abitur schafft oder nicht.“ Zwei Jahre nach seiner Geburt dachte ich dann, dass es schön wäre, wenn er einen Hauptschulabschluss bekäme, damit es nicht zu schwer wird, eine Arbeit zu finden. Und erst jetzt (er wird im März 3) sind mir all diese „Ziele“ nicht mehr wichtig. Erst jetzt wird mir auch klar, wie absurd diese schon bei der Geburt eines Kindes vollkommen unbewusst geplanten Bildungswege sind und wie tief sie bei uns drin sitzen. Furchtbar.

Und wenn ich überall immer erzähle, dass es für mich zwei Tabus für unseren Sohn gibt: Förderschule und Werkstatt, dann liegt das nicht daran, dass ich für ihn einen Plan habe, den ich durchziehen will. Nein. Im Gegenteil. Er soll sein Ding machen. Er soll sich wohl fühlen. Irgendwann werde ich da sowieso keinen Einfluss mehr drauf haben.
Eine Förderschule kommt nicht in Frage, weil hier eine Gruppe von Menschen aus dem allgemeinen Schulsystem ausgesondert wird. Diese Ungerechtigkeit und in meinem Verständnis auch dieser Verstoß gegen die Menschenrechte wiegt für mich schwerer als jede paradiesisch ausgestattete Schutz- und Fördermöglichkeit. Bei diesem System möchte ich nicht mitmachen.
Bei der Werkstatt ist es ähnlich. Die Mitarbeiter bekommen dort ein lächerliches Trinkgeld und arbeiten oft 40 Stunden die Woche. Es gibt auch Menschen in Deutschland, für die der Mindestlohn nicht gilt. Auch diese Strukturen will ich nicht unterstützen. Aber wenn er eines Tages kommen und mir signalisieren sollte, dass er dort und nirgendwo anders sein möchte, dann wäre ich ein bisschen traurig. Aber gut, dann ist es eben so. Arbeit ist ja nur das halbe Leben. Dann muss ich vielleicht in die Politik und für seinen gerechten Lohn kämpfen. Vielleicht macht das ja auch schon mal einer vor mir?

Sonderschule oder Regelschule? – Gedanken zum Elternwahlrecht

Wir Eltern haben das Recht zu wählen, ob unser Kind mit Behinderung an eine Sonderschule oder an eine Regelschule gehen darf. Momentan hat man zwar deutschlandweit das theoretische Wahlrecht aber leider keine wirkliche Wahlfreiheit, denn die meisten Regelschulen nehmen nicht alle Kinder auf, schon gar keine Kinder mit speziellen Behinderungen wie Gehörlosigkeit, Blindheit, Autismus oder eben auch Schüler mit Down Syndrom. Die wenigen Regelschulen, die bereits solche Schüler aufnehmen, können noch lange nicht bieten, was die meisten Sonderschulen bieten können: kleine Klassen, super Personalschlüssel, fantastische Ausstattung, Ruhe- und Therapieräume, und und und.

Viele Hamburger Eltern von Kindern mit Down Syndrom sind deshalb ganz klar für die Erhaltung der Sonderschulen bis zu dem Zeitpunkt, an dem „das Bildungssystem in Hamburg tatsächlich und nicht nur auf dem Papier inklusiv ist“. Eine ganze Menge Hamburger Schüler mit DS, die einst in Integrationsklassen an Regelschulen lernten, sind in den letzten Jahren auf Sonderschulen gewechselt. Die Eltern sind enttäuscht, viele nach langem Kampf resigniert.

In der aktuellen Zeitschrift „Leben mit Down Syndrom“ finden wir auf Seite 25 einen stark inklusions-kritischen Artikel von Michael Brüstle, der selbst Vater eines 27-jährigen Jungen mit DS ist. Er schreibt z.B., dass man bei der ganzen „Inklusionseuphorie“ die Würde des Menschen mit Behinderung nicht vergessen sollte. Positive Beispiele nennt er Einzelfälle, die bei Eltern und der Gesellschaft falsche Erwartungen schüren würden. Und schließlich solle man laut Brüstle doch jedem Kind ersparen, immer das Schlusslicht in der Klasse zu sein.

Ich möchte die Argumente vieler Eltern gegen inklusive Beschulung nicht wiederholen. Gibt ja auch genug Zeitungsartikel, die die Inklusion bereits für gescheitert erklären. Stattdessen verweise ich an dieser Stelle nur auf Inklusionsfakten, die gute Gegendarstellungen und Erklärungen dazu bieten.

Da wären wir also beim heißen Thema Elternwahlrecht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte, formulierte 2011: „Das Recht auf Inklusion ist ein Recht der Person mit Behinderung. Die Eltern haben bei der Ausübung der elterlichen Sorge den Leitgedanken der Inklusion zu beachten und ggf. zu erklären, warum sie keine inklusiven Bildungsangebote wahrnehmen. Die Elternberatung, von welcher Seite auch immer, muss einbeziehen, Eltern das Recht auf inklusive Bildung vorzustellen und die Eltern hinsichtlich ihrer Gewährsfunktion aufzuklären“.

Das Elternwahlrecht ist demnach gebunden an das menschenrechtlich verbriefte Inklusionsrecht des Kindes! Die derzeit weit verbreitete Ansicht, dass es Sonderschulen wegen des Elternwahlrechts geben muss, ist unlogisch. Die richtige Reihenfolge wäre: Weil es Sonderschulen gibt, kann oder sollte es auch ein Elternwahlrecht geben. In der weit über einhundertjährigen Geschichte der Sonderschulen gab es kein Elternwahlrecht, sondern eine gesetzliche Sonderschulpflicht. „Sonderschulbedürftige“ Kinder mussten verpflichtend ohne Wenn und Aber eine Sonderschule besuchen. Schüler mit Behinderungen und ihre Eltern wurden per amtlichen Bescheid in die Sonderschulen gezwungen. Es ist schon komisch, dass ausgerechnet diejenigen, die über einhundert Jahre gegen eine Sonderschulpflicht eingetreten sind, sich nun, in Zeiten der Inklusion, für ein Elternwahlrecht auf die Beschulung in einer Sonderschule einsetzen. Erinnern möchte ich auch daran, dass es vor gar nicht allzu langer Zeit noch „besorgte Eltern“ (diese Bezeichnung ist zwar schon besetzt, aber passt einfach auch zu gut) gab, die für ihr Recht kämpften, ihre behinderten Töchter sterilisieren zu lassen. Zum Glück wurde Eltern mittlerweile dieses Recht genommen.

Elternentscheidungen lassen sich ganz gut steuern. Die Kultusministerkonferenz hat die Vorzüge des Elternwahlrechts ja schon lang entdeckt. Zum Zwecke des Elterwahlrechts muss nun zwingend das Förderschulsystem aufrecht erhalten werden, heißt es. Steuern lässt sich der Elternwille auch über die ungleichwertige Ausstattung in den Förderschulen und allgemeinen Schulen. Deshalb gibt es genügend Eltern, die zwar die gemeinsame Unterrichtung in der allgemeinen Schule wollen, aber dann doch die Förderschule wählen müssen, weil die Bedingungen einer umfassenden Versorgung für Kinder mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen dort besser sind. Statt den Konflikt von Eltern wahrzunehmen und Qualitätsverbesserungen in der Ausstattung der allgemeinen Schulen vorzunehmen, wird die geringere Nachfrage nach gemeinsamer Unterrichtung bei Eltern von Kindern mit schwerwiegenderen Beeinträchtigungen als Ausdruck des originären Elternwillens interpretiert. Und schließlich wird der Elternwille stark beeinflusst von beratenden Sonderpädagogen und Therapeuten, die oft ihre guten Arbeitsbedingungen an den Sonderschulen bedroht sehen und häufig einen defizit-orientierten Blick auf ein Kind haben, das in ihren Augen nur durch viele Therapien und Schutzräume weniger behindert wird und weniger selbst behindert.

Da haben wir also den Hund, der sich in den Schwanz beißt: Eltern wählen Sonderschulen, weil Regelschulen nicht ausreichend vorbereitet sind und so existieren Sonderschulen ganz einfach so weiter wie bisher. Weniger Schüler haben die Sonderschulen bisher jedenfalls nicht.

Ganz sicher muss man Regelschulen fit für Inklusion machen. Da besteht kein Zweifel. Die schulische Seite soll hier jetzt aber nicht besprochen werden. Es geht mir um die Eltern. Ich behaupte, es braucht unbedingt viel mehr mutige Eltern, die die inklusive Beschulung wagen! Kein Lehrer und keine Schule kann von heut auf morgen inklusive Lern- und Schulstrukturen bieten. Diese müssen wachsen, und zwar mit Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen. Ich kann verstehen, wenn niemand aus seinem Kind ein Versuchskaninchen machen möchte. Aber wenn eine Schule und ein Klassenteam bereit sind, sich auf diese neuen Bedingungen einzulassen, das Kind willkommen heißen und wohlwollend sind, dann kann man ihnen auch eine Chance geben und Zeit lassen. Was hat man zu verlieren? Meines Erachtens sehr viel weniger als man zu gewinnen hat. Es wird immer Dinge geben, die nicht funktionieren. Es wird immer Zeiten geben, die nicht gut laufen. Neuerdings treffe ich jedoch immer wieder auf Lehrer und Schulen, die Lust auf Inklusion haben.

LUST AUF INKLUSION – das finde ich toll.

Wir Eltern brauchen nicht nur mehr Mut, wir brauchen auch ganz viel Vertrauen. In unsere Kinder und in die Pädagogen. Immer wieder höre ich Mütter klagen, dass die „Rucksack-Ressource“ ihres Kindes mit Down Syndrom nicht bei diesem Kind ankommt, sondern damit andere Schüler unterstützt werden. Gleichzeitig erzählen mir Förderkoordinatoren, dass die Kinder, die die meiste Unterstützung bräuchten (Kinder mit psychischen Schwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten) fast keine „Ressourcen“ bekommen. Diese Kinder haben auch keine Lobby, weil ihre Eltern häufig nicht in der Lage sind, sich für ihren Nachwuchs auf verschiedenen Ebenen einzusetzen. Selbstverständlich werden vorhandene Ressourcen so genutzt, dass der Lernprozess in der Gruppe gelingt und möglichst wenig gestört wird. Solange, bis jedes einzelne Kind (unabhängig von individuellen Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten und Behinderungen) die Förderung und Ressource erhält, die es tatsächlich benötigt, sollten wir bereit sein, zu teilen.

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der kein einziges Kind auf der Strecke bleibt, in der kein einziges Kind auf einer Sonderschule beschult werden muss und, in der weder Bildungsinstitutionen noch Eltern oder Verbände aus Eigennutz inklusive Strukturen bremsen. Wir haben nicht nur die Verantwortung für uns selbst und unsere eigenen Kinder. Wir haben eine Verantwortung für die gesamte Gesellschaft, in der wir leben möchten.

Vom Umgang mit Krankheit

Unser Verein möchte im März in der Zentralbibliothek eine Foto-Ausstellung organisieren, die Kinder mit Trisomie 21 zeigt. Grundsätzlich habe ich ein komisches Gefühl dabei, denn ’normale‘ Kinder würde man ja dort auch nicht ausstellen. Da ich aber davon überzeugt bin, dass Menschen mit Down Syndrom aufgrund ihres Aussehens häufig stigmatisiert oder verurteilt werden, kann man eben ganz gut mit Bildern gegen diese Vorurteile vorgehen. Nun wurde der Titel „Hauptsache gesund“ für die Ausstellung vorgeschlagen. Ich war gleich dagegen, denn zum einen gibt es viele Behinderungen, die durch Krankheiten verursacht werden (wie z.B. die Glasknochenkrankheit) und man trotzdem mit ihnen gut leben kann. Zum anderen können auch Menschen mit dem Down Syndrom oft Krankheiten lebenslang ganz gut in den Griff bekommen. Auch wenn es überall nach der Geburt immer heißt „Hauptsache gesund“, muss das für mich keine Bedingung für ein lebenswertes und gutes Leben sein. Viele ‚gesunde‘ Menschen haben wenig Lebensfreude.
Leider konnte ich mich bei der Diskussion um den Ausstellungs-Titel nicht durchsetzen.

Vor drei Wochen ist Lili krank geworden. Sie hatte eine Streptokokken-Infektion, die mit Antibiotika behandelt werden musste. Zwei Tage nach der Antibiotika-Kur ging es ihr wieder schlecht. Ich wartete noch ein paar Tage in der Hoffnung, es würde sich mit der Zeit von allein bessern. Am 4. Tag ging ich doch wieder zum Kinderarzt, der mir mitteilte, die Streptokokken seien immer noch im Körper. Zudem kam jetzt noch eine rechtsseitige Lungenentzündung hinzu. Uns blieb nichts anderes übrig als noch ein, dieses Mal ein breiter wirkendes, Antibiotikum einzunehmen. Sehr ärgerlich. Sie tat mir sehr leid.
Als ich das einer befreundeten Mutter im Kindergarten erzählte, war sie über meine Entspanntheit geschockt. Sie konnte nicht fassen, dass das Kind nicht im Krankenhaus ist. Ähnliche Begegnungen hatte ich schon häufiger, wenn unsere Kinder krank waren. Vermutlich habe ich durch den Umgang meiner Mutter mit uns als kranke Kinder ein sehr undramatisches Verhältnis zu Krankheiten entwickelt. Wenn wir mit blutenden Knien nach Hause kamen, hat unsere Mutter einfach ganz ruhig die Wunde etwas gesäubert, ein Pflaster rauf geklebt und gemeint, dass das nicht schlimm sei. Wenn ein Kind den ganzen Tag nur schlapp da liegt, tagelang nichts isst, lange hoch fiebert oder sowas, dann werde auch ich panisch. Aber das ist bei Kindern ja extrem selten. Zumindest bei unseren habe ich das kaum (noch nie?) erlebt. Zum Glück. Meist rennen sie ja noch bis zum Umfallen durch die Gegend.

Ich muss dazu sagen, dass viele Muttis im Kindergarten russisch-stämmig sind. Als wir noch in Russland wohnten, wurden uns bei jedem Husten der Kinder mindestens fünf Medikamente verschrieben (zwei verschiedene Nasentropen, Ohrentropfen, Halsspray, Antibiotika, Fieberzäpfchen, Vitaminpräparate, usw.). Der Umgang mit Krankheiten ist also definitiv auch kulturell sehr unterschiedlich. In Russland haben wir fast nie die verschriebenen Medikamente genommen, definitiv nicht die Antibiotika) und wurden deshalb von der Kinderärztin regelmäßig als verantwortungslos beschimpft. Einmal ging sie sogar so weit, das Wohl unserer Kinder in Gefahr zu sehen. Hätte das Folgen gehabt, wenn wir nicht den Ausländer-Bonus gehabt hätten? Daran möchte ich gar nicht denken. Viele russisch-stämmige Muttis im Kindergarten beschweren sich über die deutschen Kinderärzte. Sie wären sehr inkompetent, man bräuchte gar nicht erst hingehen, denn sie sagen sowieso nur, dass man abwarten und viel trinken solle. Ich vermute, dass mich auch noch dieses enorme Dramatisieren eines jeden Hustens in Russland in meinem heutigen Umgang mit Krankheit geprägt hat. Ich möchte diesen Umgang auf keinen Fall verurteilen, er ist durch Lebensbedingungen, medizinische Versorgung und viele andere Faktoren geprägt. Er ist einfach anders.

Das Down Syndrom an sich wird ja auch häufig als Krankheit bezeichnet. Nach der Geburt hatte ich damit Probleme, wenn Freunde von unserem ‚kranken‘ Kind sprachen. Meist habe ich sie dann darauf aufmerksam gemacht. Dies führte natürlich immer zu Verunsicherung, die für denjenigen und für mich unangenehm war. Jetzt sage ich bei dieser Bemerkung nichts mehr, um ein ungezwungenes Gespräch über unseren Sohn zu ermöglichen.

Er hatte zum Glück noch nie etwas wirklich Ernstes gehabt, nie mussten wir für längere Zeit ins Krankenhaus. Deshalb fühle ich mich bisher auch ärztlich gut betreut. Der Umgang mit Behinderung oder Krankheit auf institutioneller Ebene ist nochmal etwas anderes. Die Unzufriedenheit von Eltern, die bei ernsteren Geschichten ihres Nachwuchses nicht gut beraten werden, kann ich mir sehr gut vorstellen. Viele Ärzte kennen die gesundheitlichen Herausforderungen, mit denen Menschen mit DS häufig zu tun haben, nicht. Auf die psychische Belastung von jungen Eltern, weil sie nach der Geburt ihres behinderten Kindes manchmal monatelang im Krankenhaus bleiben müssen, reagieren einige Ärzte sehr unsensibel. Mareice hat auf ihrem Blog letzte Woche Inklusionsfamilien dazu eingeladen, zu beschreiben, wie sie im Krankenhaus behandelt werden wollen? Was wünschen sie sich? Welche Erfahrungen haben sie? Sehr lesenswert.

Wider die Therapiesucht!

Nach der Geburt unseres Sohnes mit Down Syndrom sagten einige Bekannte, dass diese Kinder sich heutzutage mit den ganzen (Früh-)Fördermöglichkeiten doch recht gut entwickeln könnten. Ich war geschockt. Zum einen über die Entindividualisierung unseres Kindes (es war für sie kein einzigartiges Baby, sondern ein Down-Syndrom-Kind), zum anderen darüber, dass man mir statt Glückwünsche zur Geburt gleich mal den Tipp gibt, das unperfekte Kind bestmöglicht zu therapieren. Ein Verwandter meinte bei einem Familientreffen sogar ganz besonders eindringlich betonen zu müssen, dass wir uns unbedingt um gute Fördermöglichkeiten kümmern sollten. Damit täten wir uns und unserem Sohn einen riesigen Gefallen, das sei das A und O.

Ich reagierte immer recht wütend auf diese Aussagen. Schon bei unserer Tochter hatte mich genervt, wenn Freundinnen erzählten, dass sie mit ihrem Nachwuchs zur musikalischen Früherziehung oder zum Englisch für Neugeborene gingen. So etwas kam für uns nie in Frage. Und nun sollte ich mich bloß wegen eines zusätzlichen Chromosoms mit diesem ganzen Förderzeug beschäftigen? Das ärgerte mich, denn darauf hatte ich eigentlich keine Lust. Zum Glück ist unser Sohn in Russland geboren und wir sind erst nach Deutschland zurück gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. In Russland beschränkte sich die ärztlich empfohlene Frühförderung auf regelmäßige Massagen. Das war gut, damit konnten wir leben.

Als wir nach Hamburg kamen, schlugen die Therapeuten der Frühförderstelle die Hände über den Kopf zusammen. Anderhalb Jahre keine Frühförderung? Sie waren gespannt, wie das Kind sich da entwickeln konnte. Immer wieder sagten sie, dass die gesamte Entwicklung eines behinderten Kindes von den Eltern abhängig ist. In Russland geboren und keine Frühförderung – da sei ja alles klar.

Da ich neugieirig war, was eigentlich Heilpädagogen mit DS-Kindern machen (das DS kann ja schließlich nicht geheilt werden), war ich einverstanden, dass die Therapeutin abwechselnd zu uns und in die Kita geht. Und da DS-Kinder automatisch Physiotherapie verschrieben bekommen und ich weiß, dass Anatol gerne turnt, habe ich auch das beantragt, obwohl er motorisch sehr fit ist. Nach mittlerweile einem Jahr Heil- und Physiotherapie im Kindergarten würde ich frech behaupten, dass diese beiden Therapien für unseren Sohn nicht notwendig gewesen wären. Die Heilpädagogin hat den Kita-Erzieherinnen und mir ein paar nützliche Tipps gegeben, das wars dann eigentlich auch. Ich will keinesfalls eine Förderung über Therapien in Frage stellen. Ich sage nur, dass es für unseren Sohn vermutlich keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er diese 12 Monate nicht einmal die Woche daran teilgenommen hätte. Und ich bin davon überzeugt, dass seine Physiotherapeutin und seine Heilpädagogin das ebenso einschätzen.

Michael Wunder und Udo Sierck schrieben schon 1981 in ihrem Buch „Sie nennen es Fürsorge“: Hinter der Therapeutisierung, hinter dem krankhaft gesteigerten Bedürfnis, den gesamten Alltag eines behindertes Menschen zu therapieren, steht Hilflosigkeit, Distanzsuche und vor allem auch, die so vorgefundenen Strukturen nicht grundsätzlich anzutasten. […] Behinderung wird hier gleich gesetzt mit Krankheit. […] Therapeutisches Denken ist verwandt mit der Nicht-Anerkennung des Anders-Seins. Dieses Denken kommt aus der Medizin. Sie zerlegt den Menschen in seine Funktionen und be- und verurteilt ihn nach statistischen Standardnormen.

Was ist gegen dieses sich mit Allmacht durchsetzende Therapiedenken zu setzen, ohne in das fatale Fahrwasser zu geraten, notwendige Therapien, Hilfe und Förderung zu verweigern?
Wunder und Sierck forderten ein radikales Umdenken der Gesundheitsarbeiter. Das vorschnelle Überstülpen von angelerntem Therapiewissen auf die Realität (nach dem Motto: „Typisch für DS-Kinder ist X, deshalb machen wir Y schonmal vorbeugend.“) sei vollkommen unnötig. Therapie ist lediglich eine Dienstleistung, die individuell und knapp verordnet sinnvoll sein kann, aber nicht das Leben beherrschen oder gar ersetzen sollte.

Immer wieder hört man „Schaden kann Therapie jedenfalls nicht!“ Das sehe ich anders. Viele Therapeuten beteiligen sich selbst an Aussonderung und Ausgrenzung, indem sie Eltern mit Heilsversprechen durch noch mehr Förderung verunsichern. Frühförderung und Sonderkindergärten können aber der Anfang einer lebenslangen Sonderbehandlung sein.

In erster Linie brauchen Kinder Liebe und Normalität. Egal, ob sie das Down Syndrom haben oder nicht. Vielleicht wäre unser Sohn mit früherer Physiotherapie ein oder zwei Monate früher gelaufen. Vielleicht auch nicht. Macht das einen Unterschied? Vielleicht könnte unser Sohn durch gezielteres Gebärdenlernen im Schwimmbad zeigen, wenn er einen Joghurt essen oder auf Elefanten reiten will. Vielleicht auch nicht. Eine Therapierung hin zu den ungeahnten Möglichkeiten des Konjunktivs ist für uns jedoch kein vielversprechendes Lebensziel.

Wir finden ihn toll, so wie er ist.

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Warum schulische Inklusion keine Gleichmacherei oder „Sozialromantik“ ist

Die drei häufigsten Argumente gegen schulische Inklusion sind meines Erachtens folgende:
1. Inklusion ist Gleichmacherei.
2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.

Zu 1. Inklusion ist Gleichmacherei.
Inklusiver Unterricht und inklusive Pädagogik ist das genaue Gegenteil von Gleichmacherei. Binnendifferenzierter Unterricht berücksichtigt gerade die Heterogenität der SchülerInnen. Hierfür gibt es ganz unterschiedliche Methoden, z.B. das Arbeiten mit Wochenplänen. In Lerngruppen müssen SchülerInnen beispielsweise ein Thema erarbeiten, das sie gemeinsam zu einem bestimmten Lernziel führt. Binnendifferenzierende Maßnahmen beziehen sich dabei auf die Zugänge zum Lerninhalt, auf die Qualität oder die Quantität der Lernaufgaben und -ziele oder auch auf die Medien. Das bedeutet, dass inklusiver Unterricht ALLEN SchülerInnen zu Gute kommt, sowohl sehr starken als auch sehr schwachen. Hochbegabte Kinder haben z.b. in der Quantität oder Qualität entsprechend andere Aufgaben als sie in herkömmlichen Unterrichtssettings hätten, um das gemeinsame Lernziel zu erreichen und profitieren gerade deshalb auch von dieser Unterrichtsform. Immer wieder hört man von bereits inklusiv arbeitenden Klassen, dass mehr SchülerInnen diese mit einer gymnasialen Empfehlung verlassen als die Regelklassen. Ein weit verbreiteteter Irrglaube ist, dass Kinder mit einer Behinderung automatisch immer die langsamsten, schlechtesten und verhaltensauffälligsten Kinder sind. Fakt ist jedoch, dass sehr viele dieser Kinder auf einer Förderschule völlig unterfordert sind.

Zu 2. Inklusion ist Sozialromantik und Illusion.
Viele Menschen sind der Meinung, dass Inklusionsbefürworter eine rosarote Brille aufhaben und mit verklärtem Blick eine soziale Utopie herbeisehnen.
Behinderung ist jedoch kein individuelles Problem. Viele Menschen mit Behinderung sind davon überzeugt, dass sie erst durch die Gesellschaft und durch Barrieren wie z.B. Treppenstufen, schwere Sprache, Ungleichbehandlung und Vorurteile behindert werden. Wird Inklusion als „Sozialromantik“ abgetan, werden Diskriminierungen als akzeptierte Normalität wahrgenommen. Es entsteht die Botschaft, dass ausgrenzendes Verhalten, egal ob von Menschen oder Institutionen ausgehend, in Ordnung ist.
Schulische Inklusion ist auch keine Illusion mehr, denn es gibt mittlerweile zahlreiche Beispiele dafür, dass gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern erfolgreich gelingen kann. Eine Illusion ist stattdessen das Warten vieler Schulen/PädagogInnen auf DIE optimalen Bedingungen bevor man sich überhaupt an Kinder mit Behinderungen „heranwagt“. Natürlich sind unbedingt genügend räumliche, sächliche und personelle Ressourcen notwendig. Wichtig sind aber vor allem Fort- und Weiterbildungen. LehrerInnen müssen Formen der inneren Differenzierung, inklusive Didaktik und individualisierte Lernformen kennen. Denn ohne dieses Wissen nutzen auch kleinere Klassen nichts. Das Fundament inklusiven Unterrichtens bildet jedoch die Haltung. Inklusive Lern- und Lehrprozesse müssen reflektiert werden. Wer mit jungen Menschen arbeitet, bringt immer auch seine eigenen Prägungen, Positionen und Vorstellungen mit ein. Eine demokratische Grundhaltung sowie die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt ist für die Umsetzung eines erfolgreichen gemeinsamen Unterrichtes elementar.

Zu 3. Nichtbehinderte Kinder werden durch das gemeinsame Lernen benachteiligt.
Wie in Punkt 1. bereits erwähnt, kommt inklusiver Unterricht auch hochbegabten Kindern zu Gute. Die Lehrergewerkschaft GEW stellte schon 2006 fest: Ein Glaubenssatz deutscher Schulpolitik ist empirisch widerlegt, dass nämlich in Klassen mit gleich leistungsstarken Schülern mehr gelernt werde als in solchen mit einer großen Leistungsstreuung.
Viele Studien belegen, dass SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten in inklusiven Klassen vor allem ihre fachlichen Kompetenzen ausbauen, während leistungsstarke SchülerInnen vor allem im Bereich der sozialen Kompetenzen profitieren. Im Sinne eines demokratischen Bildungsverständnisses mit dem Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe Aller sind diese Ergebnisse als positiv zu bewerten. (weitere Infos dazu siehe: Inklusionsfakten)

Gott liebt dich, auch wenn du ein bisschen doof bist

Bei vielen Veranstaltungen für Kinder mit dem Down Syndrom, die ich im letzten Jahr besucht habe, wird gesungen. Das ist super, auch weil Anatol sehr stark auf Musik reagiert. Zum Glück versteht er noch nicht die Texte.

Denn besonders häufig werden Lieder gesungen, die sowas wie eine Diversität loben. Ich kenne die Lieder nicht, aber inhaltlich geht es meist darum, dass man super ist, egal ob dick oder dünn, weiß oder schwarz, oder, dass Gott einen liebt, egal ob man groß oder klein ist… Es fällt mir bei diesen Lieder immer sehr schwer nicht zu heulen. Dies liegt nicht daran, dass ich sie so rührend finde, sondern daran, dass ich sie wie eine extreme Form von Diskriminierung wahrnehme, die mich immer wieder sehr traurig macht, weil sie in einem so scheinbar harmonischen und/oder religiösen Schleier daher kommt.
Ich hatte schon einmal einen Blogeintrag zu einem Video geschrieben, in dem ein Hund mit einem Jungen mit DS spielt, melancholische Musik sie begleitet und zum Schluss der Satz eingeblendet wird „God doesn’t make mistakes.“ Bei diesen Liedern geht es mir ähnlich wie bei dem Video.
Vermutlich sind viele beim Thema menschliche Vielfalt doch noch im 19. Jahrhundert hängen geblieben.

Was eigentlich längst überwunden sein könnte: im 19. Jahrhundert wurde Behinderung noch als Strafe Gottes aufgefasst, als Glaubensprüfung, als den Kindern auferlegte Strafe für die Sünde der Väter. Luther deutete schon in der „Historia von einem Wechselkinde zu Dessau“ Behinderung als Werk des Teufels. Über Jahrhunderte hinweg wurden Kinder vielfach getötet, wenn sie mit einer Behinderung zur Welt kamen. Ihnen wurde die Gottebenbildlichkeit und damit die menschliche Würde abgesprochen. Im Sinne einer theologischen Ästhetik nahm der pietistische Theologe J.K. Lavater an, die Schönheit eines Menschen verweise auf die Nähe zu Gott. Körperlicher Mangel wurde von ihm als Gottferne gedeutet.

Gegen solchen Aberglauben wendete sich die Aufklärung. Der „Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ wird jedoch nicht Menschen mit Lernschwierigkeiten oder geistigen Behinderungen und psychischen Störungen zugetraut. Hier versagt (noch) der aufklärerische Autonomiebegriff. Einen besonderen Akzent setzte nun die verbreitete Vorstellung, im leidenden Menschen begegne uns Christus. Folgerichtig entstand besonders im kirchlichen Kontext der Drang, Menschen mit Behinderung zu helfen. Es wurden erste Institutionen gegründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrten sich die diakonischen Anstrengungen. Im Gefolge der Rettungshausbewegung und der Gründung von Hospitälern durch Th. Fliedner u.a. erhielt das christliche Hilfehandeln mit dem Stichwort „Innere Mission“ einen konzeptionellen Rahmen. J.H. Wichern stellte sich dann ein am Leib-Christi-Motiv orientiertes Organismus-Modell vor, in dem die verfasste Kirche und die freien Vereine einander ergänzen. Aus diesem Impuls heraus wurde die diakonische Arbeit professionalisiert und ausdifferenziert. Die Anstalt, in der man sich spezialisiert um die besonderen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen und psychischen Problemen kümmern konnte, wurde zum wegweisenden Modell. Anstalten wollten eine Gegenwelt zur Industriegesellschaft sein, eine „Stadt der Barmherzigkeit“. Mit der Herausnahme aus den „normalen“ sozialen Bezügen sollte alles Störende ferngehalten werden und ein Schonraum entstehen, in dem die Bewohner und Bewohnerinnen sich positiv entwickeln konnten. In den Anstalten wurden pädagogische Anstrengungen, Arbeits- und Wohnmöglichkeiten miteinander verbunden. Dadurch wuchsen die Einrichtungen und konnten nun auch besser nach Grad und Art der Behinderung differenzieren. Die Anstalt war im 19. Jahrhundert ein fortschrittliches Modell, das die Behindertenhilfe in ganz Europa nachhaltig prägte. Allerdings wurde es mit einer Reihe von Nachteilen erkauft. Die Ausdifferenzierung erfolgte entlang der Kategorien „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“. Dadurch setzte sich zunehmend eine Defizitorientierung durch, die nicht mehr der Gottebenbildlichkeit aller Menschen Rechnung trug, sondern dem Kriterium der gesellschaftlichen Brauchbarkeit immer höhere Bedeutung zumaß. Außerdem wanderte die Diakonie institutionell aus der Gemeinde aus und wurde zur Aufgabe von Spezialisten. Die Entwicklung einer Sonderwelt für Menschen mit Behinderung war die Folge.

In den kommenden Jahrzehnten, die durch die beiden Weltkriege geprägt waren, wurden die in den Anstalten lebenden Menschen zunehmend als „Ballast“ angesehen, als minderwertige Existenzen, denen schließlich das Lebensrecht bestritten wurde. Der sozialdarwinistische Zeitgeist forderte, die Erbsubstanz des deutschen Volkes durch eugenische Maßnahmen zu stärken. Trauriger Höhepunkt dieser Entwicklung war die „Euthanasie“ im deutschen Nationalsozialismus. Auf der Grundlage des Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden Zwangssterilisierungen angeordnet und nach Kriegsbeginn durch Führerermächtigung 260.000 Patienten aus den deutschen Heil- und Pflegeanstalten systematisch ermordet (Euthanasieaktion T 4). Die „Liberale Theologie“ hatte gegen diese Barbarei wenig entgegenzusetzen. Offenbar reichten der Appell an die Nächstenliebe und ein christliches Ethos nicht aus. Auch viele Christen und Mitarbeitende der Diakonie ließen sich durch den Nationalsozialismus instrumentalisieren. In der Auseinandersetzung zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Bekennenden Kirche“ ging es um den grundlegenden Konflikt zwischen der nationalsozialistischen „Quasireligion“ und dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Nur sehr wenig kirchliche Persönlichkeiten protestierten öffentlich gegen die Ermordung von Kindern und Erwachsenen mit geistigen Behinderungen, einige halfen den Nationalsozialisten, viele schauten schweigend weg.

Nach 1945 nahmen die Anstalten wieder ihre Arbeit mit den traditionellen Konzepten auf. Zwangssterilisationen für Menschen mit Behinderungen wurden im Nachkriegsdeutschland abgeschafft (aber erst 2007 als grundgesetzwidrig anerkannt). Im Nürnberger Ärzteprozess (1946-47) wurden einige wenige Ärztinnen und Ärzte, hauptsächlich aus KZs, wegen des „Euthanasieprogramms“ verurteilt. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (1948) berücksichtigte behinderte Menschen dennoch nicht und erst 1990 wurden Kinder mit Behinderungen in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen miteinbezogen. In den 60er-Jahren sammelten Selbsthilfeorganisationen wie die „Aktion Sorgenkind“ (heute „Aktion Mensch“) Spenden für bessere Bildungsbedingungen.

Zehn Jahre später entstand dann nach Vorbildern aus den USA und Großbritannien die Behindertenbewegung oder „Krüppelbewegung”: Sie wies mit dem provokanten Wort „Krüppel“ auf die Stigmatisierung behinderter Menschen als Mitleidsobjekte hin und erreichte letztlich, dass 1994 das Verbot der Benachteiligung aufgrund von Behinderung im Grundgesetz verankert wurde. Wichtige Meilensteine der Entwicklung waren die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für Kinder mit besonderem Förderbedarf und die Entwicklung ambulanter Wohn- und Betreuungsformen.

Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind die Leitmotive einer vollen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nun Assistenz statt Fürsorge, Selbstbestimmung statt Mitleid, Inklusion statt Ausgliederung.
Die Defizitorientierung und die Zeit der Anstalten ist vorbei. Eine neue Perspektive setzt sich durch: Es ist vor allem die Gesellschaft, die Menschen behindert.

Das „Leiden“ zieht sich trotzdem nach wie vor wie ein roter Faden durch die Berichterstattung über behinderte Menschen in Deutschland. Zwar können Beeinträchtigungen Leid verursachen, doch das allein bestimmt nicht das Leben mit Behinderung. Durch eine Reduzierung auf die Defizite und durch die Dramatisierung des „Tragischen“ entsteht ein verzerrtes Bild, das verunsichert und Angst vor Behinderung fördert. Dennoch sind diese Erzählklischees in den Medien sehr beliebt. Neben den leidenden Behinderten wird auch gerne von den behinderten Helden geschrieben. Die amerikanische Behindertenbewegung nennt sie „Superkrüppel“: Menschen, die scheinbar alles schaffen und ihre Behinderung heldenhaft “überwinden”. Solche Geschichten sind bei den Medien beliebt, denn sie schaffen Sensation. Mit dem Alltagsleben behinderter Menschen haben sie jedoch wenig zu tun. Denn jene tun Dinge meistens nicht trotz ihrer Behinderung sondern mit ihr. Leidmedien gibt gute Tipps für Journalisten.

Zurück zu den Kinderliedern. Gott liebt alle. Punkt. Es bedarf keiner menschengemachten Kategorien. Mag sein, dass es denjenigen Eltern und Kindern, die sich als „Betroffene“ empfinden, Trost und Kraft spendet. Für diejenigen, die sich selbstverständlich als „gleich“ empfinden, ist der Inhalt dieser Lieder eine überbetonte Selbstverständlichkeit, die vollkommen unnötig ist und meines Erachtens eher eine wirkliche Gleichheit (vor Gott) abspricht. Hierzu ein kleines persönliches Beispiel: nachdem meine Mutter und meine Tante das erste Mal mit unseren Kindern im Urlaub waren, fragte mich unsere (damals vierjährige!) Tochter, ob ihr Bruder dumm sei? Ich fragte erstaunt, wie sie denn darauf kommen würde? Sie antwortete, dass Tante Nana und Oma Inge im Urlaub ständig über Anatol sagten, dass er nicht dumm sei. Das hätten sie so oft gesagt, dass seine Schwester nun annahm, er ist vielleicht wirklich dumm. Soviel zur Überbetonung.

Aber weg von Gott. Es gibt hunderte Lieder, die Vielfalt besingen und damit irgendwie das Gegenteil bewirken. Warum muss man mit Migrantenkindern Lieder singen, in denen die Kinder aller Länder „gleich“ sind? Warum muss man mit behinderten Kindern Lieder singen, in denen alle Kinder „auch wenn“ oder „trotz irgendetwas“ super sind? Kinder denken nicht in diesen Kategorien. Diese werden ihnen erst mit solchen Lieder vermittelt. Man muss ihnen keine Nächstenliebe beibringen, sie lieben jeden. Man muss ihnen keine Gleichheit anerziehen, für sie sind alle gleich.

Sprachentwicklung, Forschung und DAS Down Syndrom – Kind

Der Junge ist nun 2 Jahre 5 Monate alt. Er hat bisher ein paar Wörter ein paar Mal gesagt: Mama, Papa, Oma, hei (für heiß), nein, und Ball. Einmal gesagt heißt nicht, dass er z.B. das Wort Ball nun benutzt. Genauso wie das Wort Steffi (Name meiner Schwester) hat er Ball vor ca. 2 Monaten ein einziges Mal deutlich gesagt und danach nie wieder. Meist zeigt er, was oder wohin er will oder schüttelt den Kopf, wenn er etwas ablehnt. Bei jedem anderen Kind würde man sagen, dass manche Kinder eben erst später mit dem Sprechen beginnen. Bei Anatol sagen alle Ärzte und Therapeuten, dass Kinder mit dem Down Syndrom meist Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben und oft spät oder nie sprechen lernen. Es gibt und gab viele Studien zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS, die die Ursachen für die Sprechschwierigkeiten beschreiben und, die viele Tipps zur Optimierung des Kommunikationsverhaltens zwischen Eltern und DS-Kindern geben.

Seit einem halben Jahr empfehlen uns viele Therapeuten und andere Elternvon Kindern mit DS, dass wir mit dem Kind jetzt die Gebärdenunterstützte Kommunikation (GUK) beginnen sollen. Dabei sollen wichtige Begriffe aus seiner unmittelbaren Lebenswelt neben dem üblichen Sprechen gleichzeitig gebärdet werden. Man geht davon aus, dass DS-Kinder zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr zwar sehr viel verstehen, sich aber noch nicht sprachlich äußern können. Sich selbst verständlich zu machen ist jedoch für die gesamte Entwicklung sehr wichtig, denn laut Forschung merkt man nur so, dass man die Welt „verändern“ kann bzw. sein Umfeld beeinflussen kann und kommt nur damit aus dem eher passiven Baby-Dasein heraus.

Also hatte ich mich mit Anatol bei der deutschlandweiten Studie „KUGEL“ am Hamburger Werner Otto Instituts zur Sprachentwicklung bei Kindern mit DS angemeldet. Therapeutischer Druck, Überfürsorge von mir und „die Forschung“ drängten mich zu dieser Entscheidung. Denn eigentlich kann ich ganz gut mit Anatol „reden“. Es schadet aber nichts, kann ja nur nützen, dachte ich. Die Teilnahme an der Studie beinhaltete 5 Elternabende á zweieinhalb Stunden ohne Kind und ein Treffen mit Kind, bei denen die Eltern eine „Fortbildung“ in der Einführung der GUK bekommen und sie dann auch praktisch mit dem Kind anwenden sollen. Außerdem sollten wir dreimal zur Eingangsdiagnostik kommen. Und viele Fragebögen beantworten.

Gestern habe ich nach den zwei ersten Diagnostik-Terminen die Entscheidung getroffen: wir nehmen nicht mehr teil und beginnen jetzt nicht mit Gebärden!
Heute große Erleichterung über diese Entscheidung!!!

Warum (noch) keine Gebärden?
1. Anatol ist erst zweieinhalb Jahre alt.
2. Das Einführen von Gebärden wäre momentan „prophylaktisch“, denn es KÖNNTE ja sein, dass er erst sehr spät sprechen lernt oder gar nicht. Muss es aber nicht.
3. Anatol ist nicht DAS Down Syndrom – Kind. Das zusätzliche Chromosom ist eine Eigenschaft von ihm und bestimmt nicht unseren Alltag. Allgemein verbreitete Diagnosen, die mit DS verbunden sind, können aber müssen nicht auf ihn zutreffen. Er ist EINE PERSÖNLICHKEIT mit eigener Entwicklung und eigenem Tempo.
4. Er braucht noch ein bisschen Zeit. Bisher zeigt er weder seine Körperteile (z.B. Nase oder Ohren), noch zeigt er auf benannte Gegenstände (z.B. Autos oder Bälle in Bilderbüchern). Wir vermuten, dass er die Verbindung vom Wort zu einer Sache noch nicht herstellen kann. Er befolgt zwar manchmal einige Aufforderungen (z.B. Jacke anziehen, Zähneputzen gehen, Tisch decken, …), so dass man vermuten könnte, dass er die Aufforderung versteht. Wir gehen jedoch davon aus, dass er diese Aufforderung automatisiert hat (da sie ja täglich zum etwa gleichen Zeitpunkt geschehen) bzw. kopiert (seine Schwester geht Zähneputzen, zieht sich an, …, und er tut das Gleiche).

Warum nicht die Teilnahme an der Studie?
1. Ich möchte nicht an einer Studie zur Sprachentwicklung unseres Sohnes teilnehmen, in der wir Eltern in Fragebögen gefragt werden, ob wir seit der Geburt unseres Kindes weniger oder mehr Lust auf Sex haben.
2. Videoaufzeichnungen, in denen ich 10 Minuten mit meinem Kind spielen und kommunizieren soll ‚wie immer‘, können nur konstruiert sein.
3. Ich empfinde diese Beobachtung/Beurteilung unseres Kommunikationsverhaltens fast wie eine Invasion in unsere so intime und persönliche Mutter-Kind-Kommunikation.
4. Fragen zur sozialen Situation und den genauen Familienverhältnissen sind m.E. nicht relevant für das Studieninteresse. (siehe auch Gedanken zum deutschen Berichtswesen in der Frühförderung.)
5. Anatol muss nicht „geheilt“ werden, denn er ist nicht krank. Er muss nicht optimiert werden, denn er ist gut, so wie er ist.
6. Wir finden, unsere Familienkommunikation braucht nicht optimiert werden. Sie muss erst gar nicht optimal sein. Wir sind zufrieden, so wie sie ist.
7. Sascha hatte von Anfang an kein Interesse und keine Lust auf diese Studie. Ich habe mich nicht getraut, mich auf meine Intuition zu verlassen.

Das Kind wird sich jetzt sicherlich nicht mehr nach seinen Möglichkeiten entwickeln können, in den nächsten drei Jahren viele viele Frustrationserlebnisse haben und der Fremdbestimmung seiner Bezugspersonen wehrlos ausgeliefert sein.

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Die Verleihung der „Glitzernden Krücke“

Wenn Jan Fleischhauer (Der Spiegel) oder Gerd Held (DIE WELT) mal wieder auf journalistisch unterstem Niveau in renommierten Zeitungen gegen Inklusion wettern, sind sich viele einig, dass sie keine Ahnung von gemeinsamem Lernen haben. Wenn jedoch die befreundete Sonder-/Heilpädagogin empfiehlt, das Kind auf eine Förderschule zu schicken, meint man, die Freundin kenne sich aus und weiß, was gut für das Kind ist. Aber ist es wirklich das Beste für das Kind? Oder ist es das Beste, um das stark ausdifferenzierte und spezialisierte deutsche Förderschulsystem mit seinen zahlreichen Institutionen, LehrerInnen und PädagogInnen zu erhalten? Wer sind die eigentlichen Verhinderer von Inklusion in Deutschland?

Die Anfänge der Behindertenbewegung und die Verleihung der „Goldenen Krücke“

Im Jahr 1978 wurde zum ersten Mal die „Goldene Krücke“ verliehen. Damaliger Preistäger war der ehemalige Haftpflicht-, Unfall- und Kraftfahrtversicherer-Verband HUK für eine Werbung mit dem Slogan: „Verkrüppelt für den Rest des Lebens…ist ein schlimmer Tod!“

Ein Jahr später gab es zwei Preisträger für die „größten Nieten der Behindertenarbeit“: den bayerischen Landesbehindertenarzt Professor Dr. Albert Göb, Leiter des Spastikerzentrums in München, und Pastor Hans-Georg Schmidt, Leiter der Alsterdorfer Anstalten in Hamburg. Göbs Zöglinge in München galten als bestbewachte Behinderte der Bundesrepublik. Nach Zeugenaussagen war er der Meinung, Behinderte brauchten keine Therapie oder Schulung, weil sie nur Geld kosten und später doch nichts leisten. In seinem Haus soll es feste Toilettenzeiten (10, 12 und 15 Uhr) gegeben haben, soll einer schreienden Spastikerin der Mund mit Leukoplast verklebt worden sein. Von ihm kamen Kommentare wie „Affen kann man auch dressieren“. Für sein Engagement hatte er doch tatsächlich kurz vorher noch die bayerische Staatsmedaille für soziale Verdienste erhalten.
Mit den Alsterdorfer Anstalten und ihrem Leiter, Pastor Hans-Georg Schmidt, wurde 1979 eine weitere („gottesfürchterliche“) Einrichtung ausgezeichnet. Schmidt hatte zu verantworten, was die Alsterdorfer Heilerziehung jahrelang für Behinderte bedeutete: Stumpfsinn, stinkende Räume, Zwangsjacken, öffentliches Massenklo, wie im Haus „Carlsruh’“, Pfleglinge, an Bänke festgebunden und „ins Bett gekreuzigt, indem man die ausgestreckten Arme und Beine am oberen und unteren Bettrand festbindet“ (siehe: DIE ZEIT).

„Behindertsein ist schön“

Erdacht hatte die Verleihung der „Goldenen Krücke“ der Aktivist Gusti Steiner. 1973 rief er mit dem Publizisten Ernst Klee in Frankfurt am Main einen Volkshochschulkurs ins Leben, in dem Menschen mit Behinderungen lernen sollten, selbst ihre Lage zu verbessern. Gusti Steiners Vorbild war die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die gegen Diskriminierung und für Gleichstellung kämpfte. In Analogie zu deren selbstbewussten Slogan Black is beautiful provozierte Gusti Steiner mit dem Slogan „Behindertsein ist schön“, den er auch zum Titel eines Buches machte. Behinderung war für ihn etwas Politisches, kein Gegenstand karitativer Fürsorge. Zusammen mit Klee organisierte er provokante Aktionen: Straßenbahnen wurden blockiert, illegale Rampen gebaut und eben „Goldene Krücken“ für unmögliche Behindertenarbeit verliehen. Er war auch Herausgeber des „Behindertenkalenders“, auf dem stets das Abbild dessen zu sehen war, was Steiner auf keinen Fall sein wollte: „Unser Musterkrüppelchen – dankbar, lieb, ein bisschen doof und leicht zu verwalten.“ Immer mehr Menschen mit und ohne Behinderung solidarisierten sich mit Steiners propagiertem Paradigmawechsel in der Behindertenpolitik. In mehreren Orten in Deutschland gründeten sich „Krüppelgruppen“. Es formierte sich die bundesweite „Krüppelzeitung“ (der Vorläufer der behindertenpolitischen Zeitschrift „Die Randschau“). Gemeinsam demonstrierten sie gegen das „Frankfurter Urteil“:

Weil sie den Anblick einer Gruppe behinderter Menschen an ihrem Urlaubsort „hatte ertragen müssen“, klagte eine Frau gegen ihren Reiseveranstalter. Mit Erfolg: Das Frankfurter Landgericht sprach ihr im Februar 1980 Schadensersatz zu. Gemeinsam mit Behinderten einen Speisesaal nutzen zu müssen sei unzumutbar, heißt es in der Urteilsbegründung: „Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann.“

„Jedem Krüppel seinen Knüppel“

Gemeinsam organisierten Steiner und Klee auch andere Aktionen. 1981 hatten die Vereinten Nationen das „Jahr der Behinderten“ ausgerufen. Auch Deutschland beteiligte sich, Wohlfahrtsverbände und PolitikerInnen kündigten für das Jahr Veranstaltungen an. Die Krüppelgruppen und Behinderteninitiativen ahnten nichts Gutes: Die „Wohltäter“ würden sich auf den offiziellen Veranstaltungen selbst beweihräuchern für ihre angebliche „Integration Behinderter“, während sie weiterhin Gelder in Werkstätten, Sonderschulen und Sonderfahrdienste steckten. Statt sich an den Veranstaltungen zu beteiligen, tauften sie das „Jahr der Behinderten“ um in das „Jahr der Behinderer“ und nutzten es als Plattform für ihre Proteste. Ihr Motto: „Jedem Krüppel seinen Knüppel“. Den Abschluss zum „Jahr der Behinderer“ sollte ein großes bundesweites Treffen bilden. Beim „Krüppeltribunal“ im Dezember 1981 wurden Menschenrechtsverletzungen in der Behindertenfürsorge angeklagt. Im Saal der Dortmunder Schalomgemeinde trafen sich rund 400 behinderte und nichtbehinderte Menschen und teilten die Forderungen: Ein Stop der Aussonderung durch Heime, Werkstätten, Rehabilitationszentren und Psychiatrien, gleicher Zugang zu Gebäuden, Bussen und Bahnen und mehr Gelder für Hilfsmittel. Skandale der Pharmaindustrie sollten aufgedeckt werden. Erstmals wurde auch die Situation behinderter Frauen thematisiert: dass sie besonders von sexualisierter Gewalt betroffen sind, war bis dahin kaum bekannt. Im Saal herrschte Aufbruchstimmung. Endlich wurden Ausgrenzung und Unterdrückung als Menschenrechtsverletzungen benannt – viele TeilnehmerInnen fühlten sich erstmals ernst genommen. Die Aufbruchstimmung blieb, und die Themen des Krüppeltribunals boten das Programm für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung der folgenden Jahrzehnte. (alle Infos zur Behindertenbewegung siehe: Rebecca Maskos, mondkalb – Zeitschrift für das Organisierte Gebrechen: Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung).

Die Verleihung der „Glitzernden Krücke“ auf der Berliner Pride Parade 2014

Mit der letzten Verleihung der „Goldenen Krücke“ 1980 fand diese Tradition vorerst ein Ende. Die Veranstalter der jährlich stattfindenden Berliner „Pride Parade – Behindert und verrückt feiern“ wollen diese Idee nun wieder einführen und verleihen zukünftig zur Parade die „Glitzernde Krücke“. Zum 12. Juli 2014 starteten sie einen Aufruf im Internet, Vorschläge zu machen, welche Vereine, Unternehmen oder Institutionen einen ganz besonderen Verdienst in der Auseinandersetzung mit Behinderung leisten. Folgende Kriterien sollten für potentielle Preisträger gelten:

–> Wem ist es besonders zu verdanken, dass ruhige, rechtschaffende BürgerInnen nicht von Behinderten und Verrückten gestört werden (sei es in der Nachbarschaft, Verkehrsmitteln oder Freizeitorten)?

–> Wer hat besondere wirtschaftliche Errungenschaften durch den geschickten Einsatz behinderten Humankapitals erzielt?

–> Wo finden Behinderte, chronisch oder “psychisch Kranke” trotz ihres schweren Schicksals besondere Erwähnung? Wo werden diese Helden des Mitleids hervorgehoben? Welche Werbung war so speziell, dass ihr sie nicht mehr vergessen könnt?

Unter anderem wurden folgende Institutionen auf der facebook-Seite der PrideParadeBerlin vorgeschlagen:

Der Verband Deutscher Sonderpädagogen
Zur Begründung heißt es: Mit großer Ausdauer und Beharrlichkeit legitimiert der Verband Sonderpädagogik weiterhin die Förderschulen. Mit Hilfe der „Fachzeitschrift Heilpädagogik“ dieses Verbandes werden konsequent empirische Befunde der Inklusionsforscher zum Erfolg des Gemeinsamen Unterrichts „übersehen“ und nicht in die Fachzeitschrift mit aufgenommen.
Auch wenn aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention niemand vom VDS mehr allzu deutlich gegen den Gemeinsamen Unterricht wettert, so verschaffen sich die VertreterInnen immer wieder Gehör, indem sie sich gegen die flächendeckende inklusive Bildung aussprechen. Formulierungen wie “Inklusion, aber nicht bei…” oder “Im Einzelfall sicher sinnvoll” zeigen die langjährige Skepsis gegenüber inklusiver Bildung.

Die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V.
Begründung: In mühevoller Kleinstarbeit und mit beachtlicher Netzwerksarbeit verbreitet sie die Falschaussage, dass Kindern mit dem Förderbedarf “Sprache” am besten auf der Sprachheilschule geholfen wird. Empirische Befunde, die diese These stützen, existieren nicht. Vielmehr muss man sich fragen, wie Kinder, die alle Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben, an einer Schule für ausschließlich „Spracheingeschränkte“ voneinander sprechen lernen können. Wieso gab es von universitären Fachbereichen niemals Anstrengungen, Forschungen zu betreiben oder zuzulassen, die die Wirksamkeit bzw. Unwirksamkeit von Sprachheilschulen, untersuchten? Für diese wissenschaftliche Nachlässigkeit verdient dieser Verband die glitzernde Krücke.

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus
Begründung: Auch wenn in der Forschung kaum jemand mehr von einer homogenen Lerngruppe ausgeht, diese sogar als Illusion dargestellt wird, glaubt Josef Kraus nach wie vor daran und meint, dass Kinder mit gleichem Lernniveau besser zusammen lernen. Für diesen starken Glauben verdient er das Bundes-Separationskreuz am Bande. Auch wenn diese These wissenschaftlich nicht haltbar ist, ist der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes von ihr überzeugt: Dank ihm verstehen jetzt ganz viele Günther-Jauch-Gucker, warum ein Kind mit Down-Syndrom auf Gymnasien nichts zu suchen hat.

Die Behindertenwerkstatt Cuxhafen
Begründung: Die Werkstatt fertigte ohne Wissen der Beschäftigten, deren Angehörigen und der Geschäftsführung Leuchtminenteile für die Bundeswehr. (Siehe: SpiegelOnline)

Bei der diesjährgen Berliner PrideParade am 12. Juli 2014, bei der rund 2000 Demonstranten für die Rechte von behinderten und von Psychiatrie betroffenen Menschen tanzten, gab es folgende Gewinner:
Auf Platz 3: Das Amtsgericht Bonn: das Gericht hat eine 82jährige Frau unter Androhung von Ordnungshaft verurteilt, weil ihre behinderte Tochter die Ruhe in der idyllischen Reihenhaussiedlung stört. Das Gericht sagt, dass „trotz der erhöhten Lärmtoleranz für Behinderte“ auch „Nachbarn ein Recht auf körperliche Unversehrtheit“ hätten. (siehe: SpiegelOnline)

Der 2. Platz geht an: Den deutschen Bundestag: der Bundestag hat zwar einen Mindestlohn für angeblich alle beschlossen. Dieser gilt aber nicht für Menschen, die in einer Behindertenwerkstatt arbeiten.

Und gewonnen hat:
Die Behindertenwerkstatt Cuxhaven!
Wie schon erwähnt hat sie von sich reden gemacht, weil sie für die Bundeswehr Rüstungsteile produziert hat. Die Veranstalter der Verleihung der „Glitzernden Krücke“ finden: Das ist konsequente Rüstungspolitik. Erst die Waffen von Behinderten produzieren lassen, um mit den Waffen dann wieder neue Behinderte zu produzieren.

Und damit Gratulation!

Wer hätte in Hamburg die „Glitzernde Krücke“ verdient? Was meint ihr?

Hier ein paar Anregungen:

Vielleicht die Hamburger Kammerspiele?
Sie macht zwar gerne mit dem Thema Behinderung und dem Stück “Ziemlich beste Freunde” Umsatz, findet es aber völlig o.k. und unvermeidbar, dass Rollstuhlfahrer ihre Vorstellungen nicht besuchen können.

Vielleicht der HVV?
Es gibt auch in Hamburg noch so viele S- und U-Bahnhöfe ohne Fahrstuhl.

Oder etwa die Hamburger Schulaufsichtsbehörde?
Obwohl in der UN-Behindertenrechtskonvention der Besuch von Kindern mit Behinderung in Regelschulen bereits 2006 als Normalfall festgelegt wurde, werden Hamburger Schulen weder motiviert, dies auch umzusetzen, noch kontrolliert. So gibt es noch immer unglaublich viele Schulen in Hamburg, die von Inklusion nichts hören wollen und stattdessen versuchen, sich so lange wie möglich, geschickt vor einer Umstellung zu drücken.

Gedanken zum (deutschen) Berichtswesen in der Frühförderung

Mehrmals wurde uns „ans Herz gelegt“, uns mit dem Jungen beim Werner Otto Institut anzumelden. Hier würde er regelmäßig durchgecheckt werden. Die Ärzte und Therapeuten dort haben seit 40 Jahren mit „entwicklungsverzögerten“ und „behinderten“ Kindern zu tun. Sie kennen sich sehr gut aus mit DS. Wir fühlen uns zwar von unserem Kinderarzt, HNO-Arzt und Augenarzt recht gut betreut. Aber die kennen sich noch besser aus mit „solchen“ Kindern, hieß es immer wieder. Na gut. Termin gemacht. Ende April dagewesen. Heute einen dreiseitigen Bericht dazu erhalten (der im Original an den Kinderarzt geht, wir haben die Kopie bekommen).

Nach unserem Antrag auf interdisziplinäre Frühförderung mussten wir uns im Januar beim Psychologischen Dienst im Bezirksamt Eimsbüttel der Stadt Hamburg vorstellen. Nach unserem Antrag auf Pflegegeld kam (auch im Januar) der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Nord zu uns nach Hause. Und schließlich mussten wir zur eigentlichen Erstellung des „Förder- und Behandlungsplans“ zur Eingangsdiagnostik ins Haus Mignon.

Von all diesen Stellen haben wir „Berichte“ erhalten, in denen wir erfahren, wie die Schwangerschaft und Geburt verlief, wie unsere Familiensituation ist, wie das Kind sich auf kognitiver, sensomotorischer, sozial-emotionaler und sprachlicher Ebene entwickelt und (ganz besonders interessant) auf welchem Entwicklungsstand (verglichen mit normal-entwickelten Kindern) es sich befindet. Im Februar wurde dem 23 Monate alten Jungen z.B. von Dr. Warlitz im Haus Mignon ein Entwicklungsstand eines 14 Monate alten Jungen diagnostiziert. Im April wurde für das 25 Monate alte Würmchen von Dr. Traus im Werner Otto Institut ein Entwicklungsstand eines 19 Monate alten Kindes ermittelt.

Abgesehen davon, dass es mich nervt, immer wieder irgendwelchen Leuten von der Schwangerschaft und Geburt zu erzählen (wozu eigentlich?) und es mich noch mehr stört, dass diese Leute unsere Familiensituation einschätzen (was soll das?), befremdet mich die permanente „Skalen-Einordnung“ des Entwicklungsstandes unseres Kindes.

Die „Anamnese“ des Werner Otto Instituts beginnt beispielsweise mit „Familienanamnese: Anatol ist das zweite Kind gesunder Eltern, 4 1/2 jährige Schwester ist ebenfalls gesund.“ Warum wird das „gesund“ hier betont? Ist Anatol in ihrem Verständnis nicht gesund? Selbst, wenn einer von uns Eltern eine Behinderung haben würde, welche Rolle spielt das hier? Die Schwangerschaft wird beschrieben mit den Worten: „keine Medikamenteneinnahme, keine Diät, kein Konsum neurotoxischer Substanzen“. Warum steht nicht einfach „unauffällig“? Warum die Negation gerade dieser Punkte? Was wäre, wenn ich hätte Medikamente in der Schwangerschaft nehmen müssen? Oder Diabetes gehabt hätte? Welche Rolle spielt auch dieser Punkt für seine Entwicklung? Irgendwann kommt dann der Punkt „Soziale Situation“, unter dem geschrieben steht, dass das Kind in einem Haushalt mit beiden Eltern und der Schwester lebt, wobei der Vater arbeitet und die Mutter arbeitslos ist. Welche Bedeutung hat das für die Entwicklung unseres Sohnes? Ich fühle mich beim Lesen dieser Berichte wie ein gläserner Mensch, der eine nett konstruierte Krankengeschichte seines vollkommen gesunden Kindes nachvollziehen darf.

Wir haben aber kein krankes Kind, sondern ein Kind mit Trisomie 21. Wir haben kein entwicklungsverzögertes Kind, sondern ein Kind, das sich in seinem Tempo entwickelt. Demzufolge bedarf es auch keiner Anamnese.

Das  Beste war die Psychologin im Bezirksamt Eimsbüttel. Ich sollte zunächst ALLES seit Schwangerschaft erzählen, wie immer. Dann schrieb sie auf, was sie an dem Jungen beobachtete. Irgendwann sagte sie dann zu mir „Es wird ja behauptet, es gäbe auch einen Mann mit Down Syndrom, der studiert hat. […] Das glaube ich nicht. Ich habe noch nie einen einzigen Menschen mit Down Syndrom hier gesehen, der Lesen oder Schreiben konnte!“ Ich erzählte von vielen Menschen mit Down Syndrom, die Lesen und Schreiben können. Sie ergänzte, dass sie sich das einfach nicht vorstellen könne. Aber sie hätte ja auch nur die „schweren Fälle“ bei sich im Büro zu sitzen.

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Ein Witz

„Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: ‚Meinen Schlüssel.‘ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: ‚Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.'“ (aus: Anleitung zum Unglücklichsein, Paul Watzlawick)